Philipp Peyman Engel hat mit „Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“ ein ebenso persönliches wie aufklärendes Buch über die Lage der Juden in Deutschland nach dem 7. Oktober geschrieben.
Der 7. Oktober 2023 hat für Juden in der ganzen Welt alles verändert. Die von der Hamas und ihren Verbündeten im Herbst vergangenen Jahres begangenen Massenmorde sind die schlimmsten, seit es den Alliierten im Mai 1945 gelang, Deutschland vernichtend zu schlagen. Man spürt die Auswirkungen der Massaker in jedem Gespräch, das man mit Jüdinnen und Juden führt und sie bestimmen auch Philipp Peyman Engels Buch „Deutsche Lebenslügen: Der Antisemitismus, wieder und immer noch“. Engel ist Chefredakteur der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“ in Berlin, aber seine Wurzeln liegen im Ruhrgebiet: geboren in Herdecke wuchs er in Witten auf und wohnte und studierte später in Bochum. Langjährige Leser dieses Blogs werden sich daran erinnern, dass er in den Anfangstagen auch zum Autorenkreis der Ruhrbarone gehörte.
In seinem Buch beschreibt er, wie es war, in Deutschland aufzuwachsen.
Seine Mutter stammt aus dem Iran und floh vor dem Antisemitismus dort noch zu Schahzeiten. Deutschland hielten nicht wenige iranische Juden nach der Shoah für ein sicheres Land. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass hier der Antisemitismus noch einmal an Bedeutung gewinnen würde.
Philipp Peyman Engel war Jude und halber Iraner: „Wir waren anders als alle Nachbarn: Unsere Haare waren schwarz, wir hatten zum Teil ausländische Namen, meine Mutter war alleinerziehend, das passte nicht ins Bild. Für die Wittener waren wir »Kanaken«.“ Dass sie jüdisch waren, wusste allerdings anfangs niemand.
Seine Freunde waren Muslime. Ömer, bis heute sein bester Freund, und Montu Shan, ein Junge mit indischen Wurzeln, der Judenwitze erzählte, nachdem er mitbekommen hatte, dass Engel Jude war.
Engel weiß, wie es ist, als Südländer und als Jude angegriffen zu werden: „Es ist diese unerträgliche Dreifaltigkeit, die mich erschüttert: Extreme Rechte, etablierte Politiker der großen Parteien und postkoloniale Linke würden sich niemals in einem Restaurant verabreden. Das scheitert schon an der Wahl der Lokalität. Eisbein mit Sauerkraut, toskanischer Hähnchenauflauf oder veganer Seitan? Wenn es aber um Israel und die Juden geht, sind sich plötzlich alle handelseinig – und nehmen ihre »Follower« mit.“
Engel erklärt von den Wurzeln des Hasses, der in der Linken vor allem seit dem Aufstieg des Postkolonialismus immer stärker zu einer Leitidee wurde, so, wie die nationalsozialistische Propaganda über Auslandssender in den 30er und 40er Jahren den im Islam immer vorhandenen Antisemitismus auf eine neue Stufe hob und sich nun eine Allianz des Hasses gebildet hat. Interviews mit Wissenschaftlern, ausführliche Literaturrecherche – das Buch klärt auf und gibt zahlreiche Hinweise zur eigenen Lektüre und Recherche.
Die Massaker in Israel im Oktober führten nicht dazu, dass sich in Deutschland und anderen Länder des Westens die Gesellschaften hinter die Juden stellten, die ein Teil von ihnen waren und sind. Die angebliche „Wiedergutwerdung“ der Deutschen, für den Chefredakteur der „Jüdischen Allgemeinen“ ist sie nur eine Lebenslüge: „Wer in Sonntagsreden »Nie wieder!« und »Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz« fordert, politische Konsequenzen aber meidet, der hat in Wahrheit zum Antisemitismus in Deutschland geschwiegen. Doch über diesen Antisemitismus in Deutschland muss endlich offen gesprochen werden.“
Und dieser Antisemitismus geht zu einem großen Teil von Muslimen aus, wie sein Freund Arye Shalicar, geboren in Göttingen, aufgewachsen im Berliner Wedding, seit 20 Jahren in Israel lebend, heute Major der israelischen Armee und wie Engel mit iranischen Wurzeln, ihm erklärt: »Wir sind jetzt eine und eine halbe Generation weiter. Die Kids, mit denen ich aufgewachsen bin, waren keine radikalen Islamisten.“ Sie seien einfache arabische und muslimische Jugendliche gewesen, die so wenig hatten wie er. Heute sei die Situation eine andere: „In den letzten 20 Jahren hat sich in Deutschland ein radikaler Islamismus breitgemacht, auch durch Leute wie Pierre Vogel und andere, die sich teilweise an radikalislamistischen Organisationen wie dem Islamischen Staat oder der Hamas orientieren. Das hat nicht nur die Haltung gegenüber Juden radikalisiert, sondern auch dazu, wie sich Frauen zu verhalten haben. Freizügige Frauen, Christen, Schweinefleischesser, Schwule und Lesben und überhaupt ein freies westliches Wertesystem – das sehen sie als Beleidigung an, obwohl sie auf deutschem Boden leben.“
Philipp Peyman Engel, der in seinem Buch ausführlich auf die rechtsradikale Bedrohung eingeht, will, dass endlich auch offen über die Gefährdung von Juden gesprochen wird, die von Muslimen ausgeht. „Aus Angst, als »rechts« dazustehen, wurde das Problem lieber verschwiegen. Eine deutsche Lebenslüge, die zynischerweise die rechtsextreme AfD gestärkt hat, weil sie lange Zeit als einzige Partei dieses Problem thematisiert hat. Ausgerechnet. Mit dem Ergebnis, dass sich nun alle Milieus radikalisieren.“
Dass sich nun Linke mit Islamisten zusammentun, was nach dem 7. Oktober keiner mehr ignorieren konnte, auch diejenigen nicht, die es bislang nicht sehen wollten, und übrigens etwas ist, das in Nazikreisen übrigens seit Jahrzehnten üblich ist, macht Deutschland zu einem immer gefährlichen Ort für Juden:
„Es ist eine unheilige Allianz: Die postkoloniale Linke verschwistert sich mit antisemitischen muslimischen Migranten.“ Völlig unverblümt teile man den Judenhass: „Es ist klassischer Antisemitismus in neuen Gewändern, und er hat katastrophale Folgen.“ In Berlin wurden Davidsterne an Häuser und Wohnungen geschmiert, in denen Jüdinnen und Juden leben, die Israelitische Kultusgemeinde München bat die Redaktion, die »Jüdische Allgemeine« nur noch in neutralen Umschlägen an ihre Mitglieder zu verschicken und die ersten jüdischen Familien ziehen weg aus Neukölln. Dort seien die Judenmorde in Israel als Sieg der Muslime gefeiert worden. Man teilte Baklava auf der Straße aus.
Engel ist verbittert, wütend und er macht sich Sorgen. Er ist ein deutscher Jude, es ist sein Land. Wem das nicht passt, dem rät er, die Koffer zu packen und wegzugehen: „Ich werde kämpfen. Ich möchte und werde mich nicht von einem antisemitischen Mob tyrannisieren lassen. Deutschland ist ein gutes Land, trotz allem. Mit vielen großartigen Menschen. Aber eine Gesellschaft, die dem Antisemitismus Spielraum lässt, taumelt in den Abgrund. Deutschland hat die Wahl.“
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Transparenzhinweis: Der Autor ist freier Mitarbeiter der Jüdischen Allgemeinen