Im Frühjahr haben wir in unserer Reihe „intensiv erklärt“ versucht Intensivmedizin allen allgemeinverständlich zugänglich zu machen. Die Erklärungen aus dem Frühjahr sind auch aktuell – in der zweiten Welle – noch gültig, da aber im Moment immer häufiger von Triage gesprochen wird und sich die Presseberichte häufen in denen vermeldet wird, dass Kliniken in Sachsen nun Patienten triagieren müssten, wollen wir uns dieser nochmal explizit widmen.
Triage von französisch trier sortieren, aussuchen, auslesen ist ein Begriff der ursprünglich aus der Katastrophenmedizin stammt. Er beschreibt ein Verfahren bei dem konkret entschieden wird, wie bei einem Mangel an medizinischen Ressourcen verfahren wird. Ein Beispiel: ein Reisebus verunfallt, aber es gibt nur fünf Rettungswägen. Nun muss „triagiert“ werden, wem in welcher Form zuerst geholfen werden muss, um möglichst vielen Opfern ausreichende Hilfe zukommen zu lassen. Der Begriff Triage ist aber im Rahmen der Pandemie immer weiter ins öffentliche Bewusstsein gerutscht, auch außerhalb von Katastrophen oder Großschadenslagen. Wobei man natürlich auch sagen könnte, dass die Pandemie selbst eine Katastrophe bzw. Großschadenslage ist.
Ein Triage wird in deutschen Krankenhäusern bzw. im Gesundheitssystem aber tagtäglich und auf verschiedensten Ebenen durchgeführt. Um das zu veranschaulichen begleiten wir Frau und Herr Müller auf ihrem Weg durch das deutsche Gesundheitswesen:
Es ist Sonntagmorgen 8Uhr und Herr Müller wacht mit stärksten Bauchschmerzen auf. Seine Frau ist sehr besorgt um ihn, Herr Müller wirkt sehr abgeschlagen, will nichts essen und eigentlich das Bett gar nicht verlassen. Herr und Frau Müller triagieren das erste Mal: reicht es, wenn Herr Müller erst am nächsten Tag zu seinem Hausarzt geht? Sollte Frau Müller den kassenärztlichen Notdienst anrufen? Oder muss Herr Müller ins Krankenhaus? Muss womöglich der Rettungsdienst alarmiert werden? Eine alltägliche Situation.
Frau Müller entscheidet sich dazu die 112 zu rufen, da die Schmerzen ihres Mannes immer heftiger werden. Der Disponent in der Rettungsleitstelle führt die nächste Triage durch: benötigt Herr Müller Hilfe des Rettungsdienstes? Wenn ja, reicht ein Krankenwagen, muss ein Rettungswagen zum Patienten? Sollte dieser mit Blaulicht zu Herr Müller fahren oder benötigt Herr Müller womöglich einen Notarzt? Diese Entscheidungen muss der Leitstellendisponent aufgrund der Beschreibung am Telefon treffen. Er hat nicht genug Rettungswagen und Notärzte zur Verfügung um im Zweifelsfall jedem potentiellen Anrufer einen zu schicken, also muss er seine verfügbaren Ressourcen sinnvoll verteilen. Gibt es einen Engpass, z.B. wegen des bereits erwähnten Busunglückes oder weil zu viele Menschen Bauchschmerzen oder Herzinfarkte haben, sind die Ressourcen irgendwann erschöpft und die Rettungsleitstelle kann vielleicht nur noch einen Krankenwagen zu einem Patienten schicken, obwohl dieser eigentlich einen Notarzt benötigen würde. Der Leitstellendisponent fragt dann bei der Leitstelle der Nachbarstadt bzw. des Nachbarkreises nach, ob diese mit einem entsprechenden Rettungsmittel aushelfen kann. Auch dies ist eine Situation die dutzendfach am Tag in Deutschland vorkommt.
Die Rettungsleitstelle hat einen Rettungswagen zu Herrn Müller geschickt. Die Notfallsanitäter des Rettungswagens untersuchen Herrn Müller und kommen zu dem Schluss, dass Herr Müller in die Klinik muss. Sie triagieren: kann Herr Müller zuhause bleiben, muss er in die Klinik? Die Symptome sprechen für eine schwere Entzündung im Bauchraum, die weitere klinische Abklärung unbedingt erforderlich macht. Also bringen die Notfallsanitäter Herr Müller mit ihrem Rettungswagen in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses und übergeben ihn dort an das Notaufnahmepersonal.
