Mit „So viel Zeit“ ist ein weiterer Roman von Frank Goosen verfilmt worden. Diesmal ein Roadtrip zwischen Proberaum und traurigen Bilanzen. Das Leben von Rainer (gespielt von Jan Josef Liefers) ist die graue Midlifecrisis-Hölle. Sein Job langweilt ihn, seine Ehe ist geschieden und das Verhältnis zu seinem Sohn ist getrübt. Es wird richtig erbärmlich, als ihm bei einer Untersuchung eröffnet wird, dass er einen Hirntumor hat. „Der frisst sich wie Pacman durch ihr Gehirn“, wird Rainer von der Schwester aus der Arztpraxis eröffnet. Vielleicht bleibt ihm noch ein Jahr. Er will noch mal alles auf eine Karte setzen und probiert nach 30 Jahren seine alte Band zu reanimieren: „Bochum’s Steine“.
Aber auch hier liegen schon wieder Steine im Weg, denn Rainer hat damals den Durchbruch der Band auf offener Bühne ruiniert, als er mutwillig Sänger Ole (Jürgen Vogel) von der Bühne schubbste. Damals spielten sie einen Auftritt für den WDR-Rockpalast zusammen mit Nena, Bap und Stunde X. Nach vielen Jahren Übung hat jeder der Protagonisten seinen Platz im Leben mehr oder weniger gefunden: Schlagzeuger Bulle (Armin Rohde) ist Zahnarzt. Seine Frau ist gestorben und das Leben mit zwei pubertierenden Töchtern stellt ihn täglich vor große Herausforderungen. Bassmann Konni (Matthias Bundschuh) ist Religionslehrer, der seine Schüler nicht mehr erreicht und seine Frau tanzt ihm auch auf der Nase herum. Nur Keyboarder Thomas (Richy Müller) ist der Musik treu geblieben: er spielt er auf dem Dormund-Ems-Kanal-Partyschiff „Santa Monica“ auf Ü40-Parties gefälligen Tanzmusiksound und schleppt sich als alternder Ruhrpott-Gigolo von einer Affäre zur nächsten.
Das Tolle ist: die Interieurs stimmen. Dem Filmteam ist es gelungen, das Ruhrgebiet so zu zeigen, wie es ist. Kein zu dick aufgetragener Kleingarten-Kitsch und keine hoch stilisierte Industrie-Romantik. Hier wird ein Bochum gezeigt, was so ehrlich ist wie Mundgeruch: Graffiti-verschmierte Schulgebäude, graue und schmucklose Warteräume im Krankenhaus, sowie Skat-Klopper-Kneipen im gebeiztem Kolpinghaus-Charme. Das ist hier kein Himmelbett für Taube – sondern eine Ruhrpott-Innensicht mit viel Bier und noch mehr Rockmusik. Mit echten Motiven quält sich die ehemalige Babyboomer-Generation durch den Alltag, tankt immer noch umweltschädlichen Diesel in den alten Passat und wird vom Schicksal eher auf Brennnesseln gebettet, als auf Rosen. Aber so sehr das Drumherum stimmt, so schwer fällt es, dass die Figuren den Zuschauer fesseln und wirklich berühren. Eigentlich ist die Rolle von Matthias Bundschuh noch die, die innerhalb dieses ungleichen Männerbundes am meisten überzeugt: er ist der ewig verständnisvolle Weichkeks, dem seine Beziehung entgleitet, weil er vergisst der Mann zu sein, in den sich seine Frau vor vielen Jahren mal verliebt hat.
Jürgen Vogel erinnert als Sänger Ole ein bisschen an die Hansen Band, als er 2005 mit Hamburger Musikern aus dem Umfeld der Band Kettcar die Doku „Keine Lieder über Liebe“ drehte. Und Armin Rohde nahm für seine Rolle als Schlagzeuger extra Unterricht bei Peter Thoms, dem Drummer aus der Helge Schneider Band. Sicher, Rohde und Vogel kleiden ihre Rollen mit viel gelebtem Leben aus. Das ist hier kein Til Schweiger-Kitsch oder ein humpelnder Holzschnitt aus der Sönke Wortmann-Manufaktur. Aber sie sind leider keine tragenden Identifikationsfiguren, für deren Schicksal man echte Empathie entwickeln möchte. So gern man mit der Band durch die Kneipen, Clubs und den Proberaum zieht, so löst das Charakter-Ensemble keinen Sog aus, der einen im Kino Minute für Minute wegbeamt.
Es gibt aber auch viel Stimmiges an diesem Film. Gut ist, dass sich Regisseur Philipp Kadelbach („Parfum“, „Nackt unter Wölfen“, „Unsere Mütter, unsere Väter“) von dem engen Korsett der Frank Goosen-Vorlage gelöst hat und mit seiner Sichtweise einen sehr eigenen Film gemacht hat. Hier ist nicht der Kalauer King, sondern die Ethik, dass es im Irrgarten des Lebens immer weitergehen muss. Selbst als die Totschlag-Diagnose Gehirntumor für die Hauptfigur Rainer auf dem Tisch liegt, muss die Show weiterlaufen: mit Würde, mit Leben und mit Haltung. Und natürlich auch mit leisem Humor. Kurz vor seiner Hirn-OP flieht Rainer aus dem Krankenhaus. Er entert einen Krankenwagen und steuert nach wilder Fahrt durch das nachtblaue Bochum den Weg in die Prinz Regent Straße zur Zeche an, um mit„Bochums Steine“ noch einmal im Vorprogramm der Scorpions zu spielen. Da er nichts dabei hat, außer dem OP-Kittel, den er trägt, leiht ihm Rudolf Schenker freundlicherweise seine Flying V Gitarre zum großen Finale von „So viel Zeit“. Die Band spielt die drei Songs „3 Affen“, „Scheiß auf Morgen“ und „Zu laut“. Und plötzlich ist Rainers tödliche Erkrankung wie vergessen.
Nach dem die beiden Goosen-Verfilmungen „Radio Heimat“ (Matthias Kutschmann, 2016) und „Sommerfest“ (Sönke Wortmann, 2017) an der Kinokasse ziemlich gefloppt sind, wird es auch „Sehr viel Zeit“ schwer haben, ein passendes Publikum zu finden. Gestern waren bei der Bochumer Premiere im Union-Kino 21 Zuschauer (mit mir) im Saal. Das ist für einen Film dieser Kragenweite zu wenig.
Vielleicht ist schon die Besetzung mit äußerst bekannten Gesichtern, die man – weil permanent auf jeder Leinwand und in jedem Bildschirm zu sehen – in Münster, Frankfurt, München, Berlin, gottweißwo, aber nie und nimmer authentisch im Ruhrgebiet verortet, der Major-Gedankenfehler bei solchen Projekten.
Danke für den Tipp!
Alwara Höfels spielt auch mit, die finde ich ziemlich genial.
Gut ist, dass sich Regisseur Philipp Kadelbach („Parfum“, „Nackt unter Wölfen“, „Unsere Mütter, unsere Väter“) von dem engen Korsett der Frank Goosen-Vorlage gelöst hat und mit seiner Sichtweise einen sehr eigenen Film gemacht hat. Hier ist nicht der Kalauer King, sondern die Ethik, dass es im Irrgarten des Lebens immer weitergehen muss.
Und genau das man sich viel zu wenig an den Roman ; schon mit dem Anfang, gehalten hat, ist der Fehler dieses Films. Tolle Schauspieler, aber die Geschichte, viel zu wenig am Roman. Schade…
eine vergebene Möglichkeit….