Küchenklatsche für die Ideologie

Ute Cohen Foto: Raimar von Wienskowski Lizenz: Copyright


Ich blase zur Küchenrevolution. In meinem Buch „Der Geschmack der Freiheit. Eine Geschichte der Kulinarik“ beschreibe ich, wie sich die Ideen der Aufklärung auch bei Tisch entfalten. Dabei machte ich eine erstaunliche Entdeckung: In der Küche offenbart sich der Zustand einer Gesellschaft. Am Teller lässt sich ablesen, wie es um die Freiheit, das Individuum und die Innovationsfreude bestellt ist. Revolutionen, so die Autorin, werden nicht selten bei Tisch angezettelt. Die Küche ist aber auch ideologiefrei und deshalb bester Nährboden und bestes Vorbild für Wirtschaftswachstum. Von unserer Gastautorin Ute Cohen.

Sag mir, was du isst und ich sage dir, wer du bist! Der Zustand der bürgerlichen Gesellschaft lässt sich an ihren Tellern ablesen. Keine köstliche Mélange findet sich dort, kein aufregendes Experiment. Vielmehr schwappt ein Einheitsbrei aus Küchen, die einst das Versuchslabor einer neuen bürgerlichen Gesellschaft waren. Wer empfindet nicht Abneigung gegenüber den immer gleichen Speisekarten, die Burger und Bowls in zahllosen Varianten durchdeklinieren?

Dem kulinarischen Überdruss entspricht ein gesellschaftlicher Ennui, der sich in Politikverdrossenheit und sozialer Lustlosigkeit äußert. Ein Phänomen, das auch früheren Epochen nicht unbekannt war. Bereits 1853 schrieb Alexis de Tocqueville in einem Brief: „Ich bin fest davon überzeugt, dass sich politische Gesellschaften nicht über die Gesetze erklären lassen, sondern über die Gefühle, den Glauben, die Ideen, die Gewohnheiten des Herzens und des Geistes der Menschen, darüber, wie Natur und Erziehung diese Menschen geformt haben.“

Gastronomen sehen sich mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, die sie selten mit der nötigen Radikalität, noch weniger mit historischer Kenntnis anpacken. Darin sind sie klassischen Unternehmen ähnlicher, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Es mangelt an Personal, die Kosten für Rohstoffe steigen und die Erwartungshaltung von Kunden an moralische Makellosigkeit sind hoch. Wer Punchy Jerk Rice serviert, setzt sich schnell dem Vorwurf kultureller Aneignung aus. Wer Erfolg sucht, ausgetragen auf dem Rücken billiger Suppenknechte, wird schnell vors Gastgericht gezerrt. Es ist kein Zuckerschlecken, ein Restaurant zu betreiben. Anstatt sich auf den Kern ihres Business zu besinnen, den Gast lustvoll und kundig zu verköstigen und den Geschmack zu bilden, schmiegen sich Wirte allzu an Moden an oder unterjochen sich Ideologien.

Auf der anderen Seite ist es in vielen Etablissements kein Vergnügen mehr, Gast zu sein. Schlechter Service, Speisen minderwertiger Qualität und eine beschränkte Auswahl sind inzwischen an der Tagesordnung. Der Gast speit seinen Unmut ins Netz hinaus ohne Rücksicht auf Verluste. Die professionelle Gastrokritik dagegen ist fad wie keimfreie Kost.

Ein Vierteljahrtausend bürgerlichen Speisens ist im Verschwinden begriffen. Verloren gehen dabei Errungenschaften, und Ideen, die nicht nur unsere Kulinarik geprägt haben, sondern die bürgerliche Gesamtgesellschaft. Während der französischen Revolution hatte sich herausgebildet, was die nächsten Jahrhunderte bis heute prägen sollte: Wahlfreiheit beim Essen, Formbewusstsein bei der Kreation der Gerichte und der Darreichung der Speisen, schließlich ein kultiviertes, auf Anregung und Versöhnung ausgerichtetes Tischgespräch.

Kulinarik war Ausdruck bürgerlicher Freiheit, der Sehnsucht des Citoyens, neue Formen des Miteinanders zu erproben und dem Gaumen ebenso zu vertrauen wie dem Verstand. Dieser Appell an die Schulung der eigenen Wahrnehmung und der Einbindung aller Sinne bei der Suche nach Lösungen bleibt heute jedoch oftmals ungehört. Die Angst grassiert, das Bedürfnis nach Rückversicherung des eigenen Fühlens und Denkens durch externe Autoritäten und abgesegnete Dogmen wächst.

