Ginge es nach der EU, soll Tunesien zum „sicheren Drittstaat“ erklärt werden. Die Realität vor Ort spricht eine andere Sprache. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Als »historisches Ereignis« bezeichnete die deutsche Innenministerin Nancy Faser Anfang Juni jenen sogenannten Asylkompromiss, den die EU-Staaten in Luxemburg ausgehandelt hatten. Dieser sieht zum Beispiel vor, dass künftig Flüchtlinge in haftähnlichen Lagern, wie sie jetzt schon in Griechenland existieren, untergebracht werden sollen und dann in Schnellverfahren entschieden werden soll, ob sie überhaupt ein Anrecht auf Asyl in Europa haben oder nicht.
»Im Kern geht es bei dem am 8. Juni gefassten Beschluss darum: Asylbewerber mit EU-weit geringer Schutzquote stellen schon an den Außengrenzen der Union ihr Gesuch, wo während zwölf Wochen eine Vorprüfung stattfindet. Wer abgelehnt wird, ist technisch damit noch gar nicht in die EU eingereist und muss die Prüfzentren wieder verlassen, gegebenenfalls auch in Richtung eines sicheren Drittstaats. Derjenige, dessen Gesuch stattgegeben wird, darf hingegen einreisen.«
Was aber ist ein sicheres Drittland und welche davon sind überhaupt bereit, Flüchtlinge aus sogenannten Drittstaaten bei sich aufzunehmen? Die bislang große Ausnahme stellt die Türkei dar, deren Regierung 2016 mit der EU einen Deal abgeschlossen hatte, durch den sie sich bereit erklärte, syrische und andere Flüchtlinge wieder »zurück« zu nehmen, sollten deren Verfahren in der EU abgelehnt werden. Dies allerdings unter der Maßgabe, dass im Gegenzug EU-Länder in der Türkei anerkannte syrische Flüchtlinge aufnehmen. Da dieser Teil des Deals von der EU nie umgesetzt wurde, nimmt seit Jahren die Türkei auch keine abgelehnten Asylbewerber aus Griechenland »zurück«.
Selbst mit diesem Abkommen funktioniert also nicht, was die Europäische Union nun auf andere Staaten ausdehnen möchte. Nur: Niemand möchte gerne Menschen aus Drittstaaten, die das eigene Land als Transit nutzen, wieder zurücknehmen.
Seit Jahren versucht die EU etwa nordafrikanische Länder mit Geld und Druck dazu zu bewegen, entsprechenden Vereinbarungen zuzustimmen, die allerdings regelmäßig abwinken. Sie haben keinerlei Interesse, zum Auffangbecken auch von ihnen unerwünschter Flüchtlinge zu werden. Bei ihrem Treffen in Luxemburg entschieden nun die EU-Vertreter vor allem auf Initiative Italiens, dass ausgerechnet Tunesien nun solche abgelehnten Flüchtlinge aufnehmen werde, so diese einen »Bezug zum Land« hätten, dort also länger gelebt und auch gearbeitet hätten.
Die Crux bei der Sache ist nur: Offenbar hatte man den autoritär regierenden Präsidenten Tunesiens, Kais Saed, zuvor weder informiert noch mit ihm entsprechende Bedingungen, also wie viel Geld man zu zahlen bereit sei, ausgehandelt. Deshalb erklärte Saed nur wenige Tage später, sein Land sei nicht bereit zu diesem Schritt:
»Nach dem Besuch einer von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angeführten europäischen Delegation bezeichnete er ›den von einigen Seiten diskret unterbreiteten Vorschlag, Migranten in Tunesien anzusiedeln und dafür finanzielle Unterstützung für das Land zu erhalten, als unmenschlich und unzulässig‹«, wie die offizielle Nachrichtenagentur TAP berichtete.
Rassistische Kampagne
Saed, dessen Land am Rand eines wirtschaftlichen Kollaps steht, hatte erst im Frühjahr mit einer extrem rassistischen Kampagne gegen Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika Schlagzeilen gemacht und angekündigt, sich dieser »schwarzen Horden« entledigen zu wollen. Dafür und in Reaktion auf seine autokratische Politik hatte er sich sogar heftige Kritik aus Washington und der UN eingehandelt.
Kein Wunder, dass die EU eine Erklärung schuldig blieb, wie Tunesien zum sicheren Drittland für Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika werden kann. Und noch während weiter gefeilscht wird, wie viele Millionen Dollar es denn kosten würde, den tunesischen Präsidenten davon zu überzeugen, doch ein paar tausend abgelehnte Asylbewerber aufzunehmen, verschlimmert sich die Lage von Flüchtlingen in Tunesien dramatisch. Nachdem bei einer Auseinandersetzung in Sfax ein Tunesier zu Tode kam, verfrachteten tunesischen Sicherheitskräfte kurzerhand Hunderte von Flüchtlingen in Busse und setzten diese an der libyschen Grenze aus:
»Nach Auseinandersetzungen mit Bewohnern der Hafenstadt Sfax in Tunesien sind Hunderte afrikanische Migranten in die Wüste vertrieben worden. Wie Augenzeugen der Nachrichtenagentur AFP am Donnerstag berichteten, hielten sich die Vertriebenen unter katastrophalen Bedingungen in der Wüstenregion im Süden Tunesiens auf. (…) Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen wurden Hunderte Migranten in Bussen in Wüstengebiete im Süden Tunesiens gebracht, einige nahe der Grenze zu Libyen und andere nahe der Grenze zu Algerien. Aus diesen zwei Ländern waren viele der Menschen eingereist.«
Libyen, dies dürfte inzwischen allgemein bekannt sein, ist für Flüchtlinge die Hölle auf Erden, während auch Algerien regelmäßig ins Land geflüchtete Menschen in die Wüste treibt und dort zum Teil sogar verdursten lässt. Erst im März schlugen deshalb die Organisation Ärzte ohne Grenzen Alarm:
»Tausende Migranten, die aus Algerien abgeschoben wurden, sind Berichten zufolge in der Wüste im Norden von Niger in der Stadt Assamaka an der Grenze zu Algerien ausgesetzt worden. Berichten zufolge kamen zwischen dem 11. Januar und dem 3. März 4.675 Migranten in der Stadt an. NGOs haben berichtet, dass weniger als fünfzehn Prozent dieser Migranten nach ihrer Ankunft in der Region Agadez in Niger eine Unterkunft oder Schutz finden konnten.«
Mit den jüngsten Maßnahmen der tunesischen Regierung dürfte der Plan, das Land zu einem ›sicheren Drittstaat‹ zu machen erst einmal geplatzt sein, denn, wie die taz feststellt, »ein sicheres Drittland ist Tunesien damit nicht mehr«.
Das nämlich müsste zumindest auf dem Papier garantieren, dass es zu keinen sogenannten Refoulments kommt, also niemand ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag nach Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention stellen zu können, direkt oder indirekt in sein Herkunftsland abgeschoben werden kann. Da alle EU-Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert haben, muss zumindest nominell garantiert werden, dass es nicht zu derartigen Kettenabschiebungen kommt. Selbst das ist im Falle Tunesiens nun nicht (mehr) gegeben.
Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch