Joseph Roth und das Leuchten der Gegenwart

„Sie war schön. Ihr Angesicht war kühn, licht und entschieden. Ihr Haar hatte den Glanz des Kupfers, es klang beinahe, wenn man es ansah. Ihre Augen waren klug und stolz, wie zwei Gedanken. Ihre Stirn war klar wie ein Mittag.“

Aus diesen leuchtenden Zeilen könnte man jetzt eine Rätselfrage machen. Wer war’s, wer hat sie verfasst? Aber nein, ich posaune die Lösung gleich heraus: Joseph Roth („Radetzkymarsch“) hat mit diesen und weiteren Worten eine Frau beschrieben, die in der Russischen Revolution auf den Barrikaden gekämpft hatte und zu dem Zeitpunkt bereits an Typhus gestorben war. Politischer Aufbruch und Bereitschaft zum Liebeszauber gehen in diesem Text eine innige Verbindung ein.

Womit ich bei einer nachdrücklichen Buch-Empfehlung wäre: „Ich zeichne das Gesicht der Zeit“ (Wallstein Verlag, Göttingen, 544 Seiten, 39,90 Euro) versammelt Roths ausgewählte Essays, Reportagen und Feuilletons von 1916 bis 1939. Die 20er Jahre waren bekanntlich eine Zeit, in der das Feuilleton in hoher Blüte gestanden hat. Polgar, Tucholsky, Kisch und Kracauer haben damals geschrieben – und viele andere von ähnlicher Güte, darunter eben auch Roth. Welch ein geistiger Reichtum vor den barbarischen, finsteren Zeiten.

Der als Kolumnist gewiss nicht unbegabte Harry Rowohlt hat einmal sinngemäß festgestellt, wenn er im damaligen Umfeld hätte antreten müssen, so hätte er kaum etwas zu bestellen gehabt. Mag sein. Wir wollen und können das nicht näher überprüfen.

Wir können aber Roths wunderbar schlackenlose Prosa lesen, die sich den Verhältnissen geradezu anschmiegt und kein Wort zu viel mit sich führt. Und wie vielfältig ist dieser Band! Texte zur Zeitgeschichte des Judentums stehen neben feinsinnigen Alltags-Impressionen, funkelnden Reise- und Gesellschaftsbildern.

Im Gegensatz zum furiosen Journalistenfresser Karl Kraus plädierte Joseph Roth übrigens vehement für hellwache, entschiedene Zeitgenossenschaft. Gerade die treffliche Momentaufnahme weise weit über den flüchtigen Augenblick hinaus. Zitat: „Ein Journalist kann, er soll ein Jahrhundert-Schriftsteller sein. Die echte Aktualität ist keineswegs auf 24 Stunden beschränkt. Sie ist zeit- und nicht tagesgemäß.“

Sternenhoch gegriffen. Und doch: Hinein ins Stammbuch mit solchen Sätzen!

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