Der Katastrophenschutzexperte Magnus Memmeler sorgt sich um die Zukunft des Rettungsdienstes.
Ruhrbarone: Die Tagesschau äußert sich online zum Zustand des Rettungsdienstes in der Bundesrepublik und die Björn Steiger Stiftung mahnt einen erneuten Neustart an, statt weiter zu Verschlimmbessern. Weil Sie sich sehr deutlich zum Novellierungsentwurf aus dem Gesundheitsministerium positioniert haben erlauben wir uns zum Jahresabschluss die Nachfrage, wie ist der Sachstand zur Umsetzung und welche Probleme plagen den Rettungsdienst tatsächlich?
Memmeler: Den Zustand des Rettungsdienstes kann man sehr gut mit der aktuellen Wetterlage und den deshalb erforderlichen Maßnahmen zum Hochwasserschutz in NRW vergleichen. Durchweichte, weil vernachlässigte, Binnendeiche müssen mit Noteingriffen geschützt und verstärkt werden. Warum, weil ähnlich wie in der Notfallversorgung nur immer das Notwendigste getan wurde, um die Katastrophe zu vermeiden. Zusätzlich wurden diese Noteingriffe der ahnungslosen Bevölkerung stets als ausreichend beschrieben, um die Versorgungsstandards aufrecht zu erhalten. Bei den Binnendeichen und in der Notfallversorgung erkennen wir nun, dass beides den aktuellen Anforderungen nicht mehr gewachsen ist.
Die Studie der Opta Data Zukunftsstiftung und der erneut sehr eindringlich formulierte Aufruf der Björn Steiger Stiftung zeigen, dass es Zeit für eine grundlegende Neustrukturierung des Rettungsdienstes ist, wie es auch im 9. Reformpapier des Bundesgesundheitsministeriums beschrieben wurde. Das Herumdoktern an Symptomen bringt uns einfach nicht weiter, sondern verschärft nur das ohnehin bestehende Personalproblem im Rettungsdienst. Eigentlich ist dieser Handlungsdruck allen Beteiligten seit geraumer Zeit bekannt. Leider scheut der Mensch aber auch die Veränderung, weil man glaubt, mit dem Bekannten besser umgehen zu können.
Meldungen zum Personalnotstand gibt es reichlich. Das Beispiel aus Wildberg , wo eine neue Rettungswache entsteht, jedoch noch niemand weiß, wie diese besetzt werden soll, ist beispielhaft für die Personalsituation im Rettungsdienst. Immer häufiger erreichen uns auch Meldungen, dass Hilfsfristen nicht mehr eingehalten werden können, weil durch die bekannten Strukturen eine Überforderung des Systems geradezu vorprogrammiert ist. Da der Rettungsdienst aber nun mal vom föderalen System gequält ist, wird die große Novelle vielerorts ausgesessen und es kommt zu Problemen wie in Baden-Württemberg. Um diesem Problem zu begegnen, setzt man im Süden darauf, die Hilfsfristen am gemeldeten Notfallbild festzumachen Ohne die zwingend erforderliche Etablierung von gemeinsamen Leitstellen von KV-Dienst und Rettungsdienst, wird das verschwurbelte Augenwischerei bleiben, weil der Mangel schlicht bleiben wird, da dieser ausnahmslos beim Rettungsdienst verortet bleibt. Für manche Notfälle wird sich dann nur die Versorgung verzögern, statt dem Kollaps zu begegnen, der dem System Rettungsdienst droht.
Ruhrbarone: Sie sagen also, der Rettungsdienst ist nicht mehr zu retten und Notfallpatienten müssen sich zukünftig auf eine verschlechterte Versorgung einstellen?
