„In unserer Gesellschaft spielt die soziale Herkunft eine große Rolle bei den Bildungs- und Karrierechancen“

Christina Möller und Levent Aktoprak, Foto: Michel Boße/FH Dortmund

Inspiriert von dem französischen Intellektuellen Didier Eribon, der mit seiner soziologisch unterfütterten Erfolgs-Biografie „Rückkehr nach Reims“ auch hierzulande auf sich aufmerksam machte, hat die Soziologin Christina Möller und ihre drei Herausgeber19 Lebensgeschichten von Professoren gesammelt. In diesen Tagen ist das Buch erschienen mit dem Titel: “Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft“. Erstmals äußern sich in diesem Buch Professoren unterschiedlicher Fächer über ihren langen Weg zur Professur und zum Zusammenhang von sozialer Herkunft und Wissenschaft. Es ist eine kritische Lektüre. Levent Aktoprak sprach mit der Mitherausgeberin Christina Möller, Vertretungs-Professorin an der FH Dortmund. Unser Gastautor Levent ist Aktoprak, Autor, Moderator und Hörfunkjournalist beim WDR  und Deutschlandfunk

Levent Aktoprak: Frau Möller, das Thema gehört seit Jahren zu ihrem Forschungsgebiet. Woher rührt das  wissenschaftliche Interesse, hängt es auch mit ihrer Vita zusammen?

Christina Möller: Ein persönlicher Zugang zum Thema lässt sich angesichts meiner Biografie kaum leugnen. Ich stamme aus einem nicht-akademischen Elternhaus (mein Vater war Berufsfeuerwehrmann, meine Mutter Hausfrau) und habe nach zunächst sehr mäßigem Bildungserfolg als Hauptschülerin zwei Berufsausbildungen in der Verwaltung absolviert, war zehnJahre darin berufstätig und habe erst auf dem Zweiten Bildungsweg mein Abitur nachgemacht, anschließend studiert und promoviert. Dass die soziale Herkunft eine Rolle spielt, habe ich selbst erlebt, weil ich mir diesen späten sozialen Aufstieg in die akademische Welt hart erarbeiten musste. Interessanterweise gab es aber bisher wenige Untersuchungen über die soziale Herkunft von Professoren, sodass ich 2010 meine erste Studie dazu durchgeführt habe und ich weiterhin dazu forsche.

Aktoprak: Der Titel des Buches “Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft“, ist der bewusst so plakativ gewählt?

Möller:  Wir Herausgeber hatten lange über den Titel des Buches nachgedacht. Schließlich aber haben wir uns auf diesen Titel geeinigt, weil die Bezeichnung Arbeiterkind geläufig ist und man so auf Anhieb erkennen kann, worum es sich in dem Buch dreht – auch wenn nicht alle Biographinnen darin klassische Arbeiterkinder sind.

Aktoprak: Mit 434 Seiten ist das Buch ein ganz schöner, schwerer Schinken, es besteht aus vier Abschnitten, wobei die lange Einführung schon auffällig ist.

Möller:  Ja, wir haben anstatt einer klassischen kurzen Einleitung zunächst einmal den sozialwissenschaftlichen Forschungsstand dargestellt, da wir einen kritischen Blick auf Aufstiegsbiographien einnehmen. Denn wir wollen keineswegs davon ablenken, dass einen solchen enormen Aufstieg tatsächlich nur wenige schaffen. In unserer Gesellschaft spielt die soziale Herkunft eine große Rolle bei den Bildungs- und Karrierechancen und daher haben wir zunächst gesellschaftliche Fakten über Bildungsungleichheiten und über die Seltenheit von Aufstiegen  dargelegt. Denn so erfreulich diese 19 Aufstiegsbiografien auch sind, wir wollen sie auch als solche darstellen, was sie sie sind: Einzelfälle. In meiner Befragung aus 2010 habe ich herausgefunden, dass nur rund jeder 10. Professor bzw. Professorin an den Universitäten ein Arbeiterkind  ist oder aus ähnlich statusniedrigen Familien stammt wie z.B. einfache Beamten- oder Angestelltenfamilien. Und es werden zunehmend weniger.