Das Personal in der Notaufnahme führt die nächste Triage durch: anhand der Übergabe des Rettungsdienstes und einiger schnell erhebbarer Befunde weisen sie Herr Müller eine Behandlungskategorie zu. Die Behandlungskategorie sagt etwas darüber aus in welcher Reihenfolge die Patienten in der Notaufnahme behandelt werden. Da Herr Müller stärkste Bauchschmerzen und mittlerweile auch hohes Fieber hat, wird er einer Behandlungskategorie mit hoher Priorität zugeordnet. Der gleichzeitig mit Herr Müller eingetroffenen Patient mit einer Schnittverletzung am Arm wird mit geringerer Priorität eingestuft und muss warten.
Keine zehn Minuten nachdem Herr Müller in der Notaufnahme eingetroffen ist kümmern sich ein Chirurg und eine Pflegekraft um ihn. Ihm wird Blut abgenommen, Ultraschalluntersuchungen werden durchgeführt und eine Computertomografie vom Bauch. Dabei stellt sich heraus, dass Herr Müller ein Loch in seinem Dickdarm hat, wodurch Stuhl in den Bauchraum gelangt und dort eine schwere Entzündung verursacht. Nun findet die nächste Triage statt: eigentlich stünde jetzt eine junge Frau mit einem Bruch des Unterarms auf dem OP-Plan, der Chirurg entscheidet aber, dass Herr Müller dringender operiert werden muss als die junge Frau. Der gebrochene Arm der jungen Frau kann warten ohne das gravierende Folgeschäden zu erwarten sind, aber Herr Müller hat Stuhl in seinem Bauch, dieser muss umgehend entfernt und das Loch im Darm verschlossen werden.
Während der Operation zeigt sich, dass die Entzündung im Bauchraum von Herrn Müller bereits sehr fortgeschritten ist, er hatte schon das ganze Wochenende Bauchschmerzen, aber seiner Frau davon nichts berichtet. Die Entzündung wirkt sich nicht nur auf den Bauchraum aus, sondern auf den ganzen Körper. Kreislauf, Lungen- und Nierenfunktion sind beeinträchtigt oder werden in den nächsten Tagen voraussichtlich beeinträchtigt. Herr Müller benötigt während der Operation bereits Medikamente die seinen Kreislauf unterstützen, sodass er nach der Operation zwingend auf die Intensivstation muss.
Der Narkosearzt aus dem OP ruft seinen Kollegen auf der Intensivstation an und berichtet ihm über Herr Müller. Eigentlich sind auf der Intensivstation alle Betten belegt, für Herr Müller wäre kein Platz, aber der Intensivarzt sagte, dass er sich bis zum Ende der OP um das Problem gekümmert hätte. Es ist gerade 12Uhr, das heißt auf der Intensivstation findet die Visite statt und der Intensivarzt berichtet allen anwesenden von Herrn Müller und dass deshalb ein Patienten verlegt werden müsste. Die nächste Triage findet statt: welcher Patienten kann auf die Normalstation verlegt werden? Man ist sich einig, dass Herr Meier auf die Normalstation verlegt werden kann. Herr Meier wurde Anfang der Woche reanimiert und war einige Tage beatmet, seit Freitag geht es ihm aber deutlich besser, er atmet bereits wieder alleine, der Grund für die Reanimation – eine Engstelle an einem Herzkranzgefäß – ist beseitigt und Herr Meier kann sich schon wieder alleine an die Bettkante setzen. Er hat lediglich noch etwas Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, aber morgen sollte er ohnehin auf die Normalstation verlegt werden, also kann dies auch heute schon geschehen.
Herr Meier wird auf die Normalstation verlegt und die Intensivstation hat Platz für Herr Müller. Herr Müller erholt sich in den ersten 24 Stunden sehr gut, er musste nach der Operation nur eine kurze Zeit künstlich beatmet werden und die Medikamente zur Kreislaufunterstützung konnten auch deutlich reduziert werden. Er ist mit Hilfe des Pflegepersonals sogar bereits einmal aus dem Bett aufgestanden.
Nun ist Montagabend 22Uhr und der Rettungsdienst kündigt einen Patienten mit stärkster Luftnot an. Die Luftnot war so stark, dass der Patient, wir nennen ihn Herrn Schmidt, noch in seinem Wohnzimmer in ein künstliches Koma versetzt und künstlich beatmet werden musste. Herr Schmidt benötigt dringend ein Bett auf der Intensivstation, allerdings ist noch immer kein Bett frei. Wieder führt das Personal der Intensivstation eine Triage durch und diesmal fällt die Wahl auf Herr Müller, er hat sich aber auch wirklich gut gemacht, er kann auf die Normalstation, auch wenn alle wissen, dass seine Operation noch nicht lange her ist und Komplikationen in solchen Fällen wie dem von Herrn Müller auch erst am dritten, vierten oder fünften Tag auftreten können. Herr Müller ist allerdings auch froh, auf der Normalstation hat er ein richtiges Bad und dort ist es auch nicht so unruhig wie auf der Intensivstation.
