Jüdische Gemeinde Dortmund: Erschütterung über Verhalten der Staatsanwaltschaft

Zvi Rappoport, Vorstand der Jüdischen Gemeinde (Archiv) Foto: Dortmund-Agentur / Stefanie Kleemann Lizenz: Copyright

Am gestrigen Sonntag hielt Zwi Rappoport, der Vorstand der Jüdischen Gemeinde Dortmund, in der Dortmunder Oper eine Rede zur Pogromnacht. Wir dokumentieren sie:

Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Jörder,
sehr geehrter Herr Rabbiner Babaev,
verehrte Gäste,
liebe Gemeindemitglieder,

wir gedenken heute der Pogromnacht vom 09. auf den 10. November 1938, als sich in Deutschland der Hass gegen die Juden ungehemmt und für alle sichtbar austoben konnte. Über 800 Juden wurden in dieser Nacht und an den folgenden Tagen ermordet; tausende Synagogen wurden in Brand gesetzt und zerstört; jüdische Friedhöfe wurden geschändet; Geschäfte und Wohnungen verwüstet. Die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht waren ein unübersehbares Vorzeichen für den wenige Jahre später durchgeführten industriellen Massenmord an den Juden.

Heute, nur zwei Generationen nach dem Holocaust, sind Juden in Deutschland und in der Welt aufs Neue wachsendem Antisemitismus ausgesetzt und wieder Ziele von Übergriffen: Juden werden auf offener Straße attackiert, Synagogen angegriffen und jüdische Friedhöfe geschändet. „Du Jude“ – das ist vielfach ein Schimpfwort – in der Schule und auf dem Fußballplatz. Hass und hemmungslose Hetze wird im Internet nicht nur von Extremisten, sondern auch von Menschen aus der sog. Mitte der Gesellschaft verbreitet. Die AfD findet enorme Zustimmung, auch dort, wo sie unverhohlen rechtsextrem und antisemitisch ist.

Eine jüngst veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 27 Prozent der Deutschen antisemitische Ressentiments hegen. „Juden haben im Geschäftsleben zu viel Macht.“, „Juden haben in der Weltpolitik zu viel Macht.“ Mehr als ein Viertel der Befragten stimmen solchen antisemitischen Klischees zu. „Juden sprechen zu viel über den Holocaust“, meinen gar 41 Prozent. „Juden verhalten sich loyaler gegenüber Israel als zu Deutschland“, äußern fast die Hälfte der Befragten. Die Studie belegt, dass antisemitisches Gedankengut in weiten Teilen unserer Gesellschaft Zustimmung findet.

Es stellt sich die Frage, wie sich Antisemitismus und rechtsextreme Ideologie sieben Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus derart verbreiten konnte. Der diesjährige Preisträger des Georg-Büchner-Preises, der Schweizer Autor Lukas Bärfuss, hat in seiner Dankesrede eine Antwort auf diese brennende Frage gegeben. Die Nazis und ihr Gedankengut seien nicht plötzlich wieder da. Vielmehr seien sie nie weg gewesen. Eine wirkliche Entnazifizierung habe nicht stattgefunden.

Die NSDAP habe im Mai 1945 7,5 Millionen Mitglieder gehabt. Aber vor deutschen Gerichten sei es nur zu 6.500 Urteilen gegen Nazis gekommen. Von 1.000 Parteimitgliedern seien also 999 ganz ohne Strafe geblieben. In der Armee, in der Erziehung, in der Kunst, in der Politik, hätten sie sich „nützlich gemacht“. Keine Staatsämter, auch nicht die höchsten, seien den Nazis verwehrt worden.

