Bei den Konflikten um Wokeness, Identitätspolitik und dem Klassenkampf von oben des grünen Adels ist Großbritannien Deutschland zum Teil ein paar Jahre voraus. Die britische Journalistin Julie Burchill hat sich des Themas in ihrem nun auf Deutsch erschienen Buch „Willkommen bei den Woke-Tribunalen“ angenommen und eine Abrechnung mit dem Wokegrünen-Milieu verfasst, das die Gesellschaft spaltet und dabei ist, in Jahrzehnten erreichte Fortschritte zu ruinieren.
Julie Burchill stammt aus der Arbeiterklasse und wuchs in Bristol auf. Ihr Vater arbeitete in einer Destillerie, war Gewerkschaftsagitator und starb an den Folgen der langsamen Vergiftung durch Asbest. Ihre Mutter war Arbeiterin in einer Kartonfabrik. Mit 17 brach Burchill die Schule ab und bewarb sich beim New Musical Express (NME), der damals wichtigsten Musikzeitschrift der Welt, auf eine Anzeige, in der ein „hipper, junger Revolverheld“ gesucht wurde. Die Stelle bekam sie nicht, doch Redakteurin beim NME wurde sie trotzdem: Das Blatt brauchte 1976 jemanden, der sich um diese ganzen neuen komischen Punkbands kümmerte, mit denen die Redaktionshippies nichts anfangen konnten. Burchill schrieb über die Sex Pistols, The Clash und die Stranglers, obwohl sie deren Musik nicht mochte. Sie bevorzugt bis heute schwarze Musik. 1979 war es mit ihr und dem NME dann zu Ende. In den folgenden mehr als 40 Jahren schrieb sie über Politik, Pop und Gesellschaft für alle Medien, die in Großbritannien Rang und Namen haben: The Face, The Guardian, The Spectator, Spiked und viele andere. Sie hat Romane wie „Die Waffen der Susan Street“ und „Die Männer der Maria V.“ geschrieben, eine Diana Biografie und mehrere Essaybände veröffentlicht.
Burchill ist seit ihrer Jugend Feministin, hat die längste Zeit ihres Lebens Labour gewählt und schreibt elegant und mit viel Humor. Dabei sind ihre Texte so machtvoll und hart wie eine Bomberstaffel der Royal Air Force. Einem Streit ging sie noch nie aus dem Weg, wenn ihr das Thema wichtig war. Im Gegenteil: Mit all ihrer Klugheit und der Schärfe ihrer Worte stürzt sie sich ohne Rücksicht auf Verluste in Auseinandersetzungen.
Ihr nun in der Edition-Tiamat erschienenes Buch „Willkommen bei den Woke-Tribunalen“ ist nicht nur eine Abrechnung mit allem, was grün und woke ist, sondern zeigt, was auf uns in Deutschland zukommen könnte: Wer die bald auch hierzulande in Gesetzesform gegossene Legende kritisiert, es gäbe Frauen mit Penissen, muss in Großbritannien wegen einer Hasstat mit einem Anruf der Polizei rechnen. Aus kultureller Rücksichtnahme wurde unter anderem in Nottingham islamischer Vergewaltiger jahrelang nicht verfolgt. Menschen aus der Arbeiterklasse und alles, was ihnen wichtig ist, ihre Ansichten und Gewohnheiten, werden systematisch in der Öffentlichkeit abgewertet, während Tätigkeiten wie Prostitution als Chance zum „Empowerment“ angesehen werden. Vaginas gelten im ideologischen Wahn als „Bonus-Löcher“, weil sie ja angeblich kein weibliches Geschlechtsorgan sind. Die einst beliebte TV-Sendungen Fawlty Towers mit John Cleese, die Folge „Don´t Mention the War“, in der Cleese auf deutsche Touristen trifft, ist auch in Deutschland bekannt, wurde als rassistisch gebrandmarkt und eine Feministin wie die Harry Potter-Schöpferin C. K. Rowling zum Opfer einer Hexenjagd, weil sie dem Mantra, das Transfrauen Frauen sind, nicht folgen will. Vor die Woke-Tribunale wurden schon viele geschleift.
