Kneipensterben: „Seit der Einführung des Rauchverbots 2013 ging der Umsatz um die Hälfte zurück“

Martin Franz im Gdansk in Oberhausen. (Foto: Roland W. Waniek)


Fast die Hälfte aller Kneipen in Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen 20 Jahren dicht gemacht. Das 2013 von SPD und Grünen beschlossene Rauchverbot hat dazu beigetragen.

Der Raum ist bis auf den letzten Platz belegt, Gäste drängeln an den Tischen vorbei, die Kellnerinnen nehmen Bestellungen auf und balancieren volle Bierkrüge auf ihren Tabletts. Im Hinterzimmer des Gdansk, einer Mischung aus Kneipe und Restaurant in Oberhausen, das die Fahne polnischer Lebensart im Ruhrgebiet hochhält, ist es voll, laut und wuselig. Der Grund dafür steht ein wenig verwundert vor einer Leinwand und kann sein Glück nicht fassen: „Vor ein paar Monaten hatte ich zum selben Thema eine Veranstaltung in Gelsenkirchen. Da kamen nur zehn Besucher“, sagt Martin Franz.

Franz, in Wesel aufgewachsen, hat in Bochum studiert und ist Professor an der Universität Osnabrück. Sein Thema lässt niemanden im Gdansk kalt: das Kneipensterben. Nach Zahlen des Statistischen Landesamtes NRW ist die Zahl der Kneipen in Nordrhein-Westfalen zwischen 2006 und 2023 um 42 Prozent zurückgegangen. Gab es vor gut zehn Jahren noch 14.000 Tresen, an denen man in mehr oder weniger munterer Runde sein Bier kippen konnte, waren es 2023 nur noch 8.000. Nordrhein-Westfalen trocknet aus.

Für Franz allerdings ist das kein ganz neues Phänomen. Ab den späten der 50er Jahren sahen sich die Kneipen mit zwei mächtigen Gegnern konfrontiert: dem Kühlschrank und dem Fernseher. „Von da an musste man nicht mehr in die Kneipe gehen, wenn man ein kühles Bier wollte. Und der Fernseher bot Unterhaltung.“ Und da den Menschen immer mehr Wohnraum zur Verfügung steht, ist es immer attraktiver geworden, den Abend zu Hause zu verbringen. Aber es gibt für Franz noch mehr Erklärungen für das Kneipensterben: „Der Alkoholkonsum geht zurück, weil die Menschen heute gesundheitsbewusster sind als früher. Sie haben auch eine höhere Erwartung an die Gastronomie. Sie wollen mehr als nur ein Bier aus dem Zapfhahn, sondern auch etwas zu essen, vielleicht Cocktails und ein ganz bestimmtes Publikum. Dann sind sie auch bereit, weitere Strecken zu fahren.“ Auf der Strecke blieben dabei die traditionellen Kneipen, die es früher an fast jeder Ecke gab und in denen sich die Menschen aus dem Stadtteil trafen.

„Die Kneipe war ein Ort, an dem sich unterschiedliche Menschen trafen und am Tresen miteinander ins Gespräch kamen“, sagt Franz. „Heute leben wir zunehmend in Blasen – und das nicht nur in den sozialen Medien. Wir suchen den Kontakt zu Menschen, die uns ähnlich sind.“ Das betreffe nicht nur die Gastronomie: „Man geht in ein Fitnessstudio, dessen Mitglieder einem gefallen, und nicht in den Sportverein im Stadtteil, der oft dasselbe für weniger Geld bietet.“ Seiner Ansicht nach ein Verlust: „Orte, an denen die unterschiedlichsten Menschen zusammenkommen, miteinander reden, streiten und trinken, sind für unsere Gesellschaft wichtig. Es gibt Studien, die belegen, dass Menschen, die miteinander Alkohol trinken, sich mehr vertrauen.“ Und auch dem vielgescholtenen Stammtisch gewinnt Franz etwas Gutes ab: „Wer da mit am Tisch saß und etwas sagte, musste auch mit Widerspruch rechnen – und klarkommen.“

Im Gdansk diskutieren die Besucher über das Ende der Kneipen, es liegt ihnen am Herzen. Die Preise seien zu hoch, meint eine Frau. Immer weniger könnten sich noch ein Bier leisten. Ein andere fragt nach den Auswirkungen des Rauchverbots. Franz sagt, auch in Bundesländern ohne Rauchverbot gäbe es ein Kneipensterben, aber es gäbe auch Kneipen, die darunter leiden würden.