Memmeler: Wenn wir nun zügig handeln, wie hier gefordert wird https://pro-rettungsdienst.org/ , dann nicht. Wenn wir weiterhin eine große Reform behindern, weil Krankenkassen, Kassenärzte, Landesministerien und andere Interessenvertreter um eigene Pfründe und Einfluss bangen, dann werden wir noch häufiger solche Meldungen lesen und das System Rettungsdienst wird den Bach runter gehen
Die Landesministerien, denn Rettungsdienst ist Ländersache, müssen erkennen, dass die grundlegende Reform der Notfallversorgung nicht mehr ausgesessen werden kann. Auch wenn sich Sachsen jetzt gerade für die eigene Gesetzesnovellierung feiert , ändert das nichts daran, dass auch dort die Mangelverwaltung im Rettungsdienst bleibt. Die Fortschritte, die dort im Bevölkerungsschutz gemacht wurden, haben schlicht keinen wesentlichen Einfluss auf die Notfallversorgung. Und so könnten wir alle Bundesländer nacheinander abhandeln.
Eventuell ist der Stopp im Novellierungsprozess des RettG in NRW das Signal, dass erkannt wurde, dass das Lauterbach Ministerium nun ernst macht und wie im letzten Interview beschrieben, den Joker der im SGB V geregelten Finanzierung nutzt, um die föderale Kackophonie aufzulösen. Wer das bisherige Tempo des Bundesgesundheitsministerium bei den bislang verschlampten Novellierungen betrachtet, wird wohl begreifen, dass spätestens im Sommer 2024 Fakten auf dem Tisch liegen werden, die nicht mehr wegzudiskutiert werden können und in den Landesgesetzen Berücksichtigung finden müssen. Die Taktik die Notfallversorgung Segment für Segment neu zu regeln, scheint aufzugehen und die Fehler, alles in einem gemeinsamen Brei abhandeln zu wollen, werden unter Lauterbach endlich vermieden.
Die Reaktion auf das Pflegegesetz zeigt, dass die intensive Betrachtung aller einzelnen Komponenten der Notfallversorgung der richtige Weg ist, auch wenn das BMG hierbei auch immer mal wieder Gegenwind von Einzelverbänden aushalten muss. Wenn die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) den vom Bundesministerium vorskizzierten Weg im Novellierungsprozess Rettungsdienst begrüßt, ist das eine Adelung durch die Fachärzteschaft, die ernst genommen werden sollte. Die Empfehlung an die zuständigen Landesministerien muss also lauten, auf diesen sehr schnellen Zug aufzuspringen, statt schmerzhaft zu spüren, dass diese Novellierung nicht mehr aufzuhalten ist, auch wenn zahlreiche Interessenvertreter noch immer in der Vergangenheit verharren wollen.
Ruhrbarone: Das klingt, als könnte 2024 ein für Sie recht zufriedenstellendes Jahr werden, weil die Weichenstellung zur auch von Ihnen geforderten Reform endlich vollzogen wird. Können Sie denn auch Beispiele dafür liefern, welche Lobbyinteressen dieses Vorgehen bislang verhindert haben?
Memmeler: Da die Reihe an Beispiel sehr lang werden könnte, möchte ich es an den Beispielen Krankenkassen, Ärzteverbänden, KV und Interessen der Hilfsorganisationen fest machen, da diese exemplarisch für alle anderen Interessenvertreter herangezogen werden können, die ihren Wohlfühlbereich nicht verlassen wollen, sondern lieber bestehende Erfordernisse ausblenden.
Beginnen wir mit den Krankenkassen, die einerseits die Einbindung privater Rettungsdienste in ihren Positionspapieren fordern, andererseits aber auch als Bremsklotz auftreten, wenn Landesgesetze, wie in NRW, ihnen die Möglichkeit der Unterfinanzierung bieten. Der Beitrag zeigt, dass die Einbindung von privaten Rettungsdiensten erforderlich ist, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Zeigt aber auch, dass zum Beispiel die Regelung im RettG NRW den Kassen die Möglichkeit gibt, gleiche Dienstleistung unterschiedlich zu vergüten. Da wir auf alle Anbieter im Rettungsdienst angewiesen sein werden, sollte man tunlichst vermeiden, dass Krankenkassen durch eine solche Ungleichbehandlung, die Gruppe der Anbieter, die sich im Rettungsdienst engagieren, nachhaltig zu reduzieren.
