Kleinvieh macht Mist

Brexit: Wahllokal 2016 Foto: LavaBaron Lizenz: LavaBaron – Eigenes Werk
CC BY-SA 4.0


Unser Gastautor Matthias Kraus will mehr Demokratie wagen.

Mein Job ist es, den Alleinstellungsmerkmalen von Produkten oder Dienstleistungen Beine zu machen, auf dass das beworbene Produkt aus dem allgemeinen Grundrauschen herausrage. Die Kollegen aus dem Marketing und im Produktmanagement bevorzugen statt solcher Zuspitzungen argumentativ lieber die Breite. Jeder noch so nachrangige Aspekt soll erwähnt, jedes Stichwort der langen Featureliste soll abgehakt sein. Ideen, die über das Offensichtliche und Altbekannte (auf werbisch: Me Too) hinaus gehen, werden flugs abgewunken, dafür seien „die Leute zu dumm”. Ambivalenzen und Spitzfindigkeiten seien deshalb zu unterlassen. Man könnte meinen, die Menschen an ihren Empfangsgeräten freuen sich, wenn bei ihnen auch mal der Groschen fallen darf; sie sehen das Produkt dann gleich mit anderen Augen, appelliert es doch an ihren Feingeist und Intellekt. Doch was, wenn in den Hirnkästen „der Masse“ gar kein Groschen vorhanden wäre, der fallen könnte? Dann wäre es wohl sinnvoller, ein kleinstes gemeinsames Sujet zu finden, welches auch noch die schlichtesten Gemüter da draußen erfassen können.

Das könnte zum Beispiel ein rotbackiges Zahnfeemädchen sein, das die zu bewerbende Wurstsorte bei Opa auf dem idyllischen Gutshof sooo gerne mag. Für gesetzliche Krankenversicherungen bieten sich konforme Jugendliche beiderlei Geschlechts an, chillend in urbanem Graffiti-Surrounding, einer der Jungs ein Skateboard unter dem Arm, die Off-Sprecherin duzt sie im Plural „Hey Ihr, habt Ihr eigentlich schon mal über Eure Gesundheit nachgedacht?“. Handelt es sich hingegen um ein Business-to-Business-Thema, schütteln Frau Esprit und Herr Strellson unterschiedlicher Ethnie im hell gehaltenen Atrium kernig die Endzwanzigerhände und blicken sich verbindlich in die Augen, ohne dabei die professionelle, vage freundliche Miene zu verziehen.

Vermeintliche Hohlköpfe mit Plattitüden zum Konsum zu übertölpeln, funktioniert nicht. Es ist nämlich so: Die Dummheitsannahme bei den lieben Konsumenten beruht auf einer Verwechslung. Eine Vielzahl von Individuen ist nicht gleichzusetzen mit einer Herde, einzelne funktionieren anders als Gruppen. Auch wenn wir Tausende von ihnen als „Zielgruppe“ in einen Topf werfen, verstehen sie selbst sich noch lange nicht als Einheit und verhalten sich auch nicht so.

Schließen sich Individuen hingegen aus freien Stücken einer Gruppe an, interessenbedingt oder spontan, sei es ein Shawn-Mendes-Konzert, der Rosenmontagszug, ein Pegida-Schaulaufen oder die G20-Demo, dann schränken sie freiwillig und ganz ohne aktives Zutun ihre mentale Bandbreite zugunsten kollektiver Schlagkraft ein. Im Rausch der Sinne verschmelzen sie zum Superorganismus, vergleichbar mit einem Sardinenschwarm, einem Bienenstock oder einer Herde Schafe. Wegen ihres kollektiven Tunnelblicks sind Gruppen von außen leicht zu manipulieren, das macht sie so unheimlich (und rhetorisch geschickte Strippenzieher so gefährlich). Doch kaum gehen die Leutchen wieder nach Hause, verpufft der Bann der Masse Stück für Stück, schnell sind sie wieder halbwegs nüchtern und ansprechbar. Mit Intelligenz oder Charakterstärke hat das nichts zu tun. Auch einfache Geister sind in der Lage, zu beurteilen, ob etwas gut für sie ist oder vielleicht nicht. Auch sie haben einen inneren Kompass, eine Intuition, eine Heuristik, das ist ein Überlebensmechanismus. Verbalakrobaten können ihre Beweggründe lediglich eloquenter rationalisieren, nachträglich.

