Vor die Erinnerung an Solingen schiebt sich eine Falscherinnerung an Helmut Kohl
Gestern vor 28 Jahren, am 3. Juni 1993, kamen Tausende von Menschen in Köln zu einer Trauerkundgebung zusammen. Sie trauerten um die Opfern des Brandanschlags von Solingen am 29. Mai. Bundespräsident Richard von Weizsäcker kam, und mit ihm kamen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, Außenminister und Vizekanzler Klaus Kinkel, Innenminister Rudolf Seiters, Arbeitsminister Norbert Blüm, Ministerpräsident Johannes Rau und viele andere mehr. Wer aber nicht kam, war Bundeskanzler Kohl.
Kohl kam schon zum zweiten Mal nicht. Ein halbes Jahr zuvor hatte es eine ähnliche Trauerkundgebung in Hamburg gegeben, damals für die Opfer des Brandanschlags von Mölln, und schon an der hatte Kohl nicht teilgenommen. Man hatte ihn dafür kritisiert. Sein Regierungssprecher Dieter Vogel hatte ihn verteidigt. »Diese schlimme Sache«, hatte Vogel am 27. November 1992 auf Journalistenfragen hin gesagt, »wird dadurch nicht besser, dass wir in Beileidstourismus ausbrechen.«
Es war eine hässliche Formulierung, aber sie stammte nicht von Helmut Kohl. Sie fiel im Zusammenhang nicht mit Solingen, sondern mit Mölln. Sie gab, auch wenn sie vom Regierungssprecher kam, die Haltung der Regierung augenscheinlich nicht wieder. Sie gab die Haltung der Bevölkerung nicht wieder. In ganz Deutschland haben Trauerkundgebungen stattgefunden, sowohl nach Mölln als auch nach Solingen. Die ARD-Tagesschau berichtete am Abend des 3. Juni 1993 an erster Stelle und sechs Minuten lang von ihnen. Und Kohl selbst traf sich am nächsten Tag im Kanzleramt mit einer Gruppe von Trauergästen aus der Türkei. Bereits am 1. Juni 1993 hatte er in einer gemeinsamen Erklärung mit Johannes Rau den Hinterblieben der Opfer sein Mitgefühl bekundet, und in einer Regierungserklärung sollte er es am 16. Juni 1993 noch einmal tun: »Unser tiefes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen der Opfer. In diesem Verbrechen, aber auch in den zahlreichen Brandanschlägen der Folgezeit auf Wohnungen und Geschäftslokale türkischer Mitbürger kommt ein unfassbares Maß an sittlicher Verrohung zum Vorschein.«
Es lohnt sich, die Tagesschau vom 3. Juni 1993 noch einmal anzusehen. Von Jahr zu Jahr haben mehr Journalisten und Aktivisten diesen Tag falsch in Erinnerung. In ihrer Erinnerung verdichtet er sich auf einen Kanzler, der nicht getrauert, und auf ein Wort, das er nicht gesagt hat. Dass Kohl selbst es war, der das Wort »Beileidstourismus« benutzte, glaubt man inzwischen etwa bei der Heinrich-Böll-Stiftung, der Zeit oder der taz, dass es zumindest auf ihn zurückging, etwa bei der Frankfurter Rundschau, der Funke Gruppe oder beim Spiegel. Aus Mölln wird Solingen, aus Dieter Vogel Helmut Kohl, die Trauerbekundungen von hunderttausend anderen Menschen passen nicht mehr ins Bild.
Es lohnt sich wirklich, die Tagesschau vom 3. Juni 1993 noch einmal anzusehen (und die Tagesschau vom 4. Juni 1993 vielleicht gleich dazu).
Unabhängig davon, was Kohl nun konkret gesagt hat, so hat er sehr wohl den Trauernden seinen Respekt erwiesen.
Aber, auch wenn der Spruch vom Beileidstourismus nicht von ihm kam. So hat er doch zu Recht den Kern der Sache getroffen, weil die Show den Inhalt überdeckte.
Das liegt wesentlich an den Medien.
Als nicht Betroffener kann man Mitleid, Wut und Bedauern empfinden. Trauern ist aber eine Sache persönlicher Beteiligung.
Nach meinem Dafürhalten hat Kohl den Hinterbliebenen weit mehr Respekt erweisen als diejenigen, die hingefahren sind und sich damit selbst statt die Angehörigen in den Mittelpunkt gestellt haben.
Auch gut gemeinte symbolische Akte können respektloser sein, als der Verzicht darauf.
Ich würde es auf jeden Fall so empfinden.
Was soll dieser unsinnige Artikel?
Wer die 80er- und 90er-Jahre nicht miterlebt hat, könnte fast den Eindruck haben der grundkorrupte Helmut Kohl sei ein pietätboller Türkenfreund gewesen.
Kohl war einer schärfsten Gegner einer Integration der Türkei, als diese noch ein säkulärer und weitgehend demokratischer Staat war.
Er war einer der massgeblichen Ideen- und Tonangeber der Aulsländer-, bzw. Türken-Raus-Kampagne der 80er- und 90ger-Jahre.
https://www.tagesspiegel.de/meinung/auslaender-in-deutschland-kohls-tuerken-raus-plaene-trafen-einen-nerv-der-deutschen/8596018.html
Dieser Bewegung schloss sich am Ende dann faktisch auch die SPD unter Engholm und Lafontaine an, was zum sog. "Asylkompromiss" führte, d. h. zu einer Grundgesetzänderung, die das Asylrecht stark einschränkte.