In vielen Teilen von NRW und anderen Bundesländern sind die Dienstleistungen privater Anbieter sogar in den lokalen Bedarfsplänen aufgenommen worden, damit die zuständigen Träger den erforderlichen Nachweis erbringen können, dass die rettungsdienstlich Versorgung sichergestellt ist. Würden diese im §17 RettG geregelten Dienstleistungen wegbrechen, müssten die Träger des Rettungsdienstes in NRW plötzlich wesentlich mehr Bereitstellung betreiben, die für die Kassen wesentlich teurer wäre. Eine erste Möglichkeit, diesen Missstand zu heilen, wäre die Auskömmlichkeit zu regeln. Im Reformvorschlag aus Berlin ist dies durch die Kopplung an Qualitätsvorgabe und Versorgungsniveau gegeben. Bis diese Novellierung greift, könnte man die bereits bestehende Regelung aus dem Berliner Rettungsdienstgesetz übernehmen. Hier wäre es an den Kassen, diesen Vorschlag an den Gesetzgeber heranzutragen, wenn man, wie man selbst betont, die privaten Rettungsdienste dauerhaft am Rettungsdienst beteiligt wissen will.
Die deutsche Ärzteschaft betont zwar stets, wie wichtig eine gute Notfallversorgung ist, bremst die Potentiale, die durch das Notfallsanitätergesetz gegeben wären, jedoch regelmäßig aus, indem die Kompetenzen von Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern regelmäßig kastriert werden. Am Beispiel dieser Meldung der Tagesschau erkennt man das Problem . Und was tut die deutsche Ärzteschaft? Die Ärzte beklagen einen Mangel an Notärzten und versuchen diesen zu kompensieren, indem neue Maßstäbe für die Alarmierung von Notärzten formuliert werden, statt die Kompetenzen von Notfallsanitätern zu stärken.
In Bayern gehen die Ärzte, gemeinsam mit der KV, sogar noch einen Schritt weiter und kritisieren öffentlich die im Reformpapier angekündigte Stärkung der Notfallsanitäter. Aus dieser Reaktion erwuchs dann auch sofort ein Katalog an für Notfallsanitäter freigegebenen Maßnahmen, der keinen Zweifel an der mangelnden Wertschätzung der Ärzte am Berufsbild Notfallsanitäter zuließ. Für das, was dort passiert ist, hätte es das Berufsbild Notfallsanitäter nicht gebraucht. Im Gegensatz dazu, enthält der Reformvorschlag des Bundes reichlich Maßnahmen, durch die der Notarztmangel gut durch qualifizierte Notfallsanitäter kompensiert werden könnte. Standesgedanken torpedieren hier, was bereits jetzt möglich wäre und das Berufsbild nachhaltig stärken könnte, was auch zu einem Mehr an Ausbildung in diesem Bereich führen würde.
Kommen wir nun zu den Kassenärztlichen Vereinigungen, die in ihrer Einflussnahme auch nicht zu unterschätzen sind. Einerseits fordert die KV eine engere Verzahnung von Rettungsdiensten und Praxen , um die Akut- und Notfallversorgung zu sichern, was auch dem Reformpapier entsprechen würde, um dann zuzulassen, dass Bereitschaftspraxen in Rheinland–Pfalz und im Saarland zu schließen. Auch andernorts gibt es Beispiele, wo die Schließung von Bereitschaftspraxen im krassen Widerspruch zur Forderung stehen, den Rettungsdienst entlasten zu wollen. Hier müssen zukünftig alle Kassenärztlichen Vereinigungen an der Aussage des Zentralinstituts der KV gemessen werden, um die Akut- und Notfallversorgung zu sichern.
Möglich wird eine solche Einflussnahme von Ärzten und KV auch, weil Verbünde wie in diesem Beispiel verdi, die bittere Realität in solchen Stellungnahmen ausblenden , um vermeintliche Erfolge vorweisen zu können. Ich finde, dass die Rettungsdienstgemeinde viel lauter werden muss, da es an einer tatsächlichen Interessensvertretung mangelt.