In dieser Einführung problematisieren wir auch die vorhandenen Barrieren und Erschwernisse von sozialen Aufstiegen aus untere in obere Gesellschaftsgruppen. Und wir möchten darauf hinweisen, dass die Unterschiede in den Bildungschancen auch mit der enormen ökonomischen Ungleichheit in Deutschland zusammenhängen, da Bildungsarmut meist auch Ausdruck von sozioökonomischer Armut ist.

Aktoprak: Auffällig an diesem soziologischen Sachbuch ist zudem, dass  Wissenschaft und Privates vermengt wird: 19 persönliche Geschichten von Professoren wissenschaftlich eingerahmt und kommentiert. Hat da der französische Intellektuelle Didier Eribon Pate gestanden?

Möller: Naja, sagen wir so: Sein autobiographischer Roman „Rückkehr nach Reims“ hat uns zumindest stark inspiriert und wir haben gemerkt, dass das Thema ‚Wissenschaftler und der Einfluss ihrer sozialen Herkunft‘ hierzulande kaum ein Thema ist. Noch viel stärker aber bin zumindest ich von dem Soziologen Pierre Bourdieu geprägt, der übrigens auch akademischer Lehrer von Eribon war. Bourdieu war ebenfalls sozialer Aufsteiger und hat bereits vor ihm interessante Studien über soziale Ungleichheiten und ihrer Reproduktion, also der Aufrechterhaltung von sozialen Ungleichheiten, gemacht. Seine Erkenntnisse bieten heute noch vielfältige Anknüpfungspunkte, auch in unserem Buch und sogar in einigen biographischen Notizen.

Frau Möller, was ist eigentlich neu an diesem Buch? Die Verknüpfung von sozialer Herkunft und sozialer Aufstieg (auch in der Wissenschaft) ist nicht neu.

Möller:  Tatsächlich gibt es nur sehr wenige biographische Reflexionen von Wissenschaftler aus unteren sozialen Klassen im deutschsprachigen Raum, daher würde ich schon sagen, dass dieses Thema viel mehr Aufmerksamkeit  bedarf. Auch kommen Besonderheiten bei den Personen mit eigener bzw. familiärer Zuwanderungsgeschichte hinzu sowie Geschlechterunterschiede, da Frauen nicht nur ihre benachteiligende Herkunft überwinden mussten, sondern auch überholte Rollenmodelle, in die sie von außen häufig gezwängt wurden.

Neu an dem Buch ist insbesondere, dass es am Ende der 19 Biographien Kommentare von zwei renommierten Ungleichheits- und Milieuforscher gibt, die sich vorab die Biographien angesehen haben und interessante Gemeinsamkeiten herausgestellt haben. Sie liefern daher gleich eine soziologische Analyse der dargestellten Biographien mit, die den Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Aufsteiger schärfen.

Dass das Geschlecht auch in der Erkenntnisproduktion eine Rolle spielt, hat die Geschlechterforschung offengelegt, denn solange Frauen nicht Teil der Personen war, die wissenschaftliche Erkenntnisse erzeugen, war der Blick auf Gesellschaft und Menschen ein eher männlich geprägter. Dass aber auch die soziale Herkunft Menschen prägt, wird meines Erachtens noch zu wenig reflektiert. Zudem ist es ein gesellschaftliches Problem, wenn sich Personengruppen wie Professoren, die ja auch als Multiplikatoren von Wissen fungieren, sich fast ausschließlich aus eher privilegierten Gesellschaftsgruppen zusammensetzen.

Aktoprak: Bei den Bildungsaufsteiger gibt es, liest man aufmerksam die Biografien, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, aber es ist dennoch keine homogene Gruppe, sagen sie.