Und doch gibt es auch heute unverdrossene Utopisten, radikale Neuerer und verträumte Traditionalisten, die ihr Glück suchen auf dem Boden einer vergehenden Bürgerlichkeit. Sie schöpfen aus der Historie und erproben neue Technologien, erkennen die Stärken und Schwächen einer streng hierarchischen Küchenbrigade und versuchen sich an fruchtbringenden Best-Practices aus Disziplin und gleichberechtigter Teamorientierung. Gemein ist ihnen, dass sie sich nicht leiten lassen von Moralinsäure und Ideologie, sondern vom Geschmack, verstanden als sinnliche Erfahrung und intellektuelle Unterscheidungsfähigkeit. In der Kulinarik-Serie „The Bear“ ruht sich ein wahrhaft diverser Trupp junger Menschen nicht auf ihren unterschiedlichen Herkünften aus, sondern bündelt die vielseitigen Talente im Namen eines gemeinsamen Ziels. Mit Fantasie und Fleiß engagiert sich das – nennen wir’s beim Namen – ehrgeizige Team für den gemeinsamen Traum vom Sternerestaurant. Dabei werden tradierte Führungsstile nicht einfach auf dem Kompost entsorgt, sondern amalgamiert mit zeitgemäßen Praktiken: „Chef“ ist die wechselseitige Ansprache aller in dieser flachen Küchenhierarchie. Kochkunst und kulinarisches Wissen diffundieren in Street Credibility. Einig sind sich alle darin, dass Verbohrtheit den Brei verdirbt und Mittelmaß noch keinem gemundet hat. Das ist neu, das ist revolutionär, da diese Serie unserer auf Gleichheit und den Abbau von Hierarchien kaprizierten Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Soziologischer Normenversessenheit und protestantischer Verbotskultur erteilt sie ebenso eine Absage wie einem küchenmilitärischen Backlash. Es ist eine selbstbewusste Kreolisierung der Sitten und Riten, der Techniken und Künste, die hier ihren Ausgang nimmt. Vor allem aber ist es eine Küchenklatsche für die Ideologie.

Die Küche vermag, sofern vom unerschrockenen, visionären Geist belebt, erneut Experimentalllabor neuer gesellschaftlicher Praktiken werden.

Das Erfolgsrezept ist, historisch Erprobtes mit Neuerungen zu verbinden und ideologischen Kehricht zu entsorgen. Ähnlich verhielt es sich auch mit den großen kulinarischen Errungenschaften Ende de 18. Jahrhunderts. Auch die Französische Revolution und die ihr entsprungenen Restaurants sind gekennzeichnet durch Brüche und Kontinuität zugleich. In der Geschichte der Kulinarik gibt es zahlreiche Belege für eine Innovationskraft, die von Einzelunternehmern ausgeht und regimeübergreifend wirkt. So verdankt sich der Siegeszug der Kartoffel vornehmlich dem Pharmazeuten Antoine de Parmentier, der sowohl das Ancien Régime als auch die Revolutionäre vom Potenzial des Nachtschattengewächses zu überzeugen wusste. Auch die Restaurantkritik ist undenkbar ohne die sprachliche Raffinesse des Adels, fruchtbar gemacht von Alexandre Grimod de La Reynière für eine bürgerliche Restaurantlandschaft und den mündigen, wahl- und bildungsfreudigen Gast.

Es ist der Geschmack, der den neuen Bürgern zu einer Überwindung der Ideologie verhalf. Geschmack begriffen die Aufklärer und ihre kulinarischen Verfechter als ein sinnliches Urteilsvermögen, als etwas, das Ratio und Empfindsamkeit verbindet und damit eine Kraft entfaltet, die herkömmliche Problemlösungsansätze übertrumpft.

Anknüpfen ließe sich auch heute an zwei Denkstränge und Restaurantarten, die sich Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet haben: Auf der einen Seite sogenannte Maisons de Santé, gesundheitsorientierte Restaurants, und auf der anderen Seite genussfokussierte Häuser. Schon damals stellte sich die Frage, ob wir Gesellschaft als Selbsthilfegruppe der Empfindsamen und Erziehungsregulativ begreifen wollen oder als eine Dienstleistungsgesellschaft mit Nutzenorientierung für die Gemeinschaft. Wenden wir uns einem Naturcalvinismus à la Rousseau oder eigenverantwortlicher Genussorientierung zu?

Der Jurist und Gastrosoph Brillat-Savarin mokierte sich schon vor über hundert Jahren über die Verzärtelung der empfindsamen Zeitgenossen: „Soll man aber Mäulchen genügen, die sich nur zum Lächeln öffnen, Frauen befriedigen, die in Duft aufgehen, Mägen in Bewegung setzen, die aus Papier bestehen, und Zierpuppen anlocken, deren Appetit nur ein Gelüste ist, das augenblicklich hinstirbt, so bedarf man mehr Erfindungsgabe, mehr Scharfsinn und Arbeit, als wenn es gilt, eine der schwierigsten Aufgaben der Geometrie des Raumes zu lösen.“

Die größte Herausforderung war es für ihn, bürgerlicher Freigeistigkeit und Experimentierfreude mittels Geschmacks zum Erfolg zu verhelfen. Daran lässt sich anknüpfen, daraus lässt sich schöpfen. Geschmack, geschult, erprobt und immer wieder neu geformt, ist ein formidabler Wegweiser an der Grenze zwischen gesellschaftlicher Utopie und Dystopie, ein exzellentes Tool zur Wiederbelebung von Bürgerlichkeit und Orientierungshilfe auch in postbürgerlichen Biotopen.

Mehr zu dem Thema:

Der Geschmack der Freiheit: „Naturcalvinismus hat dem Gaumen noch nie ein Wohlbehagen beschert“

 

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