Kommen wir nun zu den Hilfsorganisationen, die in zahlreichen Parlamentarischen Frühstücken die 100% Umsetzung der Bereichsausnahme fordern, um sich im Markt Rettungsdienst geschützt zu wissen. Neu gestalten und bewährtes bewahren hallt es dann immer, wenn betont wird, dass Bevölkerungsschutz durch Hilfsorganisationen nur möglich ist, wenn der Rettungsdienst als Bootcamp für Katastrophenschützer erhalten bleibt. Wohin das führen kann, zeigt die Stadt Hamburg . Obwohl eine große Hilfsorganisation in NRW gerade die Überlastung der eigenen Mitarbeitenden im existierenden System beklagt, wünscht sich der Zusammenschluss der Hilfsorganisationen einen Clost – Shop, um allein am Markt Rettungsdienst mitwirken zu können. Dem gegenüber steht die klare Aussage im Positionspapier der Feuerwehren, dass die Leistungsfähigkeit der Hilfsorganisationen in der Fläche nicht mehr als gegeben angenommen werden kann, sondern viele Ausfälle zu beklagen sind. Deshalb sollten laut der Feuerwehrverbände auch private Anbieter einbezogen werden.
Tatsächlich will niemand die Rolle der Hilfsorganisationen im Bevölkerungsschutz schmälern. Der hochspezialisierte Rettungsdienst lässt eine Mitwirkung von Ehrenamt jedoch kaum noch zu, da die Anforderungsprofile im Regelrettungsdienst in den letzten Jahren zu Recht deutlich gestiegen sind. Dass das Reformpapier aus dem Bundesministerium nun auch Sorgen bei den Organisationen auslöst, ist nachvollziehbar, da der Rettungsdienst zukünftig noch professioneller aufgestellt werden soll und das Ehrenamt im Rettungsdienst dann endgültig Geschichte sein dürfte. Somit würde auch das alte Totschlagargument entfallen, dass Hilfsorganisationen nur dann Bevölkerungsschutz leisten können, wenn man auch in den Rettungsdienst eingebunden ist. Durch eine weitestgehend beim Bund angesiedelte Richtlinienkompetenz im Rettungsdienst, würde dann auch die Möglichkeit entfallen, Landespolitikern mit zahlreichen wählenden Verbandsmitgliedern zu imponieren.
Ich möchte hier den Hilfsorganisationen keinesfalls Kompetenzen absprechen, denn diese leisten an zahlreichen Stellen hervorragende Arbeit im Rettungsdienst aber halt nicht überall. Und der Rettungsdienst kann sich jetzt und auch in der Zukunft keine Lücken leisten, denn die Versorgungssicherheit muss überall gegeben sein.
Ruhrbarone: Dann müssen das Bundesministerium und dessen Minister ja noch mit reichlich Gegenwind rechnen, wenn es gilt, die alten Zöpfe abzuschneiden. Wie lautet Ihre abschließende und kurze Empfehlung zum weiteren Vorgehen?
Memmeler: Ich empfehle den Bundesländern zu akzeptieren, dass die vom Bund angestoßene Reform nicht mehr vermeidbar ist. Es sollte ab sofort für alle Bundesländer gelten, diese Reform so zu unterstützen, dass der Übergang nicht zur Extrembelastung für alle Beteiligten wird. KV, Ärzteverbänden, Krankenkassen und allen übrigen Beteiligten kann ich nur die gleiche Empfehlung geben.
Parallel muss die Ausbildungsoffensive zum Notfallsanitäter her, um die vornehmlich durch ungeregelte Refinanzierung entstandene Phase der Nichtqualifizierung schnell hinter sich zu lassen. Hier müssen nun so viele Ausbildungsplätze, wie möglich, durch die Krankenkassen refinanziert werden, wenn wir die Mangelphase endlich hinter uns lassen wollen.
Da ich hier nicht mein letztes Interview zu diesem Thema vollständig wiederholen will , empfehle ich den interessierten Lesern, die Linksammlung mit den unterstützenden Stellungnahmen zur anstehenden Reform.
Ich wünsche uns allen ein Jahr 2024, welches von der Einsicht geprägt sein wird, dass die Struktur des Rettungsdienstes vollständig neu geprägt werden muss und es dabei Ziel sein muss, den föderalen Flickenteppich, bei allen relevanten Regelungsbereichen, möglichst vollständig hinter uns zu lassen.
Mehr zu dem Thema: