Von unserem Gastautor Henning Schlüter
Von 83 Millionen Bundesbürgern gehen 2,89 Millionen etwa einmal im Monat ins Theater. Wenn diese 3,5 % jetzt vier Wochen lang nicht ins Theater gehen, dann, orakelte die FAZ, breche der „geistige Notstand“ aus. Wie er immer ausbricht, wenn die Theater im Sommer Betriebsferien machen und die Geistesgrößen am Strand, nein, an Gestaden liegen. Für die – wieviel sind nochmal 100 weniger 3,5? – die sich im geistigen Dauernotstand befinden, hält Johan Simons eine „Botschaft“ bereit: „Wir“, sagt der Intendant des Schauspielhauses Bochum, und weiter: „Wir brauchen die Theater“, die jeden Sommer keiner braucht, in diesem November „mehr denn je“. Wofür? Dazu hat Simons sein Statement an die Presse verteilt, erste Antwort: für die „Daseinsvorsorge“.
Nicht seine persönliche – Simons verdient in Bochum 311.785 Euro pro Jahr, über die Runden kommt er, Putzfrauen kennen das, weil er noch andernorts putzen geht so wie jetzt in Wien die Burg. Dieses Dasein meint Simons aber nicht, er meint eine „kulturelle Daseinsvorsorge“: Der Staat sei verpflichtet, ihn und sein Schaffen so bereitzustellen wie Strom und Wasser, Straßen und Schienen, Kanalisation und Müllabfuhr. Andere Theaterschaffende pikieren sich darüber, dass die neue Corona-Schutzverordnung sie mit Nagelstudios und Trödelmärkten gleichsetzt, Simons sortiert sie bei Müll- und Klärwerkern ein. Die allerdings 83 Mio bedienen, nicht 2,89.
Simsons zweite Antwort: „Wir brauchen die Theater für die Reflexion der Gesellschaft …“ Das klingt gut, probieren wir es aus: Wie lässt sich eine Gesellschaft reflektieren, die um ihre elementare Daseinsvorsorge kämpft? Muss man eher Leute fragen, die sich mit Intensivbetten befassen.
Dritte Antwort: „Wir brauchen die Theater für Diskussionen…“ Wenn das stimmt, sind die nächsten vier Wochen verlässlich. Das letzte Mal, das ein Theater Diskussionen ausgelöst hat, ohne sich selber zu betratschen, war, puuh, vielleicht Schlingensief in den nuller Jahren oder eher Fassbinder 1985.
Also: Daseinsvorsorge persönlich gesichert, Pandemie gesellschaftlich reflektiert, Irrelevanz für mindestens 4 Wochen garantiert. Eigentlich könnte Johan Simons sein, was die Theaterszene immer ist: solidarisch. Früher mit Arbeitern unter Tage, dann mit Arbeitern bei Opel, jetzt mit Nagelstudios und Trödelmärkten und allen, die in Fitnessstudios arbeiten und Wettannahmestellen. Mit allen, die nebenan ein Café betreiben und das Bistro gegenüber, mit allen im kleinen kreativen Viertel rundherum, das gerade so schließen muss wie das kreatürlich große Schauspielhaus. Darüber kein Wort, Johan Simons ist beschäftig, er ist wütend, er ist „sehr wütend“. Warum und auf wen, wissen auch andere Querdenker nicht genau, Wutbürger Simons sucht eine Antwort:
„Wir brauchen die Theater vor allem aber, um sich berühren zu lassen“.
Das würde ja nun aber auch für Swingerclubs gelten, die im November genauso geschlossen sind wie Theater. Simons meint was anderes, was Spirituelles, er meint die Hand, die ihn berührt, weil sie ihn füttert. 311785 Euro Grundeinkommen, weniger Berührungsangst hat keiner in der Branche. Würde er nicht nur bellen, sondern beißen, könnte es doch mal für Diskussionen sorgen.
So aber, so angestelltenempört, ist das alles mehr als Theater, es ist pure Unterhaltung.
"Eigentlich könnte Johan Simons sein, was die Theaterszene immer ist: solidarisch. Früher mit Arbeitern unter Tage, dann mit Arbeitern bei Opel…"
Selten so gelacht. "Opelhausen darf nicht sterben" – gefahren ist man freilich was anderes. Tana Schanzara hatte ihren eingestaubten Oldtimer im Parkhaus unterm Schauspielhaus stehen. Und Matthias Hartmann konnte man zu der Zeit gut abends beobachten, wie er mit seinem Tretröllerchen (die Dinger waren damals angesagt) beschwingt ins "Jago" düste, um sich dort mit den anderen Theaterleuten und ihren Groupies am Fiege – und vor allem an sich selbst – zu berauschen. So sahen der damalige "gesellschaftliche Diskurs" und die "Solidarität" aus. Drinnen im "SH" haben sich dann Herr Doktor und Frau Doktor Publikum in ihren hochsubventionierten Sitzen zwischen Aufführung und Pausensektchen gesellschaftskritisch fühlen dürfen.
Die Filter Bubble ist keineswegs eine Erfindung der Smartphone-Ära.
Eine Runde Mitleid bitte …
Ein Jammern auf ziemlich hohen und auch gut finanzierten Niveau.
300.000 Tacken… Wie viele Szene-Theater könnte man damit pro Jahr durchbringen…? Das ist übel…
Und andererseits…
Fassbinder und Schlingensief… Klar, seit Bob Dylan und Simon & Garfunkel ist in der Musik ja auch nix Relevantes mehr passiert. Meine Mutter sagte auch immer, dass nach Schiller nix mehr kam… Was treiben die Leute nur alle in den Buchläden…?
Vielleicht einfach mal ins Theater gehen, Herr Schlüter? Auf ihre leuchtenden Kinderaugen wäre ich gespannt… Ich wünschte, ich hätte noch so viel zu entdecken wie Sie…
Bei den Schauspielerinnen wird es schon anders aussehen, wenn die sich von Engagement zu Engagement hangeln und nicht zu den wenigen Stars gehören.
Wer mal etwas Gutes über Theaterchefs lesen will, der WAZ-Theaterkritiker Lars v. der Gönna hat angesichts seiner nahenden Rente einen bemerkenswerten Artikel über Intendanten geschrieben:
https://www.waz.de/kultur/von-der-goennas-theatergeschichten-4-intendanten-id230437552.html
"Jeder Intendant hat ein ganz normales Chef-Problem: Realitätsverlust. Niemand sagt ihm die Wahrheit, am wenigsten die Wahrheit über ihn selbst. Der Intendant hält den Chefdramaturg für seinen kritischsten Berater. Aber der hat den Posten ja nur seinetwegen. Schauspieler? Werden kaltgestellt, wenn sie renitent sind" und weiter
"Über die Jahre sind allerhand Schrecklichkeiten in mein Erinnerungsarchiv gelangt: Sie handeln von Theaterleitern, von Jähzorn, Intrige, von großer Schamlosigkeit und kleinem Karo. Einer warf mit dem Schlüsselbund nach Menschen, andere verstanden ihr Haus als Selbstbedienungsladen"
Wer glaubt am Theater gehe es um ein großes emanzipatorisches Projekt – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit usw. der irrt. Die passende Trias wäre wohl eher Abhängigkeit, Abgrenzung und Konkurrenzkampf.
Das zeigt der Artikel sehr schön und nennt auch Namen.
Eine Kritik kann man dem Autor aber doch machen: Warum ist es einer der letzten Artikel, den er übers Theater schreibt und nicht einer der ersten als er vor 30 Jahren seine Berufslaufbahn begann?