Katastrophenschutz: „Wenn der Schnee schmilzt, siehst Du wo die Scheiße liegt.“

Wer frisst wen (c) K. Gercek

60 Mal unterhielten sich die Ruhrbarone über das Corona-Management mit Magnus Memmeler. Vom ausgewiesenen Kenner des „deutschen Katastrophenschutzes“ wollen wir nach der Flutkatastrophe wissen, was von den lautstark geführten Debatten zu halten ist. Heute wendet sich unser Interviewpartner dem grassierenden Populismus zu.

Ruhrbarone: Vier Wochen sind vergangen, seit durch Starkregen produzierte, reißende Flüsse und Bäche die unvorstellbaren Verwüstungen in NRW und Rheinland-Pfalz angerichtet haben. Für den Beobachter scheint es nicht wirklich vorwärts zu gehen. Woran liegt das?

Memmeler: In den Schadensgebieten ist es mit Aufräumen und neu Anstreichen nicht getan. Die bislang ehrlichste Antwort hat wohl Olaf Scholz gegeben, als er sagte, dass alles getan wird, was mit Geld zu regeln ist, denn darauf lässt es sich wirklich reduzieren. Auch nach vier Wochen geht es, eben wegen der unglaublichen Verwüstung, immer noch darum, eine provisorische Infrastruktur aufzubauen und die Versorgung sicher zu stellen.

Auch die Forderung, wir bräuchten jetzt, wie einst in Hamburg, einen Helmut Schmidt, der einfach macht, statt sich an bürokratische Vorgaben zu halten, erscheint momentan eher als naiver Traum, denn als allein heilender Lösungsansatz.  Kein Gutachter kann, Stand heute, sagen, ob und wenn ja wo ein Neuaufbau von zerstörten Häusern möglich sein wird. Wer will heute die Aussage treffen, wie nahe am Wasser ein Neuaufbau zukünftig möglich sein wird?

Seien wir doch einfach mal ehrlich zu uns selbst. Aktuell kann niemand eine realistische Einschätzung zu Umweltschäden abgeben, die zum Beispiel durch überflutete und weggerissene Öltanks entstanden sind. Allein die Entsorgung von kontaminiertem Müll, die Entsorgung von hunderten Autowracks und so weiter wird uns noch lange beschäftigen.

Die Schadensgebiete werden noch für viele Jahre eine Baustelle bleiben. Wer will auf welcher Rechtsgrundlage zum Beispiel Betroffenen ein Alternativgrundstück zusprechen, weil wahrscheinlich entschieden werden muss, dass das eigene Heim nicht mehr am ursprünglichen Standort aufgebaut werden darf?

 


Magnus Memmeler mit Maske Foto: Privat

Magnus Memmeler (53 Jahre) lebt in Kamen. Seit über 31 Jahren arbeitet er im Rettungsdienst und Katastrophenschutz. 25 Jahre davon hat er diverse Leitungsfunktionen eingenommen. Er war beauftragt zur Organisation des Sanitätsdienstes beim DEKT in Dortmund und Verantwortlicher einer großen Hilfsorganisation bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Jahren 2013 – 2018. Er war zudem Mitglied bei der Stabsarbeit von Bezirksregierungen und in Arbeitskreisen des Innenministeriums bei der Konzeption von Katastrophenschutz-konzepte

 

 


Es ist gut, dass Sonderbeauftragte berufen wurden, die nun beginnen müssen über die Erstmaßnahmen hinaus gehende Planungen anzustoßen und Rechtsgrundlagen zu prüfen. Für die nächsten Wochen und Monate wird es wohl noch darum gehen, Infrastruktur für Wasser-, Strom- und Gasversorgung zu ertüchtigen, denn auch in vermeintlich unbetroffenen Bereiche sind Betroffene, da dort Menschen in augenscheinlich unbeschädigten Häusern von der Versorgung mit Wasser, Strom und Gas abgeschnitten sind.

Auch wenn es unpopulär ist, gehört es zur Schadensbewältigung Wahrheiten auszusprechen, die weitere Enttäuschungen vermeiden helfen. Wenn den Menschen in den betroffenen Schadensregionen eine Perspektive gegeben werden soll, muss uns allen klar sein, dass es auch Härtefälle geben wird, da nicht alle Betroffenen über eine Elementarschadensversicherung verfügten.