Die unterstellte Fähigkeit aller BürgerInnen zur Vernunft war der Schlüssel für aufklärerische Ideen wie persönliche Handlungsfreiheit, Bürgerrechte, Demokratie und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. Seit bereits 250 Jahren gilt das Individuum grundsätzlich als vernunftbegabt. Deshalb ist es rückwärts gewandt, die Menschen da draußen (man selbst gehört glücklicherweise nie dazu) vor allem als im Zweifel dumpfe Masse zu betrachten.

Die Postmoderne, heute der Goldstandard in den Sozialwissenschaften, sieht die Aufklärung kritisch; sie gilt als eine mehr oder weniger gescheiterte „Erzählung“, deren Fixierung auf Rationalität zu nichts Gutem geführt habe. Die Postmoderne versteht das Individuum nun wieder zuallererst als Teil einer Gruppe. Aus der gesellschaftlichen Position der jeweiligen Gruppe leitet sich die Macht oder Ohnmacht ihrer Mitglieder ab, heißt es. Den Postmodernisten zufolge geht es uns nämlich grundsätzlich immer und nur um Macht und deshalb sind wir entweder Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse oder Täter. Es ist eine trübe Anschauung der Welt als Nullsummenspiel: Eine Gruppe kann immer nur auf Kosten einer anderen gewinnen. Wir, die Individuen, sind degradiert zu Kastenmitgliedern, unsere individuelle Vernunftfähigkeit spielt deshalb keine wichtige Rolle mehr.

Auch in der Politik geht es inzwischen recht postmodern zu. Sieht ein großer oder kleinerer Teil der Bevölkerung irgendeinen Sachverhalt anders als die jeweilige Regierung, dann neigt diese dazu, zuerst einmal die Mündigkeit ihrer Regierten in Frage zu stellen. Den „Menschen da draußen“ wurde das Anliegen nicht gut genug erklärt, verkünden dann Regierungssprecher und Analysten schreiben, sie wurde verführt, die Masse, von Rattenfängern. Da ist es nur folgerichtig, dass in diesen stürmischen Zeiten voller komplizierter Sachzwänge mit globalen Auswirkungen wichtige Weichenstellungen von Komitees und Expertengruppen entschieden werden. Oder, wenn es gar nicht anders geht, direkt von Gerichten. Sie sind zwar nicht demokratisch von den Wählern legitimiert, doch ihre im trauten Kreis ausgehandelten Verordnungen erfreuen sich bei den gewählten Politikern großer Beliebtheit, sie sind ja fein austariert zu unser aller Wohle. Demokratisches Gebaren alten Zuschnitts, etwa öffentlich und ergebnisoffen über kontroverse Themen zu streiten, nähme billigend die Gefahr in Kauf, dass die vernageltste Meinung den lautesten Applaus der Wählerherde bekommt, so dass für die Gewählten ein Handlungsdruck in die falsche Richtung entstehen könnte. Sieht man sich nämlich an, wie sich der Plebs entscheidet, sobald man ihn per Plebiszit befragt, zum Beispiel zur EU in Norwegen, Frankreich, Irland, den Niederlanden, Dänemark oder Griechenland, dann könnte man wirklich zu dem Schluss kommen, diesen Massen sei nicht zu trauen, besonders dann nicht, wenn sie sich zu großen Gesellschaftsentwürfen äußern sollen. Stoisch weisen sie von sich, was ihr jeweiliges Parlament parteiübergreifend als alternativlos empfiehlt. Sicherlich wünschen sich Regierende manchmal beim Nachtgebet, es gäbe es diese elegante Lösung, die Bertold Brecht nach dem Volksaufstand 1953 seiner DDR-Regierung vorschlug, nämlich das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen.

