Letzte Schicht: Die in die Hölle fuhren

Wohnen und Bergbau. Im Saarland war alles auf die Kohleförderung ausgerichtet. Foto: Mario Thurnes

Die letzte Zeche schließt, nach Jahrhunderten geht die Ära des Bergbaus zu Ende. Ruhrbarone-Autoren erzählen in den kommenden Wochen in loser Folge darüber, was sie mit der Welt der Zechen verbindet.  Heute schreibt unser GastautorMario Thurnes über den Bergbau im Saarland.

Das Saarland war der Pott im Kleinen: Ländlich statt urban, aber auch komplett von Kohle und Stahl geprägt. Damals.

Als Kind hatte ich Angst, das Gelände der Göttelborner Grube zu betreten. Ich fürchtete, aus Versehen „untertage“ zu geraten. Und was mir mein Vater von „Untertage“ erzählt hatte, klang wie ein Report aus der Hölle: Geschichten über extreme Hitze, Kälte, Schweiß, Staub und Dreck. Er musste es wissen, er gehörte zu den Bergleuten, die dort einfuhren.

Wenn wir mit unserer Mutter auf dem Gelände waren, dann um in der „Kaffeekich“ einzukaufen, der Firmenkantine des Bergwerks. Dort gab es unter anderem günstige Wurst. Allerdings galt es, die richtige Zeit zu wählen. Denn wenn Schichtwechsel war, kamen die Bergleute stoßweise. Und sie durften sich in der Kaffeekich vorne anstellen. Die Leute, die nicht frisch aus der Hölle kamen, mussten warten – das stellte auch niemand in Frage.

Den Bergleuten standen im Saarland Privilegien zu: Für sie gab es den Grubenbus. In einem Land ohne nennenswerten öffentlichen Nahverkehr ein nicht zu unterschätzendes Privileg. Und sie haben mehr Geld verdient. Mit den verschiedenen Zuschlägen wurden sie zu vergleichsweise wohlhabenden Männern, die sich ihre Häuser bauten. Noch heute ist die Eigenheimquote im Saarland die höchste in Deutschland.

Und aus ihrem Status entwickelten die „Berschleit“ ihren Stolz: Nicht nur, weil sie mehr besaßen. Auch weil sie täglich in die Hölle fuhren und sich der unfassbar harten Arbeit stellten. Hart zu arbeiten wurde zu dem gesellschaftlichen Gradmesser im Saarland: „Der schafft nix“ ist dort ein vernichtendes Urteil. Gesteigert werden kann es nur noch durch den Zusatz „Dummschwätzer“ – es ist kein Zufall, dass dies dank „Heinz Becker“ zum bekanntesten saarländischen Schimpfwort wurde.

Zu Zeiten der Pubertät waren die Azubi-Bergleute schier unbesiegbare Gegner: Sie hatten Muskeln, gegerbte Haut und Geld. 80er waren für sie Standards. Als 16-jähriger Gymnasiast auf dem Fahrrad bei den Mädels dagegen zu halten, war nicht gerade einfach.

Als ich in das Alter kam, stand schon längst fest, dass die Ausbildung auf der „Grub“ auf Dauer eine für die Arbeitslosigkeit war. Den Startvorteil bei den Mädels hatten die Bergwerk-Azubis trotzdem. Doch der verlief sich mit der Zeit. Ganz viele Gymnasiastinnen hatten als ersten Liebhaber einen Bergwerks-Azubi und dann später einen festen Freund, der sich in ihren Kreisen bewegte.

Mit dem Niedergang des Bergbaus ging auch der Stolz der Bergleute zugrunde. Allmählich. Manche konnten sich in die Frührente retten, andere mussten umschulen oder improvisieren. So sind sie heute Taxifahrer oder Altenpfleger. Ehrenwerte Berufe. Wichtige Berufe. Aber für Menschen, die in der Hölle bestanden haben, ein Abstieg. Zumindest ein Wechsel, der es nur sehr schwer zulässt, das alte Selbstverständnis, den alten Stolz und Standesdünkel aufrecht zu erhalten.

So befindet sich ein ganzes Land im Niedergang. Nicht unbedingt wirtschaftlich. Da wechseln sich Erfolgsgeschichten und Horrormeldungen ab. Den offenen und nahen Grenzen Luxemburg sei’s gedankt: Es gibt Möglichkeiten, im Saarland zu leben und Geld zu verdienen.

Doch das Selbstvertrauen ist den Berschleit verloren gegangen. Die Identität. In ihren Häusern gab es früher einen Grubenwinkel. Vergleichbar mit einem Marienaltar standen dort Devotionalien: Lampen oder präparierte Kohlestücke. An den Wänden hingen Steigerstöcke und Kupferstiche von alten Fördertürmen. Es sollte jeder sehen, dass hier ein Bergmann lebt.

Die Kaffeekich in Göttelborn gibt es noch. Sie ist umgebaut. Zu einem modernen Restaurant, in dem es auch vegetarische Gerichte gibt. Dort verkehren auch ehemalige Bergleute. Doch sie sind alt geworden. Selbst wenn sie noch jung sind.

Es sind nicht mehr die strammen Kerle mit schmutzigen Gesichtern, die sich wie selbstverständlich ihr Recht rausnehmen, vorne in der Schlange zu stehen. Sie sitzen an ihren Plätzen, warten auf die Kellnerin, bestellen das vegetarische Gericht oder auch den Käsekuchen und ihre Körperspannung lässt längst nicht mehr vermuten, dass sie die Hölle meistern könnten. Vielleicht kommt sie noch in ihren Tischgesprächen vor. Als Geschichte aus einem Land und einer Zeit, die es so nicht mehr gibt.

In der Serie bereits erschienen:

Letzte Schicht: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!

Letzte Schicht: Bottrop, damals …

Letzte Schicht: Glück auf!

Letzte Schicht: „So roch früher das ganze Ruhrgebiet, so roch meine Kindheit“

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