Jüdische Erinnerungskultur in Argentinien: Wenn es Volunteers nicht gäbe

Volunteer Artur Fischer im Holocaust Museum Buenos Aires, Foto: Anna Maria Loffredo

Buenos Aires riecht tropisch feucht nach Tango und Asado Feuer. Ein idealer Ort, um an Karneval alles hinter sich und die Füße im Rooftop-Pool baumeln zu lassen. Einfach mal nix tun, leichter gesagt als getan, denn freiwilliges Engagement findet mich immer wieder. Kurz vor Abreise gibt es den entscheidenden Grund, mich doch wieder für Ruhrbarone-Blog an die Tasten zu begeben. Ich treffe im Holocaust Museum Buenos Aires auf Artur Fischer, ein Volunteer, der an dem Tag einen hoffnungsvollen Unterschied macht, für mein Mutterland und für das, in dem ich zu Gast bin. Eine Reisereportage von Volunteer zu Volunteer.

Während in der Jüdischen Allgemeinen der Umgang deutscher Leitmedien mit dem erschütternden Schicksal der Familie Bibas – zu Recht von Peyman Engel – kritisiert wird, hatte der argentinische Präsident Javier Milei längst zwei Tage Staatstrauer angeordnet. Das zehn Monate alte Baby Kfir und dessen vierjähriger Bruder Ariel, brutal von der Hamas und ihren palästinensischen Helfershelfern mit bloßen Händen ermordet, waren nicht nur deutsche Staatsangehörige, sondern hatten auch argentinisch-peruanische Wurzeln über ihren Vater Yarden. Immerhin ordnete Kai Wegner die Beleuchtung des Brandenburger Tors in Orange an, strahlend hell wie der unverwechselbare Ginger-Schopf der jüngsten Geiseln.

Bei Reisestart in der argentinischen Metropole bahnte sich dieser Bericht latent an. Keine dreißig Minuten nach Ankunft am Plaza de Mayo begegne ich im Treiben von San Telmo einem joggenden Juden, mit Kippa und Zizitquasten um die Shorts. Im Vergleich dazu schoss mir mein letzter Besuch in Neukölln durch den Kopf. Nie zuvor hatte ich unter Polizeischutz einen Gin Tonic trinken müssen, in einer stinknormalen Eckkneipe. Das Bajszel, eine israelsolidarische Schenke mit österreichischer Raucherzone, die größer als der Thekenraum ist, muss neuerdings wie auch jede Synagoge in Köln oder Berlin-Mitte bewacht bzw. beschützt werden. Ich halte ob des Zufalls kurz inne und fokussiere mich auf nichts denken, nichts tun, nichts aktivieren, nur entschleunigen bitte.

Zwei Tage später treffe ich im vitalen Viertel Palermo wieder eine jüdische Familie. Täuscht mich simple Empirie oder sehe ich eine gelebte Diversität, die historisch gewachsen ist? In Berlin hingegen treffe ich wöchentlich nur Männer mit schlecht lackierten schwarzen Fingernägeln und Queers for Palestine-Buttons als Hängeohrring.

Kulturelle Vielfalt ist ein zentrales Element der argentinischen Identität. Die jüdische Diaspora entstand weit vor der Fluchtbewegung aus Nazi-Deutschland. Ende des 19. Jahrhunderts, als Juden vor Pogromen in Osteuropa, insbesondere im Russischen Reich, flohen, lebten etwa 10.000 Juden im Land. Bis zum Ersten Weltkrieg verzehnfachte sich ihr Bevölkerungsanteil. Heute leben gut ein Drittel mehr Juden in Argentinien als in Deutschland.

Daher ist Argentinien das einzige Land in Lateinamerika mit einem Museum, das sich ausschließlich der Geschichte des Holocaust widmet. Das bemerke ich bei meinen drei Anläufen, in das Holocaust Museum zu gelangen. Bei jedem Versuch treffe ich vor dem Gebäude auf Touristen aus Brasilien, Idoha in den USA oder Chile. Erst ist Shabbat, dann durchkreuzen monsunartige Regenfälle im Mateparadies meine Besuchspläne, direkt danach sind es Nationalfeiertage. An meinem letzten Tag vor Abflug bei gefühlt 39 Grad feuchttropischer Hitze ist die Begegnung mit Artur Fischer mein letzter Eindruck an eine mir besonders zugewandte Großstadt, die in mehrfacher Hinsicht mit der deutschen Vergangenheit verwoben ist.