Inzwischen wurden allerdings sanftere Wege gefunden, die sich Bert damals noch nicht hätte träumen lassen: Die Idee des „Stupsens“ (Nudging) ist derzeit nicht nur schick in den höchsten Kreisen, sondern auch geadelt mit dem Wirtschaftsnobelpreis. Durch subtile, seelsorgende Schubserchen lenkt man das Individuum hin zum quasi-freiwilligen, vernünftigen Verhalten, ohne, dass es das so richtig mitbekommt. Was genau das jeweils richtige Tun ist, das herbeigestupst werden soll, entscheiden Experten, man nennt sie Econs. Vielleicht lässt sich die Gesellschaft ja auf diesem Wege ein bisschen zurecht ruckeln. Denn auf das Herdentier Mensch meint man nicht zählen zu können, wenn es um höhere Ziele geht als um die Frage, was sie morgen auf dem Teller haben. In den USA ist das Wählerkind bereits in den tiefsten anzunehmenden Brunnen gefallen und in Großbritannien wurde ebenfalls mächtig Mist gebaut, kaum dass David Cameron im Affekt seinen Landsleuten die Gelegenheit dazu gab.

Sicher, die Briten wurden von falschen Propheten fehlgeleitet, mit Fake-Zahlen in die Irre geführt. Den einfachen Commoners wurde eingeredet, gesichtslose EU-Kommissare, die nicht gewählt, sondern lediglich entsendet werden, befänden über große Teile ihres Alltags bis hin zur maximal erlaubten Krümmung der Gurke. Immerhin, London als europäisches Bankenzentrum stimmte zu 60 Prozent für „remain“, obwohl den Remainern, also so ziemlich der gesamten politischen und journalistischen Klasse, neben der Warnung, Großbritannien würde unweigerlich in die Arbeits- und Bedeutungslosigkeit driften, nicht so recht auch genuin positive Gründe für einen Verbleib in der EU einfielen.

Gut, immer wieder mal ist von der „europäischen Idee“ die Rede. Worin genau besteht die eigentlich? Jenes Europa, das sich Schillers romantische Idee einer universellen Geistesverwandtschaft verpflichtet fühlte„Alle Menschen werden Brüder“ (1785 waren Frauen außerhalb der Familie schlichtweg nicht existent) — klingt allenfalls noch beim Neujahrskonzert mit Beethovens 9. Sinfonie an, für die kulturell weniger Eingebetteten im ESC-Vorspann. Doch die Idealvorstellung eines Europas, das mehr ist als die Summe seiner Teile, wurde abgelöst von der Erzählung der EU als alternativlose Schicksalsgemeinschaft schwächelnder Einzelstaaten, als letztes Bollwerk gegen die Zumutungen einer entfesselten Globalisierung. Wähler, die sich trotz dieser EU-Schutzmacht schon längst auf der Verliererseite sehen, kann diese Idee allerdings nicht mehr überzeugen, weder in UK noch sonstwo in Europa. (Bis auf die Deutschen natürlich, wenngleich auch aus anderen Gründen: Mit Handkuss geben wir unsere historisch problematische Identität in Brüssel an der Garderobe ab.)

Die EU als Schicksalsgemeinschaft. Als Wagenburg, aus der um Gottes Willen keiner ausscheren darf, weil dann die Hölle hereinbrechen würde. Die Kernbotschaft von der BBC bis zum Guardian lautete in etwa so: „Wehe uns allen, wenn Ihr nicht mehr mitspielen wollt — remain or else!“ Argumente in Form angedeuteter Drohungen überzeugen aber allenfalls bei der Mafia. Und so entschieden sich 17,4 Millionen Wahlberechtigte — nie zuvor hatten so viele Menschen im Königreich gemeinsam für oder gegen irgendetwas gestimmt — anders als die Experten, nämlich für „leave“ und somit falsch. Wären doch nur die Jungen zu den Wahlurnen geschlurft, statt zu snapchatten, eine neue splendid isolation wäre zu verhindern gewesen, hieß es sogleich. Denn wenn das Ergebnis nicht akzeptabel ist, liegt es häufig daran, dass die falschen Leute gewählt haben.

UK, EU, BRD, vielleicht sogar der gesamte Westen — man hat manchmal den Eindruck, Regierende und Regierte hätten sich landauf, landab voneinander entfremdet. Die ersteren halten „die Menschen da draußen im Land“, insbesondere die von der internationalen Sozialdemokratie aufgegebenen Globalisierungsverlierer, für potenziell phobische Fähnchen im emotionalen Meinungssturm, mental nicht in der Lage, das große Ganze zu überreißen. Die Landesinsassen wiederum haben bei aller Reflexhaftigkeit ein Sensorium dafür, dass man sie als Individuen nicht für voll und deshalb nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Das so negierte Individuum reagiert trotzig, was dann tatsächlich dumm sein mag, aber, nun ja, menschlich ist.

