Kein Platz für Mitgefühl: Donja Hodaie über den Verlust von Inbar Haiman und den toxischen Diskurs nach dem 7. Oktober

In einem Interview bitten die Eltern von Inbar Haiman um ihre Freilassung. Kurze Zeit später wurde Inbar in Geiselhaft von der Hamas ermordet.
In einem Interview bitten die Eltern von Inbar Haiman um ihre Freilassung. Kurze Zeit später wurde Inbar in Geiselhaft von der Hamas ermordet.

Donja Hodaie spricht mit uns über die Entführung und Ermordung ihrer Freundin Inbar Haiman durch die Hamas und welche erschütternden Reaktionen sie in ihrem Umfeld darauf erlebte.

 

Robert Herr für Ruhrbarone: Hallo Donja, kannst du uns etwas über Inbar erzählen und wie ihr euch kanntet?

Donja Hodaie: Inbar war eine sehr warmherzige Person, ein Freigeist voller Lebensfreunde und für jeden Spaß zu haben. Sie liebte nicht nur Menschen, sondern auch Katzen. Sie hat „visual communication“ studiert und war in der Künstlerszene unter dem Namen „Pink“ tätig. Ich kannte Inbar über einen gemeinsamen israelischen Freund aus Haifa.

R: Was hat dich damals dazu bewogen, damals das Video von Inbars Eltern, indem sie um die Freilassung ihrer Tochter baten, zu teilen?

DH: Ich habe darüber in dem Moment nicht nachgedacht und es erschien mir selbstverständlich. Als ich am 7. Oktober 2023 am frühen Morgen aus dem Schlaf gerissen wurde und die ersten Videos gesehen habe, war ich wie betäubt. Es folgten viele verzweifelte Anrufe und Nachrichten. Einige antworteten schnell, andere waren selbst in Notsituationen und erst viele Stunden später erreichbar. Inbar war ebenfalls noch vermisst. In dem Moment als unser gemeinsamer Freund mir dann am nächsten Tag schrieb, dass ein schreckliches Video aufgetaucht ist, dass zeigt, wie sie nach Gaza entführt wird, fühlte es sich an, als würde ein riesiges schwarzes Loch mich verschlucken.

Mich hatte es sehr mitgenommen, dass es ausgerechnet sie getroffen hat. Sie hat mit der derzeitigen rechten israelischen Regierung nichts gemeinsam und ist politisch von deren Gedankengut weit weg. Für mich stand fest, dass ich alles versuchen muss, um ihr zu helfen. Als ich das Video ihrer Eltern zugeschickt bekommen habe, schien es mir selbstverständlich es zu teilen. Es war das Video verzweifelter Eltern, deren Tochter von islamistischen Terroristen in Gaza als Geisel gehalten wurde. Ich habe zu späteren Zeitpunkten auch noch Videos von ihrem Freund Noam und ihrer Mutter geteilt.

 

„Es fühlte sich an, als würde ein riesiges schwarzes Loch mich verschlucken“

 

R: Wie hast du dich gefühlt, als du bemerkt hast, dass Leute sich von dir distanziert oder dich in sozialen Medien blockiert haben, weil du dich für die Freilassung deiner Freundin eingesetzt hast?

DH: Es hat mich lediglich bedingt überrascht oder entsetzt und mir war vorher schon bewusst, wie schnell und leicht Menschen andere Menschen entmenschlichen können. Ich war in Trauer und in Entsetzen angesichts der Ereignisse am 7. Oktober. Wie ich mich genau gefühlt habe, war abhängig von der Person und wie diese konkret reagiert hat. Bei denen, die mich einfach nur entfernt haben (das waren meist Bekannte), hat mir das zwar einen leichten Stich versetzt, aber es war okay. Zumindest wurde nicht auf mir rumgehackt und mir Gelegenheit gegeben, mich mit der Situation abzufinden. Generell war ich aber etwas erstaunt, dass das Video von Inbars Eltern solche Reaktionen auslöst. Ich habe aber erst Monate später darüber nachgedacht.