Eingangsbereich im Holocaust Museum Buenos Aires, Foto: Anna Maria Loffredo

Die elegante Architektur reiht sich im Herzen der Stadt zurückhaltend in einer Einbahnstaße ein, der Calle Montevideo, glatt könnte man das Holocaust Museum übersehen. Es wird von dem Direktor Jonathan Karszenbaum geleitet. Hinter dem Eisentor steht man sofort auf einer unebenen Kopfsteinplasterstraße und blickt auf das Eingangstor von Auschwitz, das auf einer Schiebetür erscheint und den Weg in das Innere des Hauses ebnet.

Profiling zur Ergreifung Eichmanns im Holocaust Museum Buenos Aires, Foto: Anna Maria Loffredo

Argentinien hat eine enge Verbindung zum Holocaust, vor allem zur Aufarbeitung danach, obwohl es sich während des Zweiten Weltkrieges als neutral deklarierte. Nach der Kapitulation der Wehrmacht durch die Alliierten ermöglichte die sog. „Rattenlinie“ NS-Verbrechern auch die Flucht, flankiert von „Ablasszertifikaten“ aus dem Vatikan. Täter wie Adolf Eichmann fanden samt ihren Familien unter der lateinamerikanischen Sonne ein zweites Zuhause. Hinter dem Decknamen Ricardo Klement entkam Eichmann schamlos der Verantwortung für seinen maßgeblichen Anteil an der massenhaften Vernichtung von Millionen von Juden, bis ihn der israelische Geheimdienst Mossad in einer spektakulären Recherche nach Tel Aviv vor Gericht brachte. Das Holocaust Museum Buenos Aires zeigt auf der oberen Etage ausführlich den legendären Einsatz von Fritz Bauer bei der Ergreifung, selbst Holocaust-Überlebender und Generalstaatsanwalt des Frankfurter Auschwitz-Prozesses.

Schalke in Buenos Aires, Ausstellungsansicht zu der Rolle des Fußballs im Nationalsozialismus, Foto: Anna Maria Loffredo

„Möchten Sie vielleicht noch unsere Sonderausstellung sehen? Wir zeigen sie gegenüber in einem separaten Raum“, werde ich kurz vor 18 Uhr gefragt, als ich aus Respekt vor dem verdienten Feierabend für das Museumspersonal gedanklich schon auf dem Heimweg war. „Míra, una alemana“ führt mich die aufmerksame Mitarbeiterin bei dem Tourguide ein. Artur Fischer strahlt: „Ich komme aus Gütersloh, sagt Dir das was?“ Ich lache: „Wahnsinn, Hauptsache Du bist nun hier. Bin gespannt, es ist nicht leicht, mich zu führen, ich war mal Lehrerin.“

Nach Arturs ersten fünf Sätzen weiß ich, das ist meine nächste Ruhrbarone Story. Dieser junge Mann hat eine seltene Haltung, rein, ehrlich, menschlich. Didaktisch geschickt steuert mich Artur zielgenau zu den Fallbeispielen der Ausstellung, um auf meinen Wissensvoraussetzungen aufzubauen und einen Mehrwert aufzuzeigen. Wir nutzen immer wieder zwischen den Sachinformationen pro Station den Austausch persönlicher Erfahrungen und Prägungen im Rundgang.

Artur spricht fünf Sprachen und der junge Mann aus Westfalen hat nach drei Jahren in Argentinien schon einen leichten einheimischen Akzent im Hochdeutsch. Hier und da fehlen ihm manchmal die passenden Übersetzungen zwischen Spanisch und Englisch, Russisch, eine seiner Erstsprachen, und Rumänisch, was nicht untypisch für Menschen ist, die vielsprachig eine lange Zeit fernab der „Heimat“ leben. Vermittlung ist sein Element, ist mein Element, gemeinsam finden wir die richtigen Worte, um nicht nur der Sache, sondern den konkreten dargestellten Menschen, die Zeugen Jehovas waren, posthum gerecht zu werden, während wir uns ihren persönlichen Geschichten zuwenden.

Schautafel: Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern, Foto: Anna Maria Loffredo

Warum wurden nämlich auch Zeugen Jehovas zur Zielscheibe der Nationalsozialisten? Diese verhältnismäßig kleine Gruppe wurde ein eigenes Erkennungszeichen in den Konzentrationslagern zugeteilt. Statt Judenstern waren sie als „Staatsfeinde“ dazu verpflichtet, ein violettes umgedrehtes Dreieck zu tragen, worauf der Titel der Sonderausstellung „Triángulos púrpuras – una historía de coraje y resiliencia“ hinweist.

