Vor 20 Jahren stürzten die USA und ihre Verbündeten, die „Koalition der Willigen“, das Regime von Saddam Hussein und der Baath-Partei im Irak. Ihr Ziel war es, die brutale Diktatur durch ein demokratisches System zu ersetzen. Thomas von der Osten-Sacken leitet als Geschäftsführer im seit über dreißig Jahren Norden des Iraks die Hilfsorganisation Wadi e. V. und ist der Ansicht, dass das, wenn auch nach vielen Mühen, geglückt ist. Mit Thomas von der Osten-Sacken sprach Stefan Laurin.
Ruhrbarone: Der Sturz Saddam Husseins und der Baath-Partei durch eine von den USA geführte Koalition 2003 gilt vielen als der große Sündenfall der internationalen Politik Anfang des Jahrhunderts und als Beleg westlicher Hybris. Der Preis, den die Menschen im Irak und der Region zahlen mussten, seien Bürgerkrieg, Instabilität und das Aufkommen von Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat gewesen.
Thomas von der Osten-Sacken: Der große Sündenfall war aus meiner Sicht, dass Saddam Hussein und die Baath-Partei nicht schon 1991 gestürzt wurden. Damals gab sich die von den USA angeführte Koalition damit zufrieden, Kuwait von den irakischen Besatzern zu befreien. Es gab seinerzeit im Süden des Iraks große Aufstände gegen Saddam und die wurden vom Regime blutig niedergeschlagen, es gab Hunderttausende Tote. Die Kurden konnten zumindest die autonome Region Kurdistan durchsetzen. Seitdem sind dort semidemokratischen Strukturen aufgebaut worden und die Menschen in Kurdistan leben in Sicherheit. In den 80er-Jahren wurden sie 47-mal Opfer von Giftgasangriffen. Seit 2003 wurden im Irak über 250 Massengräber exhumiert und viele harren noch der Entdeckung. Dieser Terror bestimmte früher den Alltag aller Irakis, Viele haben vergessen oder wollten es nie wahrhaben, was für ein verbrecherisches und brutales Regime im Irak an der Macht war. Ich war 2003 eine Art Sprecher der irakischen Opposition in Deutschland und außer den Kommunisten, die den Krieg, aber nicht den Sturz Saddams ablehnte, waren alle bedeutenden politischen Organisationen für den Sturz Saddams durch die von den USA geführte Koalition. 2003 kämpften dann kurdische Peschmerga an der Seite der Alliierten gegen Saddams Armee. Auf die Solidarität der Linken in Europa konnten sie nicht hoffen. Die stellten sich lieber gegen die USA als gegen das Regime von Saddam.
Ruhrbarone: Den Krieg 2003 begründeten die USA vor allem mit dem Vorhandensein von Massenvernichtungswaffen, die allerdings nie gefunden wurden.
Thomas von der Osten-Sacken: Die Massenvernichtungswaffen waren nur ein Grund unter vielen. Saddam hatte sie in der Vergangenheit eingesetzt und weigerte sich damals zu belegen, dass er seine alten Bestände zerstört hatte. Dabei geht es bei chemischen Waffen wie Giftgas gar nicht um die Bestände, sondern um das Wissen: Wer das hat, kann sie jederzeit schnell herstellen. Und es waren deutsche Firmen, die Saddam Husseins-Regime dazu in der Lage versetzten und ihm das Wissen und die nötigen Anlagen verkauften.
Ruhrbarone: Nach dem gewonnenen Krieg und der Besatzung brach allerdings Chaos aus. Was hatten die Alliierten falsch gemacht?
Thomas von der Osten-Sacken: Sie gingen davon aus, dass im Irak wie nach 1991 in kurdischen Norden nach dem Ende des Regimes die öffentlichen Strukturen intakt bleiben würden. Aber das war nicht der Fall. Egal ob Wasserwerke, Kraftwerke oder die Busse: Nichts ging mehr. Mit dem Ende des Regimes brachen alle Strukturen zusammen, es kam zu einem Kollaps. Das Land war nach Jahrzehnten brutaler Unterdrückung am Ende. Das war eine der beiden großen und tragischen Fehleinschätzungen.
Ruhrbarone: Und was war die Zweite?