Weitere zwei Nächte später, es ist Mittwochnacht, geht es Herr Müller wieder sehr schlecht. Er hat Fieber, wieder stärkste Bauchschmerzen und seit dem Morgen kein Wasser mehr gelassen. Die Pflegekraft auf der Normalstation macht sich große Sorgen und informiert den Chirurgen. Es zeigt sich, dass mit dem Bauch von Herrn Müller etwas nicht stimmt, er muss unbedingt nochmal in den OP, noch heute Nacht. Herr Müller wird wieder operiert, eine Naht am Darm hat nicht gehalten, erneut ist Stuhlgang im ganzen Bauchraum. Herr Müller benötigt wieder ein Bett auf der Intensivstation, es gibt jedoch keine Patienten den man verlegen könnte. Der Arzt der Intensivstation ruft im Nachbarkrankenhaus an, dort wäre ein Bett auf der Intensivstation frei. Nun folgt die nächste Triage: wer wird in das Nachbarkrankenhaus verlegt? Es ist nicht so groß und so leistungsfähig wie das Krankenhaus in das Herr Müller gebracht wurde. Welcher Intensivpatient kann bedenkenlos in das kleiner Krankenhaus verlegt werden? Herr Müller oder doch ein anderer Patient, damit Herr Müller dann dessen Bett auf der Intensivstation des großen Krankenhauses haben kann. Welcher Patient hält den Transport am besten aus?
Der Intensivsarzt entscheidet sich für Herrn Schmidt. Herr Schmidt hat eine schwere Lungenentzündung, ist aber bereits auf dem Weg der Besserung. Das Antibiotikum wirkt gut, Herr Schmitz ist zwar noch künstlich beatmet, befindet sich aber bereits auf gutem Wege dahin wieder selbstständig zu atmen. Also ruft der Intensivarzt bei der Rettungsleitstelle an, um die Modalitäten des Transportes zu besprechen. Der für den Kreis zuständige Intensivtransportwagen (ITW) ist bereits in einem Einsatz, also erfolgt die nächste Triage: kann gewartet werden bis der ITW wieder verfügbar ist oder muss Herr Schmidt mit einem Rettungswagen transportiert werden, der nicht über die adäquate Ausstattung für den Transport eines Intensivpatienten verfügt.
Der Disponent der Rettungsleitstelle und der Intensivarzt einigen sich darauf zu warten bis der ITW verfügbar ist, dies soll in einer Stunde so weit sein. Die Operation von Herrn Müller dauert ohnehin noch so lange.
An diesen Beispielen sieht man, dass Triage im deutschen Gesundheitswesen an der Tagesordnung ist, ganz unabhängig von der Pandemie. Es gibt in allen Bereichen begrenzte Ressourcen und diese müssen adäquat eingeteilt werden. Bis dahin ist dies auch kein Problem. Problematisch wird die Triage in Zeiten der Pandemie, wenn die Ressourcen so erschöpft sind, dass es keine alternativen Lösungen mehr gibt.
Beginnen wir ganz am Anfang: wegen der Pandemie stehen zu wenig Rettungswagen zu verfügung, entweder weil es zu viele schwer kranke Patienten gibt die den Notruf wählen oder weil zu viele Notfallsanitäter selbst an Covid-19 erkrankt sind. In diesem Fall kann der Leitstellendisponent sich bemühen wie er möchte, er kann keinen Rettungswagen zu Herr Müller schicken. Auch keinen schlechter ausgestatteten Krankenwagen oder einen Rettungswagen aus einem Nachbarkreis. Es steht nichts davon zur Verfügung.
In der Notaufnahme angekommen erleben wir heutzutage schon häufig das Problem des „Owercrowding“. Notaufnahme sind überlaufen, weil es 1. häufig kein funktionierendes Hausarztsystem außerhalb der Öffnungszeiten der Hausärzte gibt und 2. Menschen mit Erkranknungen/Verletzungen, die kein Fall für Notaufnahmen sind, diese aufsuchen. Kombinieren wir das in der Pandemie mit einem noch weiter erhöhten Patientenaufkommen und pandemiebedingtem Personalausfall, dann wird Herr Müller zwar in eine Behandlungskategorie mit hoher Priorität eingestuft, eine entsprechend zeitnahe, adäquate Behandlung kann aber dennoch nicht erfolgen.