Im Beitrag „Nach dem Hochwasser: Was wir aus den Katastrophen lernen können“  von Kommunal wird die Komplexität dessen relativ deutlich, was es nun zu erledigen gilt.

In Prävention investieren

Eine weitere Frage muss lauten, wie oft können wir noch Sondervermögen in Höhe von 30 Milliarden Euro bilden? Die Wahrscheinlichkeit, dass uns vergleichbare Schadensereignisse treffen werden, steigt stetig. Deshalb müssen wir zeitgleich mit dem Aufbau auch in Prävention investieren.

Bevölkerungsschutz heißt auch, dass wir die Eintrittswahrscheinlichkeit und die Auswirkungen von Schadensereignissen reduzieren müssen, wenn wir zukünftige Lagen beherrschbarer gestalten wollen. Das alles kostet neben viel Geld auch einfach mal Zeit.

Ruhrbarone: Was gibt es denn im Katastrophenschutz von Bund und Ländern aufzuarbeiten? Was beschäftigt Sie bei den sich überschlagenden Schlagzeilen am Meisten?

Memmeler: Was mich in der Tat am Meisten beschäftigt, ist der Populismus, mit dem von Bund, Ländern, Parteien und BBK über angeblich erkannte Lösungsansätze für die Zukunft gesprochen wird, bevor das aktuelle Ereignis hinreichend beleuchtet wurde.

Im Beitrag „„Eine Katastrophe mit Ansage“: Forschende analysieren Versäumnisse in der Flutkatastrophe“  hat das Redaktionsnetzwerk Deutschland recht gut eines unserer Grundprobleme herausgearbeitet. Zuständigkeiten und erforderliche Schnittstellendefinitionen in der Bundesrepublik sind eine Katastrophe. Das gilt leider auch für den Bevölkerungsschutz.

Anhand der durchaus vorhandenen Erkenntnisse und dennoch ausgebliebenen Warnungen wird in diesem Beitrag sehr schön verdeutlicht, dass es keine durchgängigen Informations- und Warnkaskaden gibt und wir auf Grund von miserabel geregelter Zuständigkeit im Katastrophenschutz nun die Schuld singulär bei Landräten suchen müssen, statt die Rolle der eigentlich übergeordneten Bund- und Länderressorts kritisch zu hinterfragen.

Allen, die Herrn Schuster und sein BBK nun als das kurzfristig verfügbare Universalheilmittel in den medialen Ring führen, möchte ich an dieser Stelle folgende Lageeinschätzungen des BBK nahe bringen. In ihrem täglichen Bericht an das Bundesinnenministerium meldete das BBK am 12. Juli, die Niederschläge würden „örtlich zu typischen Unwetterfolgen wie Ausuferungen von kleineren Fließgewässern und begrenzten Überschwemmungen führen. Vollgelaufene Keller, kleinere Erdrutsche und Verkehrsbehinderungen sind wahrscheinlich.“

Fazit des Lagezentrums:

„Mit einer länderübergreifenden Hochwasserlage wird nach derzeitiger Prognose nicht gerechnet.“

Am 14. Juli wurden die sozialen Medien Videos bereits von dramatischen Szenen aus Hagen geprägt. Fernsehreporter berichteten bereits live. An diesem Tag resümierte das BBK, dass „nicht mit einem länderübergreifenden und bevölkerungsschutzrelevanten Schadensereignis zu rechnen“ sei.

Bilanz der Gesamtlageeinschätzung am 14 Juli:

„Von einer großflächigen Hochwasserlage mit länderübergreifendem Koordinierungsbedarf wird derzeit nicht ausgegangen.“

Selbst als das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr zu übersehen war, berichtet das BBK in einer Sondereinschätzung am 15. Juli:

„Durch die Großflächigkeit der Ereignisse ist von überörtlichen Hilfeleistungen, ggf. auch länderübergreifend auszugehen.“ Zu diesem Zeitpunkt war die Bundeswehr bereits mit 230 Soldaten, 38 Radfahrzeugen und zwei Panzern zur Bergung in Hagen im Einsatz. Am Nachmittag des 15. Juli schrieb das Lagezentrum an die Bundesregierung: „ein länderübergreifendes und bevölkerungsschutzrelevantes Schadensereignis sei nicht auszuschließen.“

Im BBK ist also angeblich das geballte Expertenwissen vorhanden, welches uns die Hilfe leisten soll, um für zukünftige Krisen gerüstet zu sein? Parallel hängen wir schon mal Landräte, um davon abzulenken, was andernorts hemmungslos verbockt wurde.