Christop Mattar vor dem Intershop Foto: Laurin

Christoph Mattar ist der Besitzer einer der bekanntesten Kneipen Bochums. Seit fast 40 Jahren gibt es den Intershop im Bochumer Bermudadreieck, seit 2017 ist Mattar hier der Chef. Bis auf Pistazien aus einem Automaten gab es im Intershop noch nie etwas zu essen. Ein großer Tresen ist das Zentrum der Kneipe, die Gäste begrüßt ein riesiges Bild von James Cagney in seiner Rolle als Al Capone. „Der Intershop hatte immer sehr unterschiedliche Gäste,“ sagt der 41jährige. Hier trinkt der Arbeitslose neben dem Akademiker, der Schauspieler neben dem Studenten. In seiner Zeit als Intendant des Schauspielhauses hielt der Regisseur Leander Haußmann hier Hof, aber auch Bauarbeiter tranken nach der Arbeit dort ihr Bier. Und in der Regel war es mehr als eins. „In guten Zeiten standen die Gäste am Wochenende in Viererreihen um den Tresen. Ein Zapfer sorgte pausenlos für Nachschub, vier Bedienungen reichten das Bier an die Gäste weiter.“ Die Zeiten sind vorbei. „Seit der Einführung des Rauchverbots 2013 ging der Umsatz um die Hälfte zurück“, sagt Mattar, der die Zeiten, in denen der Intershop oft gerammelt voll war, noch als Mitarbeiter erlebt hatte. Auch Konzerte und Auftritte von DJs hätten die Lage nicht verbessert: „Klar, dann ist es hier voller, aber meistens fangen die größeren Umsätze die Kosten nicht auf.“ Der Intershop hält sich, ist nach wie vor eine Institution des Bochumer Nachtlebens, aber Mattar hat reagiert und die Kosten gesenkt: weniger Mitarbeiter, das immer teurer werdende Fußball-Abo bei Sky gekündigt und das Getränkeangebot verschlankt. Was nur Lagerplatz kostete und keinen Umsatz brachte, wurde gestrichen. Auch wenn die guten Zeiten vorbei sind, denkt Mattar nicht ans Aufgeben: „Ich mag meine Arbeit, sie ist vielseitig. Mal stehe ich am Tresen und habe Kontakt mit den Gästen, mal sitze ich im Büro, kalkuliere die Kosten und mache mir Gedanken, was ich verändern kann.“ Das Versprechen der Politik, durch das Rauchverbot würden neue Gäste kommen, hat sich für ihn nicht erfüllt: „Es wurden einfach weniger.“ Was ihn erstaunt: Auch junge Gäste, die sich nicht daran erinnern können, dass in Kneipen geraucht werden durfte, sagen ihm, dass sie sich diese Zeit zurückwünschen. Und was wünscht sich Mattar für die Zukunft des Intershops? „Weniger Auflagen. Wenn wir hier ein Konzert haben, muss es auch mal lauter werden können.“ Der Intershop liege ja nicht in einem Wohngebiet, sondern im Bermudadreieck, wo sich über 60 Bars, Clubs, Kneipen und Restaurants auf engem Raum drängeln.

Für Thorsten Hellwig, den Sprecher des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes in NRW, war das Rauchverbot ein Katalysator, der eine Entwicklung beschleunigt hat, die es ohnehin gab. „Außer in NRW, dem Saarland und Bayern gibt es kein Bundesland, in dem es ein absolutes Rauchverbot gibt.“ NRW war das letzte Land, das eine solche Regel erlassen hatte.

Doch wie Schatten ist, ist für Hellwig auch Licht: „Das Café ist die neue Kneipe.“ Die Schließung einer Kneipe bedeute auch nicht, dass es dort keine Gastronomie mehr gäbe: „Wir erleben oft eine horizontale Verschiebung. Eine Kneipe schließt, und an derselben Stelle eröffnet ein Lokal, in dem es auch etwas zu essen gibt.“ In den vergangenen zehn Jahren sei die Zahl der Lokale, die etwas zu essen anbieten, um fast zwei Prozent gestiegen. Und auch die Zahl der Arbeitsplätze habe nach dem Corona-Einbruch wieder zugenommen. 2019 arbeiteten in der Gastronomie in NRW 415.000 Menschen, Ende 2023 waren es 425.000 Beschäftigte. Wirtschaftlich ist der Wegfall des Sozialraums Kneipe offenbar verkraftbar.

„Kneipen“, sagt Mareen Heying, „stehen überall unter Druck.“ Die Düsseldorfer Historikerin, die am Institut für soziale Bewegungen in Bochum arbeitet, forscht zum Thema Kneipen. „Auch die Zahl der Bistros in Frankreich und der Pubs in Großbritannien geht zurück.“ Der Begriff Kneipensterben sei ein Zeichen dafür, wie dramatisch die Lage in Deutschland gesehen werde. „Die Briten sprechen von Pub Closure, ins Deutsche übertragen heißt das Kneipenschließungen.“ Im Gegensatz zu Gasthäusern und Cafés hätten Kneipen in Deutschland eine kurze Geschichte, sie entstanden als Treffpunkte der Arbeiterklasse. „Arbeiter verbrachten in ihnen ihre Freizeit, trafen sich dort aber auch während der Sozialistengesetze. Kneipen waren auch Orte, an denen Politik gemacht wurde.“

Und sie waren umstritten: „Es gab im 19. Jahrhundert große Abstinenzbewegungen und auch Gründungen von Kneipen, in denen kein Alkohol ausgeschenkt wurde.“ Im Gegensatz zu den USA, wo die vor allem von Frauen getragene Abstinenzlerbewegung erreichte, dass von 1920 bis 1933 Alkohol verboten war, wäre so etwas in Deutschland auch an der Macht der Alkohollobby gescheitert. Und die alkoholfreien Kneipen machten mangels ausreichenden Zuspruchs schnell wieder zu.

Auch in Zukunft, da ist sich die Historikerin sicher, wird es Kneipen geben, „aber es werden weniger werden.“

Das Kneipensterben, sagt Heying, ließe sich ganz einfach beenden: „Wenn den Menschen die Kneipen so wichtig wären, wie sie tun, würden sie öfter hingehen.“

Der Artikel erschien in ähnlicher Form bereits in der Welt am Sonntag

 

 

 

 

 

 

 

 

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