Andere wiederum haben sichtlich ihr Verhalten eingeschränkt. Sie haben sich bei mir nicht mehr gemeldet oder waren distanziert. Sie haben dann selbst angefangen über ihre Haltung im Nahost-Konflikt und auch wie sie zu dem Thema Geiseln stehen zu posten und über Menschen, die hinter Israel stehen. Da das in zwei Fällen Menschen waren, die ich mochte, kamen in mir seltsame Gefühle hoch. Einerseits war ich traurig, weil ich die Personen gern hatte, aber andererseits scheint das dann auch eine kaum überbrückbare Differenz zu sein – vor allem da beide das Existenzrecht Israels offen in Frage stellen bzw. nicht anerkennen. Ich habe zu diesen Personen auch keinen Kontakt mehr. Es fühlt sich nicht gut an, abgelehnt zu werden, aber ich hab in dem Moment ebenfalls Ablehnung und Abneigung gespürt, weil ich mir dachte: Wieso hatte ich überhaupt mit denen noch zu tun?

R: Wie lief das ab, was bekamst du da von solchen Leuten zu hören?

DH: Teilweise lief es etwa so ab, dass sie sich am 7. Oktober bei mir gemeldet haben, weil sie mich näher kannten und wussten, dass ich betroffen bin und mir dann Vorträge gehalten und Essays über Israel geschrieben haben. Ich wurde wirklich zugeballert damit, wieso die Person Israel gegenüber „kritisch“ steht (Menschenrechtsverletzungen, Apartheid etc.), dass ich doch
bitte mir das Leid von Palästinensern vor Augen führen soll.

Andere haben mir, bevor sie mich gelöscht haben, noch dazu geschrieben, dass ich mit dem Video von Inbars Eltern israelische Kriegspropaganda und Lügen verbreiten würde. Jemand anderes schrieb mir, dass das eigentliche Problem sei, warum Inbar überhaupt dort, soll heißen, auf gestohlenem Land, war und ich mal darüber reflektieren soll. Bei den letzten beiden Gruppen kam in mir kalte Wut und blanker Hass hoch. Teilweise wussten sie sogar, wie sehr ich wegen Inbar und generell wegen dem 7. Oktober unter Schock stand. Ich fand es auch teilweise sehr arrogant und anmaßend, wie sie mich über diesen Konflikt von oben herab belehren wollten. Ich nehme es diesen Menschen auch sehr übel, weil sie mir die Zeit nach dem 7. Oktober schwerer gemacht haben.

Mir war schon vorher bewusst, dass es sehr viele Menschen gibt, die sich nicht mit der Gründungsgeschichte Israels tatsächlich auskennen, sondern immer wieder nur dieselben komischen Mythen wiedergeben und man auch nicht sachlicher Aufklärung bei ihnen durchdringen kann. Sich als „israelkritisch“ zu bezeichnen ist fast schon chic und Leute sind stolz drauf, sich so zu nennen. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass es in meinem Bekanntenkreis Menschen gibt, die bereits kurz nach dem Massaker am 7. Oktober z. B. posten, dass der Ursprung der Gewalt Unterdrückung sei und dass man aufpassen sollte, nicht die falsche Seite zu hassen. Ich war entsetzt, dass ich solche Menschen im näheren Umfeld habe, die zu diesem Grad bereits Israelis entmenschlicht haben.

 

„Ich war entsetzt, dass ich solche Menschen im näheren Umfeld habe“

 

R: In Deutschland gab es nach dem 7. Oktober nicht nur eine diskursive Enthemmung, sondern eine Welle von antisemitischen Hassverbrechen. Wie hast du das erlebt?

DH: Überrascht hat mich nicht, dass es passiert ist, jedoch das Ausmaß war für mich erschreckend. Der 7. Oktober und die Entführung Inbar’s hatten mich zudem in einen Schockzustand versetzt. Ich hab mich immer wieder gefragt, ob die Leute das alles wirklich ernst meinen. Wie wenig Menschen auch Verständnis und Mitgefühl hatten, hat mich entsetzt. Der Nahost-Konflikt insgesamt ist ein komplexes Thema, zu dem man auch verschiedene Meinungen haben kann. Als ich in Berlin gesehen habe, wie Menschen den Massenmord am 7. Oktober auf den Straßen gefeiert haben, wie direkt nach einem „Kontext“ gefragt und direkt die ersten Rechtfertigungsversuche begannen, teilweise die Geschehnisse am 7. Oktober negiert wurden, war ich zutiefst schockiert.