Diese schonungslose Analyse, wonach die Kontinuität der nationalsozialistischen Eliten nach 1945 ungebrochen war, mag man in ihrer Radikalität in Frage stellen. Jedenfalls muss angesichts der besorgniserregenden Entwicklung bezweifelt werden, dass die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit wirklich gelungen ist. Offensichtlich waren manche erzielten Fortschritte – allen Anstrengungen der demokratischen Kräfte zum Trotz – nicht so nachhaltig, wie viele von uns dachten. Denn die deutschen Juden befinden sich heute wieder im Visier unterschiedlicher antisemitischer Kräfte.

Auf der einen Seite gibt es den traditionellen Antisemitismus, der „die Juden“ für alles in der Welt verantwortlich macht. Dies ist der Hass, der den Attentäter von Halle dazu antrieb, betende Menschen am heiligsten jüdischen Feiertag zu ermorden. In seinem im Netz veröffentlichten rassistischen Bekenntnis, hetzte er gegen Feminismus, Homosexualität und Migration und machte für all dies „die Juden“ verantwortlich. Seine Wahnidee: Juden wollen die „weiße Rasse“ durch Unterstützung von Feminismus und Homosexualität zum Aussterben bringen und durch Förderung von Masseneinwanderung „umvolken“. Solche – tausendfach im Netz kursierenden – Verschwörungstheorien, haben zwei Menschen in Halle das Leben gekostet.

Auf der anderen Seite sehen sich die Juden einem radikal-muslimischen Antizionismus gegenüber, der in vielen Bereichen mit dem traditionellen Antizionismus der extremen Linken übereinstimmt. Dieser Antisemitismus im Gewand des Antizionismus fördert Hass gegen Israel und die Juden. Kein Wunder, dass die Neonazis unter der Führung der Kleinstpartei „Die Rechte“ diesen maskierten Judenhass dankbar aufnehmen und mit Hetzparolen wie „Nie wieder Israel“ oder „Palästina hilf uns doch, Israel gibt’s immer noch“ regelmäßig durch Dortmund marschieren.

Die jüdische Gemeinschaft in Dortmund weiß es durchaus zu schätzen, dass sowohl die Stadt als auch die Polizei konsequent gegen die Neonazis vorgehen.

Herr Polizeipräsident Lange und Herr Oberbürgermeister Sierau sind im besonderen Maße engagiert im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und für Toleranz und Vielfalt in unserer Stadt. Beide versuchen mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Umtriebe der Neonazis zu stoppen und deren Handlungsspielraum einzuschränken.

Unser Vertrauen in den Rechtsstaat wird aber nachhaltig erschüttert, wenn die Aufmärsche der Rechtsextremen und ihre antisemitischen Hetzparolen regelmäßig – unter Hinweis auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit – genehmigt werden. So hob das Oberverwaltungsgericht Münster das Verbot der Dortmunder Polizei auf, bei einer Demonstration von Rechtsextremen „Nie wieder Israel“ zu skandieren.

Das Verwaltungsgericht Minden hob die Verbotsverfügung der Bielefelder Polizei gegen den – ausgerechnet – für den 9. November geplanten Aufmarsch der Neonazis auf, mit dem der Geburtstag der verurteilten Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck gewürdigt und deren Freilassung gefordert wurde. Die Begründung des Gerichts: Der Zweck der Demonstration stehe nicht im Gegensatz zum Gedenktag.

Damit befeuert der genehmigte Aufmarsch die Leugnung gerade des Teils der deutschen Geschichte, dessen Anfang durch die Reichspogromnacht markiert ist. Und dann ist da noch das bei er Europawahl von der Partei „Die Rechte“ aufgestellte Plakat: „Zionismus stoppen. Israel ist unser Unglück – Schluss damit!“