Weiter geht es auf die Intensivstation: Kapazitätsprobleme wie beschrieben gibt es seit Jahren auf deutschen Intensivstation, es wurden und werden tagtäglich Patienten verlegt, die eigentlich noch besser auf einer Intensivstation aufgehoben wären. Bislang waren das aber lokale Phänomene, in der Region gab und gibt es immer aufnahmebereite Kliniken, häufig verbunden mit hohem administrativem und logistischem Aufwand, aber im Zweifelsfall fand und findet man ein Intensivbett für seinen Patienten. In der der Pandemie kommen wir aber in die Situation, dass die Überlastung nicht nur lokal oder regional vorherrscht, sondern womöglich überregional. In diesem Fall gäbe es keine Möglichkeit ein freies Intensivbett für Herr Müller zu schaffen, da alle Kliniken regional wie überregional selbst unter Kapazitätsengpässen leiden.
Dann kämen wir in eine Sitatuon die unbedingt vermieden werden muss: dann stellt sich nicht mehr die Frage, ob ein Patienten womöglich nicht mehr vor Ort adäquat behandelt werden kann und ggf. verlegt werden muss, sondern dann stellt sich die Frage, welche Patienten wir adäquat behandeln und welche eben nicht. Aktuell triagieren wir noch, wo, wie und mit welcher Qualität ein Patient behandelt wird und nicht ob. Damit schließt sich der Kreis zum Busunglück vom Beginn. 50 Verletzte nach einem Busunglück können nicht mit fünf Rettungswagen gerettet werden, in diesem Fall wird triagiert welchen Patienten geholfen werden kann und welchen im Umkehrschluss eben nicht, welche also versterben werden. An diesem Punkt sind wir noch nicht, auch noch nicht in Sachsen. Diesen Punkt gilt es aber mit allen Mitteln zu verhindern.
Unser Autor Simon Ilger ist Krankenpfleger und arbeitet seit vielen Jahren auf der Intensivstation.
@ Simon: Ich kenne die Situation in Ihrer Kinik nicht, kann aber von den beiden örtlichen Kliniken berichten, daß seit dem Abebben der ersten Welle zwar viel Geld in Technik investiert wurde, aber keine Pflegekraft von den "Normalstationen" in irgendeiner Art und Weise weitergebildet wurde. Natürlich kann man nicht in der kurzen Zeit eine Intensivkraft ausbilden, aber die Schwestern und Pfleger mit teils jahrzehntelangen Erfahrungen auf den verschiedenen Stationen hätten über den Sommer, als das größte Problem in D der Urlaub war, zu Intensivhelfer/innen weitergebildet werden können. Um Sie zumindest zu entlasten und Ihnen zur Hand zu gehen. Stattdessen wurden Überstunden abgebaut, und zwar in ganz großem Umfang.
Die Kollegen meiner Frau sind teils ins Stundenminus gerutscht; das hätte man sich vor zehn Monaten nicht vorstellen können. Wenn also in näherer Zukunft triagiert werden muß, dann liegt das auch an der mangelnden Vorbereitung im Personalmangement auf die zweite Welle. Da liegt m.E. die Verantwortung auch bei Laumann persönlich bzw. der Politik im Allgemeinen: Wenn der Staat den Bürgern bis in die die Wohnung hineinregieren will, ist es unverständlich, daß dort, wo die Weisungsbefugnis schon immer vorlag, nicht gehandelt wurde. Und natürlich an den Deppen, die immer noch nicht dazu in der Lage oder bereit sind, die einfachsten Hygieneregeln einzuhalten.
Weiterhin viel Glück.
Da stimme ich vollumfänglich zu.
Ähnlich wie bei den Schulen ist auch da im Sommer versäumt worden Vorkehrungen zu treffen.
Im Sommer wollen aber auch Mediziner in Urlaub gehen, da dürfte es in den wenigsten Krankenhäusern so sein, dass man noch zusätzliche Kräfte auf lange Fortbildungen schicken kann. Dazu kommt, dass man auch Pfleger mit jahrzehntelanger Erfahrung nicht mal eben in ein paar Monaten oder gar Wochen zum Intensivpfleger gemacht hat. Und Intensivärzte bekommt man auch nicht mal eben vom Orthopäden oder Augenheilkundler umgeschult.
Falls es in einem Krankenhaus tatsächlich während des Sommers im Pflegebereich zu Minuststunden gekommen ist, dann Hut ab vor der weitsichtigen Personalplanung, die erstens den Betroffenen nach den auszehrenden Monaten davor mal etwas Erholung gegönnt hat und die zweitens intelligent genug vorgegangen ist, ein bisschen Puffer für den Herbst und Winter zu schaffen.