Wenn Sie alles ausblenden, was Ihnen nicht in Ihr Bild passt, dann stimmt Ihr Bild, ja.
Wer die Zeit bewusst miterlebt hat, wird sich an mindestens drei historische Balkonszenen erinnern können und die älteren vielleicht an vier, die zeigen, dass das nationalistische Selbstverständnis in weiten Teilen der Bevölkerung und der Politik damals grösser war als das humanistische. Und mit jeder Balkonszene wurde es immer weniger human und immer nationalistischer.
Es begann am 19. März 1970 eigentlich an einem Fenster. Dort zeigte sich Willy Brandt bei einem Staatsbesuch in Erfurt kurz den DDR-Bürgern, nachdem diese "Willy! Willy!" skandiert hatten.
https://youtu.be/UM1DjY_OOgs
Weiter ging es mit der Inszenierung des Herrn Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft am 30. September 1989,
https://youtu.be/SzMoRHf71Oc
der dann unmittelbar danach der Schöneberger Einheitschor am 10. November 1989 folgte, der nach meiner Erinnerung die Nationalhymne auch auf einem Balkon sang, tatsächlich aber auf den Stufen vor dem Rathaus stattfand.
https://youtu.be/GdY7CxBC3V0
Als dann tagelang die Neonazis Asylanten und vietnamesische Vertragsarbeiter im September 1992 in Rostock Lichtenhagen terrorisierten und deren Wohnungen in Brand setzte, schaute die Polizei und unsere Regierung zu. Ich habe damals vergeblich darauf gehofft, dass einer von den vielen Politikerdarstellern den Mut gehabt hätte, nach Lichtenhagen zu fahren und sich auf dem Balkon vor die bedrohten Menschen zu stellen.
https://youtu.be/BkUQ4n_1ALU
(Balkonszene ab ca Minute 6.)
Stattdessen beugte man sich den Nazis und änderte das Grundgesetz.
https://youtu.be/n7PB6-gmDfw
Das Zitat wird seitdem gerne von Nazis verwendet. All die Beileidsadressen von Kohl, Genscher, Lafontaine, Seiters und Konsorten nach Mölln, Hoyerswerda, Solingen und wo überall geprügelt, gemordet und gebrandschatzt wurde, wirkten auf mich daher immer wie oure Heuchelei.
Um einen Artikel, wie den obigen zu schreiben, muss man nach meiner Meinung noch viel mehr ausblenden.
Dass auch Kohl von diesen Anschlägen betroffen war, möchte ich ihm durchaus abnehmen. Es gab niemand, der das nicht war. Sein Versagen bestand darin, kein Zeichen zu setzen – auch wenn es nur symbolhaft gewesen wäre. Doch für viele türkische Mitbürger wäre es ein starkes Signal der Verbundenheit gewesen. Er hat, wie in seiner ganzen Laufbahn, die Sache wieder einmal „ausgesessen“. Kohl war ein so schwacher Bundeskanzler, dass Angela Merkel dagegen wie eine Befreiung wirkte.
Für die Opfer des Attentats von Hanau gab es eine Demo mit dem Titel "#say their names". Für den toten Homosexuellen in Dresden, den ein syrischer Flüchtling auf den Gewissen hat, dagegen nicht.
Ich bin empört.
#4
man kann natürlich viel hineininterpretieren, aber weder passt ihre Interpretation zu den damaligen Intentionen noch zu den Einstellungen der Bevölkerung.
Zu meinne ist nationales Selbstgefühl keine Nationalismus, wie sie es offenbar laienhaft interpretieren.
Und zum anderen war Kohls Türkei Politik von Realismus und nicht Nationalismus oder Feindlichkeit geprägt.
Die türkischstämmige Einwanderung war zu massiv und zu schnell, um nicht zu Problemen zu führen.
Was man unschwer an den Vorurteilen erkennt, die insbesondere gegen türkische Einwanderung bis heute bestehen obwohl sie heute eher durch andere arabische Zuwanderung hervorgerufen wird.
Durch seine großzügige Rückwanderungförderung konnte das Problem aber vermindert werden.
Der Asylkompromiss war dem Umstand geschuldet, das eine Einwanderung in so gro0er Zahl das soziale Gefüge sprengen würde und Vorurteile und Ressentiments befördern würde, was sich ja auch seit 2015 bestätigt hat.
Was zu keiner Zeit passierte, war eine sinnvolle Aufsplittung in Asylbewerber und Migranten und auch keine sinnvolle Prüfung hinsichtlich Kriminalität und auch keine vernünftige Integrationsbemühungen hinsichtlich kulturell problematischer Voraussetzungen.
Der Asylkompromiss war vor allem deshalb nötig, weil keine Einigung über eine Einwanderungsgesetz erzielbar gewesen ist. Was letztlich jede Differenzierung zwischen Migranten und Asylbewerbern faktisch verhinderte und somit eine rein zahlenmäßige Lösung übrig geblieben ist, die der SPD half den äußeren Anschein zu wahren.
Sämtliche Probleme heute gehen auf die Verweigerung eines Einwanderungsgesetzes von SPD und Grünen und Anhang zurück.
[…] auf den Grund zu gehen. Und egal ob es um das Gerücht über Necla Kelek ging, Worte, die Helmut Kohl in den Mund gelegt wurden, oder um eine Studie mit einer bellenden […]