Biographien sind immer einzigartig und doch gibt es gewisse Muster, die natürlich immer auch mit dem Zeithorizont einhergehen, in denen diese Menschen aufwachsen – also mit gesellschaftlichen Normen und Ereignissen. So sind viele während oder nach der großen Bildungsexpansion groß geworden, die zunächst Bildungsaufstiege etwas erleichtert hat, weil das gesellschaftliche Klima eher auf eine soziale Öffnung gerichtet war und sich auch Bildungsinstitutionen geöffnet haben.

Es gibt aber auch größere Unterschiede, je nachdem, in welchen wissenschaftlichen Disziplinen die Aufstiege vollzogen wurden. So scheint es in der Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern etwas einfacher zu sein als in den geisteswissenschaftlichen oder in Jura und Medizin.

Aktoprak: In dem Buch sprechen sie auch den soziokulturellen Bruch der Bildungsaufsteiger an. Stichwort Familie und soziales Umfeld. Und wie kommen die Betroffenen mit dem Spagat zwischen der alten und neuen Welt zurecht?

Möller:  Auch das ist sehr unterschiedlich. Manche haben bis heute eine gewisse Fremdheit sowohl zur Akademie als auch zu ihrem Herkunftsmilieu, einige schreiben explizit, dass sie auch heute noch manchmal das Gefühl haben, an der Universität ‚fehl am Platz‘ zu sein – und das trotz ihrer nun hohen Statusposition. Hier zeigt sich ein wirklich langfristiger Effekt der sozialen Herkunft. Da wir aber den Autoren einen großen Spielraum bei der Gestaltung ihrer biographischen Notiz gelassen haben, lesen sich die Biographien auch sehr unterschiedlich, manche ganz nüchtern analytisch, manche auch emotional. Wir haben uns teils sehr über die Offenheit gefreut, mit denen die Professoren ihre Geschichte reflektiert haben.

Aktoprak: Vom Arbeiter zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Es ist eine kritische Lektüre. Man könnte auch dazu sagen Streitschrift.  Unter anderem heißt es darin, die von der Politik immer wieder proklamierte  Chancengleichheit könne nur erreicht werden, wenn die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft deutlich reduziert würde.

Möller:  In der Tat. Es ist ja keine neue Erkenntnis und wir weisen hier auf unzählige Statistiken und Studien hin, die einen großen Zusammenhang zwischen den Bildungschancen und der sozialen Herkunft in Deutschland belegen. Das hängt auch mit der strukturellen Beschaffenheit des Bildungssystems zusammen. Wir haben ein sehr ausdifferenziertes Bildungssystem, das Kinder sehr früh auf unterschiedliche Schulformen aufteilt. Ein längeres gemeinsames Lernen hätte den Vorteil, dass stärkere Kinder schwächere unterstützen könnten. Es gibt Länder, die diese Separierung schon lange abgeschafft haben und mit Ganztags- und Einheitsschulkonzepten sowie multiprofessionellen Teams gesellschaftliche Ungleichheiten viel besser kompensieren. Dort wird das Recht auf Bildung für alle auch deutlich ernster genommen als hierzulande, wo zwar viel über Bildung geredet, aber wenig für Bildung und gleiche Bildungschancen getan wird. Das liegt auch an der relativen Unterfinanzierung des Bildungssystems und ebenso an einem fehlenden politischen Wille, an den ungleichen Bildungschancen groß etwas verändern zu wollen. Bisher zumindest wird meines Erachtens zu wenig dagegen getan.

Aktoprak: Wie sind die Reaktionen bislang auf das Buch?

Möller: Corona hat natürlich zunächst viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber langsam werden immer mehr Rezensionen veröffentlicht und wir erhalten Rückmeldungen von Leser, die dankbar sind für die Einblicke in diese ungewöhnlichen Werdegänge – auch weil viele sich ein Stück weit wiedererkennen. Unser Dank gilt vor allen den Biographinnen, die sich geöffnet haben und uns ihre Geschichte geschickt haben.