Thomas von der Osten-Sacken: Den Irak als ein homogenes Land anzusehen. Im Norden, wo Kurden leben und im Süden, wo es eine schiitische Bevölkerungsmehrheit gibt, fühlten sich die Menschen durch die Alliierten befreit. Das sunnitische Dreieck, dass grob die Städte Falluja, Ramadi und Tikrit bilden und auch in Mossul hatten sich die Eliten verschanzt, die von Saddam Hussein und der Baath-Partei profitierten. Sie begannen den Kampf gegen die Alliierten und unterstützten später auch den Islamischen Staat. Während der Norden und der Süden nur befreit werden musste, hätten dieser die Saddam-Anhänger bekämpft werden müssen. Doch dafür fehlte es an Truppen. Die fehlten auch im Kampf gegen Banden, die vom Iran unterstützt wurden. So geriet das Land in ein Chaos, das nicht so lange hätte anhalten müssen, wie es der Fall war. Der Iran hatte Angst davor, dass der Regimewechsel im Irak eine Erfolgsgeschichte wird.
Ruhrbarone: Der Iran unterstützte diesen „Widerstand“ aber auch.
Thomas von der Osten-Sacken: Die iranischen Mullahs wollten alles, aber keinen demokratischen Iran. Ihr Mantra war, dass Islam und Demokratie nicht miteinander vereinbar sind. Das entsprach aber nicht dem Denken der schiitischen Geistlichen im Irak, die viele eher für den schiitischen Mainstream stehen als es die iranischen Mullahs tun. Die meisten von ihnen wollten einen demokratischen Irak und nicht, dass die Iraner das Sagen haben. Wie überall im Nahen Osten war und ist der Iran auch im Irak ein destabilisierender Faktor.
Ruhrbarone: Die entscheidende Frage ist für mich: Geht es den Menschen heute besser?
Thomas von der Osten-Sacken: Ich sitze hier in Sulaimaniyya und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich eine moderne Stadt mit Hochhäusern, Restaurants und Staus, in der die Menschen keine Angst haben, ihre Meinung zu sagen. Und so ist es heute überall im Irak, nicht nur im kurdischen Autonomiegebiet: Wer sich nicht an die Zeit des Saddam-Regimes erinnert, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, Angst davor zu haben, dass einen morgens um vier Uhr die Geheimpolizei abholt und jeder Protest brutal niedergeschlagen wird. Es gibt Wahlen, Präsidenten kommen und gehen. Das Einkommen der Menschen ist stark gestiegen, wobei der Süden immer noch sehr arm ist. Die Iraker meckern über ihre Regierung, aber das können sie ohne Furcht tun. Es gibt ein Parlament, dass demokratisch gewählt wurde und stark ist und alle wichtigen Parteien bekennen sich zu demokratischen Wahlen und der irakischen Verfassung. Es ist gut, dass sich im Irak anders als in Tunesien nicht die Franzosen mit ihrer Idee eines starken Präsidenten durchgesetzt hat. Eine Präsidialdemokratie tendiert in der Krise zur Diktatur. Dann will der Präsident der starke Mann sein, der sich vom Parlament nichts mehr sagen lässt. Im Irak ist der Präsident schwach, aber das Parlament stark. Das ist eine gute Grundlage für eine dauerhafte demokratischen Entwicklung.
Ruhrbarone: Wo steht der Irak heute?
Thomas von der Osten-Sacken: Er steht heute da, wo er schon 2005 hätte stehen können, wenn alles gut gelaufen wäre. Ich glaube, es hätte nach Jahrzehnten der Diktatur immer eine chaotische und unsichere Phase geben müssen, aber sie hätte nicht so lang sein müssen, wenn die Alliierten mit mehr Truppen die Sicherheit der Menschen garantiert hätte. Der Irak ist eine Demokratie im Werden, die Bürgergehen zur Wahl und streiten sich über Politik, so wie es sein sollte. In der Armee und der Polizei dienen heute Menschen der verschiedensten Gruppen des Landes. Junge Iraker, und die Iraker sind jung, denn Hälfte der Bevölkerung wurde nach dem Krieg geboren, haben heute keine Angst mehr vor der Polizei. Man geht ohne Furcht auf eine Wache, um zum Beispiel einen Diebstahl anzuzeigen. Unter Saddam war Polizei vor allem ein Organ der Diktatur. Natürlich hat jeder, der im Irak unterwegs ist, eine Karte im Kopf mit Stadtteilen und Regionen, die man besser meidet, weil sie gefährlich sind. Aber das ist in Brasilien oder Kolumbien nicht anders und das sind demokratische Staaten. Nein, die Besatzung war nicht der große Sündenfall, aber man hätte vieles besser machen können. Saddam an der Macht zu lassen, war keine Alternative. Spätestens im Arabischen Frühling wäre es zu großen Massakern an der Bevölkerung. Saddam stand nicht für irgendeine Stabilität, er stand für Massenmord und Unterdrückung.