Ihre religiöse Überzeugung, die unter anderem die Verweigerung des Hitlergrußes, der Kleidung wie die der Hitlerjugend, des Wehrdienstes und der Teilnahme an NS-Organisationen beinhaltete, machte sie zu einer der ersten Gruppen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Noch bevor Hitler an die Macht kam, wurden eigene Hefte und Flugblätter redaktionell angefertigt und in der Öffentlichkeit verteilt, um auf die Gefahren einer nationalsozialistischen Herrschaft hinzuweisen.

Ein hoch engagierter Zeuge Jehova war dabei Erich Frost, der in Sachsenhausen inhaftiert war, aber nie aufhörte, sich der NS-Doktrin zu widersetzen. Er fertigte zusätzlich Musikstücke, Gemälde und Zeichnungen an, um anschaulich an die Courage in der Zivilgesellschaft zu appellieren, von denen einige auch in der Ausstellung zu sehen sind.

Guides in der Sonderausstellung mit einem Besucher aus dem Norden Chiles vor den Bildprojektionen von Erich Frost, Foto: Anna Maria Loffredo

Besonders nahe geht mir die exemplarische Geschichte von Simone Arnold, einem damals 12jährigen Mädchen, das wie Hunderte anderer Kinder ihren Eltern entzogen, in eine NS-Erziehungsanstalt, sog. Umerziehungsheime, interniert und zu Zwangsarbeit verpflichtet wurde. Auch sie hat sich nie brechen lassen, bleibt standhaft und setzt sich bis heute als Zeitzeugin in Videokonferenzen mit Schulklassen dafür ein, auf die Schicksale dieser Kinder während der Shoa hinzuweisen. 2023 wurde Simone Arnold für ihren Einsatz mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, die in Aix-les-Bains im französischen Savoyen lebt.

Ausstellungsansicht von Kindern, die in NS-Erziehungsanstalten interniert wurden, Foto: Anna Maria Loffredo

Bei meiner Bestandaufnahme über jüdische Kultur in Buenos Aires kann ich weder die argentinische Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 herrschte, noch den aufkeimenden Antisemitismus des linken Lagers in Gänze auffächern. Vielmehr möchte ich den Teil von Erinnerungsarbeit würdigen, wie er mir mit Artur Fischer als bester Botschafter unseres Landes im Holocaust Museum begegnet. Irgendwann im Verlauf der Führung frage ich ihn: „Bist Du eigentlich Jude?“ Er verneint, gleiches tue ich.

„Woher weißt Du das alles? Hast Du Geschichte studiert?“ In schönster Bescheidenheit erklärt Artur, dass er nicht so gebildet wie ich sei – wie auch immer er darauf in unserer kurzen Begegnung kommt. Er sei nur ein normaler junger Mann, der eine Ausbildung im Vertrieb, im Maschinenbaubereich, gemacht habe, nichts Besonderes, schiebt er nach. Tief beeindruckt von Arturs Uneigennützigkeit als Freiwilliger in der Vermittlungsarbeit über das dunkelste Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte als Deutsche – und als „kulturelle Mischlinge“ – frage ich ihn: „Wie schaffst Du das, mit den verschiedenen Kulturen deinen Kompass zu haben, warum du das tust, was du tust?“

Artur zögert, zum ersten Mal fehlen ihm die Worte. „Hat Dir noch nie jemand die Frage gestellt?“ „Ja, ich bin gerad etwas überfordert. … Ich denke, es ist manchmal eine Herausforderung, um sich anzupassen, aber gleichzeitig ist es für mich auch etwas Wertvolles, über andere Kulturen zu lernen und das Positive aus all diesen Kulturen zu verbinden. Das ist der Schlüssel, dass man gegenseitig voneinander lernt und Respekt zeigt, jetzt mit dieser Geschichte der Ausstellung nicht meint, dass seine Kultur, seine Mentalität oder Denkweise immer die Richtige ist, sondern genau das hat mir mal geholfen, von jedem etwas zu nehmen und dann in die eigene Persönlichkeit und Eigenschaften zu integrieren.“

„Was treibt dich an, dass Du hier im Holocaust Museum in Buenos Aires Volunteer bist?“ Aus Artur spricht nichts als authentisch tiefe Demut: „Ich habe diese Chance bekommen als freiwilliger Mitarbeiter hier zu arbeiten. Für mich ist es sehr wichtig, dass diese Geschichte erzählt wird. Es ist nicht eine Geschichte, es sind viele kleinere Geschichten natürlich, die hier verbunden werden und für mich ist es auch eine Ehre die Geschichten dieser Menschen, die nicht mehr existieren, die nicht mehr leben, weiter zu erzählen, dass das nicht verloren geht, und auch die Lehre, die man daraus ziehen kann.“

Zachor!

Bring Them Home – Now! Patio im Holocaust Museum Buenos Aires, Foto: Anna Maria Loffredo

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