Aktoprak: Christina Möller, danke für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg.

Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft

2020 Transcript Verlag Bielefeld, 434 Seiten, Hg: Julia Reuter, Markus Gamper, Christina Möller, Frerk Blome

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Berthold Grabe
Berthold Grabe
4 Jahre zuvor

Dire soziale Herkunft bei den Bildungschancen besteht primär darin, das das Schulsystem immer weniger die Ausgangslage des Elternhauses kompensieren kann.
Wer hinschaut sieht überdeutlich, dass die besseren Chancen durch zusätzlichen aufwand der Elternhäuser, durch Zuwendung oder Geldleistungen erzielt werden. das rührt daher, das diese Bildungsleistung durch die Familie m Grunde in unserem Schulsystem vorausgesetzt wird.
Als zweiter Faktor gibt es den Seilschafteneffekt. Alle Eltern sind bestrebt, den Sozialstatus ihrer Kindern mindestens auf gleichem Niveau zu ermöglichen, egal ob sie dafür geeignet sind oder nicht.
Das heisst das die ggf. herausgehobene Stellung der Eltern immer ein Wettbewerbsvorteil beim Zugang zu besseren Stellen bedeutet und somit direkter Wettbewerb vielfältig und grundsätzlich umgangen wird. Je mehr Bewerber mit formal erfüllten Voraussetzungen es gibt für einen bestimmten Job, desto stärker dieser Effekt Ich sehe auch nur wenig Möglichkeit diesen Effekt wirklich zu verhindern. Zumal jeder rechtliche Objektivierungsversuch wirklich wichtige Softfaktoren nicht objektiv bewerten können, und daher nicht selten Fehlentscheiden im klageverfahren.
Dieser Effekt wird schon mal kompensiert, durch Mentorenschaft und organisierter Beziehungspflege, wie Stipendiatentum, engeres Verhältnis zu Lehrenden oder Studentenverbindungen.
Leider werden diese Mittel eher als unfair, denn als Chance begriffen. Meist von denen, die nie begriffen haben warum damit die Chancen besser werden und sich schon deshalb disqualifizieren.

Aufrecht
Aufrecht
4 Jahre zuvor

Korrelation und Kausalität scheinen für Sozialwissenschaftler immer noch Fremdwörter zu sein. Frauen haben schon immer, wie Männer, hervorragende Beiträge in den Natur- und anderen Wissenschaften geleistet.

Simec
Simec
4 Jahre zuvor

Als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund, aufgewachsen in de 70ger Jahren in Deutschland, habe ich so einige Ausgrenzung in der Schullaufbahn und Ausbildung erlebt. Sprüche der Lehrer wie: ein Ausländerkind kann nicht so gut sein wie ein deutsches Kind und bekommt von mir niemals eine eins.!
Das war der Tenor damals- ausländerkinder kamen nicht auf ein Gymnasium – mit derselben Begründung.
Mein Fachhochschulabschluss als dipl. Soz.päd. habe ich mit 42 gemacht.. Vorher viele andere Fortbildungen . Für meinem beruflichen Aufstieg hat das nicht ausgereicht. Meine Fachlichkeit war und ist immer wieder bei Arbeitgebern willkommen. Aber der Aufstieg in verantwortungsvoller Positionen einhergehend mit einer guten Bezahlung, wurde mir oft verwehrt. Natürlich gab es immer Gründe.. ich bin oft mit dem Eindruck aus den Gesprächen rausgegangen, sofern diese überhaupt stattfanden, die Gründe für die Entscheidungen gegen meine Beförderung oder Einstellung waren begründet in meiner Herkunft als nicht deutsche mit einem ausländisch klingenden Namen… jetzt bin ich noch ein paar Jahre von der Rente entfernt und musste erleben, wie ich zwar gerne verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen durfte, aber ohne dementsprechender Entlohnung. Ein offizielle Zuerkennung der Führungsposition wurde mir verwehrt mit fadenscheinigen Begründungen.

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