Landräte haben lokal den Hut

Ja, im derzeitigen Katastrophenschutzsystem haben die Landräte lokal den Hut auf. Und ja, angesichts dieser Zuständigkeit ist es zu Versäumnissen gekommen. Aber welche Unterstützung haben die betroffenen Landräte von den Profis in den Innenministerien der Länder und des BBK erhalten?

Christoph Unger wurde als Präsident des BBK abberufen, weil ein ohnehin malades Warnsystem am Warntag überlastet kollabiert ist. Herr Schuster feiert sich nun mit Mitteln einer Betreuungsreserve, die unter Unger aufgebaut wurde.

Wem will das Innenministerium weiß machen, dass diese Ressourcen urplötzlich aus dem Boden gewachsen sind, weil der Heilsbringer Schuster aus dem Hut gezaubert wurde? Jeder, der die bundesdeutschen Beschaffungsprozesse kennt, fühlt sich gerade hemmungslos für total verblödet erklärt.

Wie bereits bei Herrn Unger, werden nun erneut Bauernopfer auserkoren, um davon abzulenken, dass Innenministerien und Politik den Bevölkerungsschutz seit vielen Jahren stiefmütterlich betrachtet haben.

Schlag ins Gesicht der Einsatzkräfte

Schleswig-Holsteins Innenministerin, Sabine Sütterlin-Waack (CDU), verkündete in dieser Woche einen Zehn-Punkte-Plan für besseren Katastrophenschutz im Norden und listet hier schlicht seit Jahren bekannte Versäumnisse auf, die plötzlich als Geistesblitz verkauft werden. Viel schlimmer noch, die Innenministerin hat es erneut versäumt, die Helfergleichstellung der weißen Katastrophenschutzeinheiten der Hilfsorganisationen zu regeln, um deren Freistellung für Einsätze nachhaltig zu regeln. Das stellt einen Schlag ins Gesicht derer dar, die sich auch aktuell im Einsatz befunden haben oder noch im Einsatz befinden.

So sehr es alle Bevölkerungsschützer freut, endlich Aufmerksamkeit in der Politik registrieren zu können, muss nun aber auch das Augenmerk darauf gerichtet werden, dass die kurzfristige Ertüchtigung von Sirenen und die Beschaffung von Material die Fehler im System nicht heilen kann. Es gilt nun, die Strukturen im Bevölkerungsschutz nachhaltig zu stärken und dazu muss der Ist-Stand bewertet werden, bevor ausschließlich Schnellschüsse präsentiert werden, um die Bevölkerung kurzfristig zu beruhigen. Valium für das Volk möchte man hier sagen.

Ansätze für eine nachhaltige Strukturreform könnten unter anderem anonyme Befragungen bieten, wie die gerade von Prof. Dr. Henning G. Goersch (Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement Akkon Hochschule für Humanwissenschaften) gestartete Befragung „Early Lessons Learned – Unwetter / Fluten 2021“ , die sich bewusst an eingesetzte Kräfte wendet, um deren Einsatzerfahrungen zu sammeln und auszuwerten. Darüber hinaus müssen, wie aber auch schon mehrfach hier gefordert, die Versäumnisse in den beteiligten Ministerien der Länder und des Bundes bewertet werden, um Wiederholungen zu vermeiden.

Eventuell müssen wir nach all der dann zur Verfügung stehenden Erkenntnis erneut Rudi Assauer bemühen und feststellen: „Wenn der Schnee schmilzt, siehst Du wo die Scheiße liegt.“ Nicht nur ich denke, dass eine ordentliche Aufarbeitung erforderlich sein wird, wenn wir nicht erneut die sprichwörtliche Kacke am Fuß haben wollen.

Ruhrbarone: Vielen Dank für die deutlichen Worten.

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