Das Oberverwaltungsgericht Münster hat hierzu dankenswerterweise einen Beschluss erlassen, der an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig lässt und die antisemitische Codierung des Plakats entlarvt. Ich zitiere wörtlich: „In einer Zusammenschau mit der Wendung ‚Israel ist unser Unglück‘ spielt der Begriff des Zionismus auf den Topos einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘ an. Dies zeigt sich auch daran, dass die Formulierung ‚Israel ist unser Unglück‘ als eine bloße Abwandlung der in der NS-Zeit propagierten Hassparole ‚Juden sind unser Unglück‘ erscheint. Damit dürfte es sich nicht lediglich um eine Kritik am Staat Israel und dessen Politik handeln, sondern um eine gegen die jüdische Bevölkerung als solche gerichtete Aussage.“

Trotz Kenntnis dieses Beschlusses war weder die Dortmunder Staatsanwaltschaft noch die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm bereit, ihrerseits die antisemitische Codierung des Plakats zu hinterfragen und weigerte sich, strafrechtliche Ermittlungen überhaupt einzuleiten.

Begründung: Es sei ja auch eine andere Deutung des Plakats denkbar!

Das hat uns erschüttert.

Dieses ignorante Verhalten von Teilen der Justiz halten wir – übrigens genauso wie das beschämende Urteil gegen Frau Künast – für untragbar.

Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, ein Freibrief für Antisemiten und Hassprediger darf sie nicht sein. Letztendlich geht es um die Frage, in welcher Gesellschaft wir zukünftig eigentlich leben wollen.

Eines muss sich jeder von uns spätestens jetzt vor Augen führen: Deutschland wäre kein freies, demokratisches Land mehr, könnten wir Juden und andere religiöse Minderheiten hier nicht mehr als freie Bürger leben.

Die Jüdische Gemeinschaft in Dortmund hat nach dem Anschlag in Halle viel Solidarität erfahren – nicht nur von der Politik, sondern auch von einzelnen Bürgern. Die Solidaritätsbekundungen und die zahlreichen Demonstrationen gegen die Neonazi-Aufmärsche haben uns gezeigt, dass wir nicht alleine stehen, und uns das Gefühl gegeben, dass die Jüdische Gemeinde in Dortmund ein wichtiger Teil der demokratischen Zivilgesellschaft ist.

Abschließend möchte ich Ihnen einen von mehreren Briefen der Klasse 7c des Goethe-Gymnasiums vorlesen. Die Lehrerin Frau Schwenke hat uns die Briefe übersandt, die uns bewegt und ermutigt haben. Sie zeigen, wie wichtig Bildung und Erziehung, aber auch Empathie für den Erhalt unserer Grundwerte sind.

Sehr gehrte jüdische Gemeinde Dortmund,

in unserem Religionsunterricht haben wir eine lange Zeit viel über das Judentum gelernt. Umso schockierter waren wir als wir von dem antisemitischen Angriff auf die Synagoge gehört haben. Wir wollten mitteilen, dass wir diese politischen Ansichten mit niemandem teilen und dass wir sehr traurig bezüglich dieses Ereignisses sind. Wir denken, dass wir längst aus der Geschichte gelernt haben sollten. So etwas darf nie wieder passieren! Um ein Zeichen zu setzen, wollten wir daher in diesem Brief unser Mitgefühl zum Ausdruck bringen und unser herzliches Beileid bezüglich des Vorfalls aussprechen.

Shalom!

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ke
ke
5 Jahre zuvor

Das Verhalten der Staatsanwaltschaften ist auch für mich nicht nachvollziehbar. Es wird nur noch durch die Berline Staatsanwaltschaft in den ersten Aktionen bzgl. des Eindringens in einer Synagoge getoppt.
https://www.bz-berlin.de/berlin/mitte/die-spaete-einsicht-der-berliner-behoerden-nach-angriff-auf-synagoge

Gerd
Gerd
5 Jahre zuvor

Am sonderbarsten ist das Verhalten der Jüdischen Gemeinde Dortmund: "Auf der anderen Seite sehen sich die Juden einem radikal-muslimischen Antizionismus"

Wenn selbst die Opfer von Antisemitismus diesen als bloßen Antizionismus verharmlosen ist Hopen und Malz verloren.

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