Die Transideologie sieht Burchill als Teil eines Angriffs von Männern mit „schlechten Perücken“ auf Frauen und ihre Rechte. Sie sollen in Kämpfen erstrittene Freiheiten aufgeben und verdrängt werden. Feministinnen werden gejagt und denunziert, vor allem wenn sie sich dem hippen Motto nicht beugen wollen, dass ein Mann eine Frau ist, wenn er sich selbst zu einer erklärt. Das alles macht Burchill wütend: „Wir können vielleicht nicht mit so vielen schönen großen Doktorhüten angeben wie ihr, aber wir haben ein ganzes Leben lang Menstruationsbeschwerden und sexuelle Belästigungen erlebt, und viele von uns blicken jetzt der Hormonersatztherapie und den Wechseljahren direkt ins Gesicht – und zucken immer noch nicht zurück. Glaubt mir, ihr werdet uns wirklich nicht mögen, wenn wir wütend sind.“
Burchill beschreibt die Verlogenheit des grünen Adels, der mit Privatjets zu Klimakonferenzen fliegt, aber allen anderen vorschreiben möchte, wie man zu leben hat: „Ökologie ist Politik für Leute, die keine Menschen mögen und sich darüber aufregen, dass die Massen jetzt die Freiheit haben, billig zu reisen, anstatt an einen Pflug gespannt zu sein oder ihre Wäsche in einem Bach zu waschen.“
Die grünwoke Bewegung ist für sie ein Angriff auf die Aufklärung und ein Versuch, die demokratischen und offenen Gesellschaften des Westens zu spalten, der alle erzielten Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte zu vernichten droht:
„Es ging alles so gut. Frauen, Homosexuelle und ethnische Minderheiten schienen sich – im Westen – unaufhaltsam den Menschen gleichzustellen, auf die Gleichstellung mit den Menschen zuzubewegen, die es schon immer besser zu wissen glaubten. Was im letzten Jahrhundert begonnen hatte, setzte sich im jetzigen nahtlos fort: Eine britische Premierministerin im Jahr 1979, ein schwarzer amerikanischer Präsident im Jahr 2009, mehr Schwule zur besten Sendezeit im Fernsehen, als unter einem Regenbogen Platz fänden – sie alle rissen die Barrieren Stück für Stück ein. Rechte Bigotten, die die alte Ordnung verteidigen, wirkten zunehmend lächerlich und verzweifelt. Und dann kam Woke und alles ging schief.“
Burchill geht nicht auf die theoretischen Hintergründe des grünwoken Denkens ein, das in vielen Büchern bereits dargelegt und kritisiert wurde, sondern konzentriert sich darauf, dessen Folgen im Alltag aufzuzeigen und das gelingt ihr dank hervorragender Recherche an vielen Stellen. Sie zeigt den Antisemitismus der Black Live Matter-Kampagne auf, die im Sommer 2020 mit ihren Demonstrationen das Bild in zahlreichen westlichen Städten prägte. Immer wieder betonten deren Aktivisten, die Empörung über die Ermordung von sechs Millionen Juden sei nur so groß, weil Juden Weiße seien. Natürlich haben die Protagonisten der Szene auch keine Probleme, gemeinsam mit Holocaust-Leugnern aufzutreten, wenn sie sich als Antirassisten geben.
Auch für Sozialdemokraten lohnt sich die Lektüre: Detailliert beschreibt die langjährige Labour-Wählerin den Niedergang der Partei, die längst, und daran ist sie der SPD ähnlich, die Stimmen der Arbeiterklasse verloren hat: Sie trauen einer bürgerlichen Labour-Party nicht, die fast schon einen Ekel vor Kontakt mit ihnen hat, sich als grünwoke Macht versteht und die Rechte der Frauen ignoriert, um sich an Transaktivisten heranzuschmeißen. In dieser Frage hat sich allerdings in den zwei Jahren nach Erscheinen des Buches etwas getan. Wenige Wochen bevor die SPD-Fraktion nach der Einigung des Ampelkabinetts über das Selbstbestimmungsgesetz auf X, dem ehemaligen Twitter, stolz postete „Trans* Frauen sind Frauen“, kündigte Anneliese Dodds, Labours Schattenstaatssekretärin für Frauen und Gleichstellung, am 24. Juli im Guardian in einem Gastbeitrag zur Reform des britischen Gesetzes zur Anerkennung des Geschlechts an: „Die Anforderung, eine medizinische Diagnose einer Geschlechtsdysphorie zu erhalten, bleibt ein wichtiger Bestandteil für den Zugang zu einem Zertifikat zur Anerkennung des Geschlechts.“ In Deutschland ist eine solche Diagnose bald nicht mehr nötig.