Für mich ist es auch gänzlich unverständlich, wie Menschen, die an sich keinerlei Berührungspunkte zu diesem Konflikt haben, und die oft lediglich rudimentäre Kenntnisse über die Gründung des Staates Israel und den weiteren Verlauf des Nahost-Konflikts haben, sich so stark in ihrem Hass reinsteigern können. Obwohl sie keine Expertise in relevanten Fachgebieten wie Militär oder internationalem Recht haben, meinen sie alles zu wissen. Wilde Behauptungen und unzutreffende Narrative werden immer wieder einfach reproduziert und verbreitet. Bei anderen Konflikten passiert dies nicht.

Die bösen Juden haben den Arabern ihr Land weggenommen, die Palästinenser hätten die vor dem Holocaust geflohenen Juden aufgenommen oder Muslime und Juden hätten in Länder mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung wie dem Irak in Frieden und Harmonie zusammengelebt, sind nur einige der vielen Aussage, die mich fassungslos machen. Auf social media und auch in meinem Umfeld, habe ich mitbekommen, wie „Zionist“, also jemand der das Existenzrecht Israels anerkennt, pauschal mit Terrorist gleichgesetzt wird. Wie offen und selbstverständlich, das Existenzrecht Israels in Frage gestellt oder sogar offen negiert wird und islamistischer Terror als Freiheitskampf stilisiert wird.

Der 7. Oktober, die Entführung von Inbar und auch die Betroffenheit anderer aus Israel, die mir nahe stehen, hatte mich zutiefst erschüttert und der Schmerz darüber sitzt bis heute sehr tief. Für mich war und ist das alles nicht kaum mehr zu ertragen. Eine zeitlang hatte ich auch fast ausschließlich mit ebenfalls betroffenen Personen Kontakt und ich achte auch jetzt noch darauf, wen ich näher an mich heranlasse. Enttäuscht bin ich aber eindeutig vor allem von den Linken und ihrem insbesondere israelbezogenen Antisemitismus. Besonders ekelhaft fand ich aber auch, wie versucht wurde, Juden gegeneinander auszuspielen und Juden mit antizionistischer Haltung instrumentalisiert wurden, um das Existenzrecht Israels offen in Frage zu stellen.

R: Was denkst du, warum sich viele Menschen, anstatt Empathie für Inbar und ihre Familie oder auch die anderen Opfer des 7. Oktober zu zeigen, gegen dich und andere gewandt haben, die auf das Schicksal der Opfer aufmerksam gemacht haben?

DH: Viele Menschen haben verkürzte, problematische Narrative über Israel in ihren Köpfen. Sie haben keine und wollen auch keine fundierten historischen Kenntnisse über den jüdischen Staat und warum es ihn überhaupt gibt, haben. Sie gehen davon aus, dass der Staat Israel auf „gestohlenem“ palästinensischen Boden gegründet wurde und daher auch die Juden und anderen in dem Lager des jüdischen Staates stehenden Personen per se schon nicht unschuldig sind. Das wurde mir auch in Bezug auf Inbar immer wieder entgegnet. Dass sie sich allein mit ihrer Anwesenheit auf diesem gestohlenen Boden, neben einem „open-air“ Gefängnis bereits schuldig gemacht hat. Die Palästinenser wären in einer schrecklichen Situation gewesen und der 7. Oktober war ein Versuch, ihr Land wiederzubekommen und auf die Unterdrückung zu antworten. Teilweise wurde mir auch entgegen geknallt, dass der 7. Oktober eine Lüge Israels sei. An sich fände ich es daher wichtig, mehr Aufklärungsarbeit zu leisten, zugleich aber habe ich das Gefühl, dass viele Menschen so emotionalisiert sind, dass man mit sachlicher Aufklärung und Bildungsarbeit nicht weiterkommt.

