Leutheusser-Schnarrenberger: „Für Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Konfrontation mit Antisemitismus Teil ihres Alltags“

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Anitsemitismus-Beauftragte NRW | (c) Land NRW 2018


Im Jahr 2022 wurden 331 antisemitische Straftaten in Nordrhein-Westfalen dokumentiert. Mit 287 Straftaten wird der überwiegende Teil dem Phänomenbereich rechts zugeordnet.

Im Jahr 2022 wurden 331 antisemitische Straftaten in Nordrhein-Westfalen dokumentiert. Mit 287 Straftaten wird der überwiegende Teil dem Phänomenbereich rechts zugeordnet. Im Vergleich zum Jahr 2021 ist damit zwar ein Rückgang der antisemitischen Straftaten zu verzeichnen. Einen Grund zur Entwarnung sieht die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger jedoch nicht:

„Jede antisemitische Straftat ist eine zu viel. Der Rückgang der Straftaten im vergangenen Jahr ist zwar ein guter Trend, das Ausmaß an Hass und Gewalt der Straftaten aber scheint eher zuzunehmen: Die Schüsse auf das ehemalige Rabbinerhaus der Alten Synagoge Essen haben uns dies im vergangenen Jahr noch einmal deutlich gezeigt. Für Jüdinnen und Juden in Deutschland ist die Konfrontation mit Antisemitismus Teil ihres Alltags. Eine stärkere Einbeziehung der jüdischen Perspektive auch in der Präventionsarbeit ist unabdingbar. Darüber hinaus müssen auch aktiver Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze in den Blick genommen und auf diese reagiert werden. Ein wichtiger Faktor ist hierbei Hass und Hetze im Internet. Denn durch Taten oder Aussagen, welche nicht in den Strafbarkeitsbereich fallen, wird der Weg für schwerwiegendere und gewalttätige Fälle bereitet oder auch normalisiert.“

Im vergangenen Jahr habe ich zusammen mit dem Ministerium des Inneren eine Dunkelfeldstudie in Auftrag gegeben, welche die antisemitischen Einstellungen in Nordrhein-Westfalen milieuspezifisch untersucht.  Denn antisemitische Straftaten lassen sich nicht mehr so einfach klassischen Phänomenbereichen zuordnen. Antisemitismus ist wandelbar und wird gezielt eingesetzt.

Erinnert sei auch an die von Putin verwandten Narrative im vergangenen Jahr zur Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf die Ukraine. Nur wenn wir die Ausprägungen kennen, können wir auch zielgerichtet Präventionsarbeit leisten.

Die Antisemitismusbeauftragte weiter: „Für mich ist der unverändert gegenwärtige Antisemitismus täglicher Ansporn und Herausforderung. Und es gibt Erfolge: Es werden immer mehr Menschen mit Informationen über die verschiedenen Formen des Antisemitismus erreicht und zum Engagement ermutigt. Die Arbeit in den Schulen gegen Antisemitismus wird weiterentwickelt, die Strukturen zum Vorgehen gegen Antisemitismus wurden verbessert und die Vernetzung wird vorangetrieben. Die Meldestelle Antisemitismus (RIAS NRW) in Nordrhein-Westfalen, die ihre Arbeit im vergangenen Jahr aufgenommen hat, wird ebenfalls zur Erhellung des Dunkelfelds beitragen, wie auch die 22 Antisemitismusbeauftragten bei den Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften, welche 2022 ihre Arbeit aufgenommen haben. Beide strukturellen Verbesserungen sind ein wichtiges Zeichen an die Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen.“

„Im Jahr 2022 wurde der öffentliche Diskurs zum Thema Antisemitismus durch die Vorfälle im Zuge der documenta fifteen geprägt. Leider hat es bei den Verantwortlichen der documenta zu oft an frühzeitigen klaren Distanzierungen und Haltung gefehlt. Es führte auch dazu, dass die Unsicherheiten bei Jüdinnen und Juden über das künftige jüdische Leben in Deutschland größer geworden sind. Die über die Kunstfreiheit und ihre Grenzen angestoßene Debatte ist wichtig und muss kritisch und offen geführt werden. Sie sollte sich nicht nur auf die Vorfälle rund um die documenta fifiteen konzentrieren, sondern insgesamt den Kunst- und Kulturbereich in den Blick nehmen. Insbesondere der Umgang mit Unterstützern der BDS-Bewegung und mit jüdischen Kulturschaffenden sollte untersucht und hinterfragt werden. Wir sehen die Notwendigkeit gerade in den Diskussionen um die Konzerte von Roger Waters in Köln. Verbote für Auftritte in öffentlichen Einrichtungen zu verhängen, ist schwierig. Die Zivilgesellschaft ist hier gefordert, Haltung zu zeigen – in Köln ist dies mit Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen gut gelungen“, so Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Abschließend erklärt die Antisemitismusbeauftrage: „Im Jahr 2023 feiert das Land Israel seinen 75. Geburtstag. Leider ist die Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten von Konfrontation und immer wieder auch Gewaltanwendung geprägt und sehr angespannt. Die Gefahr ist latent, dass es auch zu Demonstrationen in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen kommen kann, die wie im Mai 2021 auch gewalttätig sein können. Die Emotionalität lässt die Unterscheidung zwischen berechtigter Kritik an der Politik Israels und dem israelbezogenen Antisemitismus aus dem Blick geraten. Das wiederum kann zu weiterer Verunsicherung führen. Wir werden deshalb weiter Aufklärung betreiben, Informationen vermitteln und an strukturellen Veränderungen wie unter anderem der verpflichtenden Befassung mit Antisemitismus in der Ausbildung zum Lehramt arbeiten.“

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nussknacker56
nussknacker56
1 Jahr zuvor

Habe schon befürchtet, es kommt nicht mehr: „… zwischen berechtigter Kritik an der Politik Israels und dem israelbezogenen A. …“ Jetzt bin ich ziemlich erleichtert. Es wäre ja sozusagen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, deswegen auf das Recht auf Israelkritik verzichten zu müssen. Die Gewaltanwendung in Israel und den palästinensischen Gebieten wurde ebenfalls angesprochen, alle wissen, was gemeint ist, da braucht man keine Namen nennen. Und auch die Kritik an den documenta-Verantwortlichen ist sehr schön emphatisch ausgefallen. „Leider hat es … zu oft … an frühzeitigen … klaren Distanzierungen … gefehlt.“ Die Ärmsten haben nun wirklich genug Schimpfe bekommen, da muss man nicht noch mal nachtreten.

Gut gemacht, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.

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