In Großbritannien ist der Klassenbegriff wesentlich wichtiger als in Deutschland, wo sich die von dem Soziologen Helmut Schelsky in den 50er-Jahren verbreitete Illusion der nivellierten Mittelstandsgesellschaft bis heute großer Beliebtheit erfreut. Mit so etwas muss man Burchill nicht kommen. Sie erkennt den Feind, auch wenn er nicht mehr hoch zu Ross, sondern auf einem Lastenfahrrad daherkommt: „Kurzum, Grün ist – wie Woke selbst – die erste gesellschaftspolitische Bewegung, in der jeder mindestens wohlhabend, wenn nicht steinreich ist. Wenn man die überprivilegierten Schwachköpfe von Extinction Rebellion über Wirtschaftswachstum reden hört, als ob es sich dabei um Kindesmissbrauch handle, spürt man echte Verachtung für Menschen, die glauben, es sei wünschenswert, einen Job zu haben, um Geld zu verdienen und die Steuern zu zahlen, die die Gesellschaft am Leben erhalten.“
Beim Lesen von „Willkommen bei den Woke-Tribunalen“ schwankt man zwischen Entsetzen und Wut. Natürlich ist das Buch hervorragend geschrieben. Es ist voller Humor, persönlicher Geschichten, Selbstkritik und oft sagenhaft bösartig. Niemand außer Julie Burchill hätte es schreiben können. Aber trotz allem ist es nicht pessimistisch. Am Ende belegt sie den wachsenden Widerstand gegen Wokegrün in Großbritannien anhand vieler Beispiele und das mehr als ein Jahr bevor in amerikanischen und britischen Zeitungen geschrieben wurde, dass nun der Peak Woke, der Höhepunkt des Wahnsinns, erreicht sei. Und so endet das Buch mit einem versöhnlichen und optimistischen Ausblick:
„Denn wir müssen nicht in einer atomisierten Welt leben, in der jeder Gedanke ein „ismus“ ist und jeder Mensch ein „ist“ und in der wir uns alle gegenseitig wütend anhupen, während wir unsere Zeit in der Sackgasse der Identitätspolitik totschlagen. Der menschliche Geist (ja, das alte Ding) könnte sich im letzten Augenblick erheben und wir aus unserer Schlafwandelei erwachen. Und dann werden wir denken: „Es war alles nur ein schrecklicher Traum“, während wir uns verwirrt umschauen, Fremde und gute Kameradinnen, die – gemeinsam – auf einem Felsbrocken durch den Weltraum sausen.“
Julie Burchill: Willkommen bei den Woke-Tribunalen
Edition Tiamat
Sich im seit fast 20 Jahren von radikalkonservativen Tories regierten UK von einem „grünwoken Adel“ unterdrückt zu fühlen ist eine sehr interessante Transferleistung.
@ trando
Danke für Ihr Gesumse. Sie haben sich weder die Mühe gemacht, den Artikel zu lesen noch haben Sie sonst irgendeine Ahnung, aber dafür geben Sie Ihre Meinung zum Besten. Sie finden, das muss reichen.
Genau um diese arrogante Klientel geht es im besprochenen Buch.
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/vw-kantine-das-currywurst-comeback-bewegt-deutschland-19134256.html
Das Pendel schwingt doch schon wieder in die andere Richtung.
Den Gegnsatz zwischen den Radikalkonservativen, die bei uns Grüne heißen, und woke sehe ich nicht. Da geht es doch nicht um Inhalte, da geht es um Ausgrenzung uA der unteren Schichten. Oder um das Gefühl der moralisch-politischen Überlegenheit. Interessant ist doch der zeitliche Zusammenhang des Verbreitens des Bio-Angebotes in Discountern und dem vermehrten Auftreten der Wokischisten: Früher reichte es zum Hipsein, Biovegetarier zu sein und Fritzcola oder Mate zu schlürfen, während man mit dem IPhone den Energieverbrauch hochtrieb. Jetzt, wo jeder Proll Bio bei Aldilidlnetto kauft, muß man schon mehr Aufwand betreiben: vegan essen (in der Öffentlichkeit), gendern, die ganzen Soliadressen an die diversen(sic!) Opfergruppen; an der eigenen Opferlegende arbeiten, die flüchtlingsfreie Schule für die eigene Brut suchen…
Ein Interview mit Mrs Burchill.
https://youtu.be/uQktUT_avj4?si=3SN6-zRrJBOHorI1
Schöner Artikel, danke! Ergänzend und erhellend dazu noch der außergewöhnlich gute Beitrag des Philosphen Dr. Alexander Grau im SWR: „Der neue woke Kapitalismus – Keine Heuchelei, es ist viel schlimmer.“ Sehr zu empfehlen.