Manchmal ist es besonders berührend, wie wenig etwas berührt. Zum Auftakt zeigt die Ruhrtriennale 2014 mit Romeo Castelluccis Inszenierung des Ballettklassikers gleich die Produktion, die im Vorfeld für die größte Neugier sorgte und mit Spannung erwartet wurde.
40 an der Bühnendecke hängende Maschinen übernehmen die Rollen der Tänzer. Sie bedecken rotierend, schwingend oder an Schienen entlang fahrend den Bühnenboden mit dem Düngemittel Knochenstaub. In kaltem, zeitweilig weichgezeichneten Neon- und Stroboskop-Licht wird so die Geschichte eines Jungfernopfers zur Frühlingsweihe in neuen Bildern erzählt. Diese ähneln einem Wasserfontänenspiel, nur wird Wasser nun mal eher als lebensspendend betrachtet als Staub, der mit Tod und Vergänglichkeit in Verbindung gebracht wird. Daneben unterstreicht die Abwärtsbewegung die brodelnde Aggressivität von Strawinskys oft elementar-ritueller Rhythmik, die in der Einspielung des MusicAeterna Orchester unter der Leitung von Teodor Currentzis besonders betont wird.
Die Menschenleere führt dabei allerdings zu einer erstaunlichen Versachlichung des Opferthemas. Ein Mitleiden würde einen Bezugspunkt voraussetzen, den weder die Staubsäulen und -kaskaden noch die bedrohlichen Klänge bieten. So kann das Publikum das Geschehen lediglich passiv auf sich wirken lassen. Eine kühle Mondlandschaft beherrscht von Technik, die steril wirkt und fremd: Man sieht zu, wie sich der gedüngte Boden weiß leuchtend, ähnlich dem Bauch einer Schwangeren, langsam wölbt, und zuckt kurz zusammen, als sich die Staubdüsen gegen einen richten und zu feuern beginnen.
Zum zweiten Teil schließt sich der Vorhang, und Text liefert Fakten über den Knochenstaub, die die jetzt zum Teil lyrische Traurigkeit und Zerrissenheit der Musik aber zu Beiwerk werden lassen. Die Macht des Wortes überspielt die Klangkraft. Und doch stellt sich die Frage nach Sinn und Notwendigkeit angesichts der Zahlen – 75 Rinder mussten für 30 Tonnen Knochenstaub ihr Leben lassen – tatsächlich ebenso eindringlich, wie sie sich stellt, wenn man einem Mädchen dabei zusieht, wie es sich zu Tode tanzt. Aber nur durch einen Trick: Ein zuviel an Informationen, die für die Beantwortung der Sinnfrage uninteressant sind, bei gleichzeitigem Weglassen der Bezugsgrößen. Denn der Zuschauer erfährt weder, wie viel übersäuerter Boden durch diesen Dünger urbar gemacht werden kann, noch werden Alternativen aufgezeigt. Der Verstand arbeitet also fieberhaft ohne Basis für ein Ermessen. Auch auf diesem Umweg wird ein Erfassen des Dramas, das sich bei einem Lebensopfer abspielt, nicht möglich. Eine Ergebnisoffenheit, die unbefriedigend wirkt.
Der Applaus ist spärlich, denn als Reaktion auf Gefühlsebene passt er nicht in dieses Gedankengerüst aus Maschinen und Worten, das Castellucci in die Gebläsehalle des Landschaftspark Duisburg-Nord gestellt hat und dem die Auflösung fehlt.
Der italienische Regisseur wollte mit dieser Produktion die Diskussion anstoßen, ob „Le Sacre du Printemps“ als musikalisch-choreographisches Werk noch getanzt werden kann oder ob es heute anderer szenischer Mittel bedarf, um die Kollision von Schönheit mit der Brutalität der Opferung erfahrbar zu machen. Welches szenische Mittel man auch immer wählt, ein Opfer muss als solches verstanden, besser aber noch empfunden werden, denn nur so dringt die Tragweite des Vorgangs in das Bewusstsein.
Was Castelluccis „Le Sacre du Printemps“ also vor allem belegt, ist, dass maschinelle Bearbeitung es Menschen erlaubt, sich gefühlsmäßig von einer Handlung zu entfernen. Dann kommt es auf die Menge und Qualität der Informationen an, ob der Verstand dafür sorgt, dass Menschlichkeit sich doch noch Bahn bricht oder ob Entwicklungen, auch wenn sie fehl gehen, nur noch mit einem ratlosen Schulterzucken hingenommen werden.