Die weitschweifige Annahme einer diffusen Masse führt zu nichts Gutem. In meinem Job erzeugt sie platte (und übrigens auch sexistische) Werbung, die keineswegs besser verkauft, sondern lediglich sicherstellt, dass im Falle schlechter Performance keine verantwortlichen Köpfe rollen — die ärmliche Kampagne entstand ja gemäß Standardprocedere. In der Politik führt sie, zusätzlich geboostet von postmoderner Gruppendenke, zu abgehobener Ahnungslosigkeit auf der einen Seite und zu Radikalisierung auf der anderen. Die gute alte Aufklärung jedenfalls geht anders: Anerkennen des Individuums. Austausch von Argumenten. Alternativen sehen. Sich Mühe geben. Mehr verdammte Demokratie wagen.

Der Artikel erschien bereits bei Novo

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
2 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Laubeiter
Laubeiter
6 Jahre zuvor

Ich habe beim Lesen des Textes gestaunt, wie gewandt die Argumente vorgebracht werden und wie gut die Argumente die Schlussthese vorbereiten – Bravo! Ich habe eine Frage, an den Autor und überhaupt: Ist es nicht auch so, dass die Regierten die Mündigkeit der Regierung in Frage stellen? Als Beispiel fällt mir ein, dass der summarische Verzicht auf Kontrollen bei der Einreise von Syrern nach Deutschland im Herbst 2015 von vielen, in der Regel rechten Bürgern, als Herrschaft des Unrechts wahrgenommen wurde und wird. Wenn also, so meine These, die Bürger die Regierung nicht merh als ordnungswahrend wahrnehmen, so kann ich die Regierung verstehen, die dann den Bürgern erklärt, dass sie in der Tat Recht und Ordnung wahrt, aber eben nicht so, wie es die Bürger gern hätten.

Matthias
Matthias
6 Jahre zuvor

Hallo Laubeiter,
vielen Dank für das Lob, freut mich echt!
Zu Ihrer Frage: Die Regierten und die Regierung stehen nicht im gleichen Verhältnis zueinander, wie das zum Beispiel bei Käufer und Verkäufer auf eBay der Fall wäre. Der Witz von Bertold Brechts sarkastischem Vorschlag aus meinem Text beruht auf genau diesem Kategoriefehler. So wenig wie die Regierung das Volk auflösen kann, wenn es ihr nicht mehr gefällt, so wenig kann sie die Mündigkeit der Regierten in Frage stellen, wenn diese anderer Meinung sind. Umgekehrt geht aber schon. Die Regierung ist dem Volk und dem Grundgesetz verpflichtet, die Menschen da draußen aber stehen nicht gegenüber ihrer Regierung in der Pflicht. Insofern hat der Einzelne jedes Recht, von seiner Regierung zu halten, was auch immer er will und dies öffentlich und/oder bei der nächsten Wahl kundzutun. Die Regierung hat hingegen kein Recht, die Mündigkeit ihrer Schäfchen in Frage zu stellen.

Ich bin kein Jurist, maße mir also zu Ihrem Beispiel nicht an, wissen zu können, ob die unkontrollierte Grenzöffnung 2015 rechtens war oder nicht. Der in- und ausländischen Berichterstattung zufolge scheinen auch unter Experten die Meinungen hierzu auseinander zu gehen. Nehmen wir aber mal an, an der Grenzöffnung gab es juristisch nichts auszusetzen und nur einige Ewiggestrigen beharrten stur auf ihrer Fehleinschätzung einer „Herrschaft des Unrechts“. Selbst dieser Dissens gäbe einer Regierung nicht das Recht, die Mündigkeit dieser Regierten in Frage zu stellen, wie Sie es formulieren.

In Ihrem Beispiel, in dem Teile der Bevölkerung mit der Regierung uneins sind, könnte die Kunst der Rhetorik dazu beitragen, Mehrheiten für den Regierungsstandpunkt herzustellen, wenn man schon nicht darüber diskutieren will. Ein dürres „Wir schaffen das“ als Aufmunterung murrender Bürger zeugt da aber leider eher vom Unwillen einer inhaltlichen Auseinandersetzung. Oder vielleicht einfach nur von sprachlicher Tiefbegabung.

Werbung