Die Kritik geht auch nicht dahin, bestimmte militärische und politische Entscheidungen zu kritisieren, sondern sie wollen letztendlich die Vernichtung des Staates Israel. Ein fürchterliches Bedrohungsszenario für die israelische Bevölkerung.  Und hier liegt der Unterschied. Bei Ländern wie Russland und Iran folgt, wenn eine Kritik an ihnen erfolgt, nicht die Forderung, dass die Existenz dieser Länder und die sich darin befindliche Bevölkerung per se illegitim sind. Bei Israel wird dagegen die Existenzberechtigung des Landes und der sich in dem Staatsgebiet befindlichen jüdischen Bevölkerung in Frage gestellt. Sie sprechen Israel und Menschen wie Inbar ihr Existenzrecht ab. Hier läuft für mich die rote Linie. Hierzu darf es keine andere Meinung geben.

 

„Es ist menschlich und politisch ein Abgrund“

 
R: Wenn du den Menschen, die sich für deinen Einsatz für Inbar von dir abgewandt haben, direkt etwas sagen könntest, was wäre das?

DH: Das ist schwierig zu beantworten. Ich hatte nämlich zu den Personen jeweils unterschiedliche Beziehungen und die Art, wie sie sich abgewandt haben, anders war. Ich finde aber generell, dass diese Menschen sich sowohl aus menschlicher als auch politischer Sicht in Richtung Abgrund bewegen. Ich kann nicht nachempfinden, wie man mit einem Menschen, der in dem Moment so in Leid und Verzweiflung versunken ist, so umgehen kann. Das ist einfach teilweise auch nur taktlos und empathielos. Es hat auch keiner zu mir gesagt: „Hey, es tut mir leid, was du da gerade erlebst. Ich würde mich aber grundsätzlich auch gerne mal mit dir zu einem späteren Zeitpunkt zum Nahostkonflikt austauschen, um deine Sichtweise zu kennen und versuchen zu verstehen. Melde dich doch, wenn du irgendwann die Zeit und die Nerven dafür hast.“

Inbars Entführung als Kriegspropaganda zu bezeichnen oder ihr selbst die Schuld zu geben, weil sie sich auf „gestohlenem Land“ befand, ist für mich eine deftige Nummer. Auf der politischen Ebene zeigt dieses Verhalten, dass diese Menschen den Nahostkonflikt als Fußballspiel sehen und Hooligans geworden sind. Frei nach dem Motto „Wer nicht für meine Seite ist oder irgendwie mit der anderen Seite verbunden ist, mit dem möchte ich nichts mehr zu tun haben und die Person ist ab sofort mein Feind.“

Zudem zeigt es, dass sie die Komplexität dieses Konflikts nicht verstehen und das Existenzrecht Israels negieren. Wie bereits gesagt, verläuft hier für mich die rote Linie und ich möchte solche Menschen auch nicht in meinem Umfeld haben. Ich sehe in solchen extremen Annahmen bzw. Ansichten auch keine konstruktiven Ansätze, die zu einer zumindest Deeskalation des Nahostkonflikts und/oder einer Verbesserung der Lage der Palästinenser beitragen könnten. Aber an sich habe ich aber vor einigen Monaten beschlossen, keine Energie mehr in solche Menschen hineinzustecken. Wozu nämlich?

Solche hasserfüllten und ideologisch verbohrten Menschen sind an sich schon so destruktiv. Hass führt nur zu neuem Hass und durch diesen neuen Hass entsteht wieder anderer Hass – eine Hassspirale, die in einen Abgrund führt. Ich bin da raus und möchte auch keine Energie reinstecken. Für diese Leute bedeuten Inbar und auch andere Betroffene, die Schlimmes am 7. Oktober erfahren mussten, nichts. Sie haben sie bereits enthumanisiert.

Für mich aber war es ein sehr einschneidendes Erlebnis, es hat meinen Blick auch auf mein eigenes Leben verändert. Dass es ausgerechnet sie traf, dass sie auf diese Art und Weise entführt wurde, dass sie wochenlang in Gefangenschaft war und dann ermordet wurde… Mein Leben und auch das vieler Betroffener, ihrer Familien und Freunde wurde nachhaltig beeinträchtigt.

R: Vielen Dank für das Gespräch!

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