Liebe ist wahre Magie – Das Ballett „Krabat“ von Demis Volpi in Düsseldorf

Demis Volpi „Krabat“: Damián Torio (Der Meister), Ensemble Ballett am Rhein, Foto: Daniel Senzek

Liebe, Freundschaft und Mut sind stärker als dunkle Mächte. Kaum eine andere Geschichte veranschaulicht liberale Werte der Aufklärung so von entscheidender Kraft, wie das erstmals 1971 erschienene Jugendbuch „Krabat“ von Otfried Preußler. Längst gehört die sorbische Sage zum curricularen Stoff in Schulen. Das Buch wurde in 31 Sprachen übersetzt. Der Choreograf Demis Volpi wählt die Sprache des Tanzes. Er entwickelt ein Handlungsballett, das die Gemüter spaltet; zu einem Pro und Kontra eines Ballettabends in der Deutschen Oper am Rhein.

Über Feuilleton Journalisten sagt man, man erkenne sie daran, dass ihr Platz nach der ersten Pause im Opernhaussaal schon leer sei. Dann müsste es am Mittwochabend im Düsseldorfer Haus ein paar mehr meiner Profession gegeben haben. Während der Ballettvorstellung von Krabat taten sich merklich ein paar Lücken in den Reihen auf. Am selben Abend gab es aber auch frenetischen Jubel und Standing Ovations. Wie kommen hier die eine und die andere Beobachtung zusammen? Die Inszenierung vom Chefchoreografen Demis Volpi verdient eine faire Einordnung, warum es sich lohnt, kein voreiliges Urteil zu fällen und sich Krabat zu widmen.

Krabat gehört zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur. Kann ein legendäres Buch auch ein legendäres Ballett werden? Diese Streitfrage beschäftigt jeher Befürworter des Wortes und Verfechter des Bildes. Ich mag das Ballett als Erzählform, weil es eine multisensuelle Erzählform ist. Multi-was?

Es geht um Kommunikation, die mehrere Sinnesorgane gleichzeitig anspricht. Vor allem visuell-auditive, manchmal auch olfaktorische und haptische Reize sind es, die mich nicht selten nach keinen drei Minuten zum Weinen bringen. Auch Krabat hat ein starkes Opening. Aus dem Orchestergraben ertönen Streicher, die Hauptprotagonisten nehmen Position im Scheinwerferlicht ein, der Vorhang hebt sich und gibt den Blick auf die Reihe der eleganten funkelnden Raben frei.

Das geheimnisvolle Geschehen dreht sich um einen Waisenjungen, Krabat, der als Lehrling neben elf weiteren Gesellen im Bann eines einäugigen Zaubermeisters in der schwarzen Mühle gefangen ist. Tag ein, Tag aus schuften die Jungen in der Mühle, worüber der Meister mit harter Hand wacht, im schwingenden Gehrock von Niklas Jendrics getanzt. Jedes Jahr stirbt ein Geselle auf mysteriöse Weise. Schon 2008, als es den gleichnamigen Film mit David Kroos, Daniel Brühl und der Erzählstimme von Otto Sander in den Kinos gab, war es faszinierend zu sehen, wie sich eine dunkle Macht Kinderseelen einverleiben will. Und diese Geschichte soll für Kinder und Jugendliche geeignet sein?

In Krabat liegen fachliche und überfachliche Aspekte mit kanonischem Gehalt. Doch zunächst einmal wird es in Volpis Krabat ähnlich anstrengend wie bei Zwölftontechnik, wenn der Cello-Stock kratzt und quietscht, als ob dieser die Körner auf dem Schleifstein zerquetscht. Eine solche dodekaphonische Anmutung muss man als Zuschauer auch erst einmal aushalten können. Zeitgenössische Klangkunst kann bekanntlich sperrig sein.

Durchbrochen wird das Mühevolle der Mühle immer wieder von der Leichtigkeit des Seins, verkörpert von elfenhaften Tänzerinnen, die im Reigen den erschöpften Gesellen Lebendigkeit spenden.

Es ist kein Zufall, das just beim Auftritt der Mädchen eine überarbeitete Version des deutschen Volkslieds „Die Gedanken sind frei“ erklingt. Während ich im Zuschauerraum sitze, bemerke ich, dass es tatsächlich das einzige Kinderlied neben Weihnachtsliedern ist, das ich seit meiner Grundschulzeit textsicher mitsingen kann. Es findet sich ein politischer Appell in dem Liedtext, sich aus Unterdrückung oder Gefährdung zu befreien. So spielte einst Sophie Scholl ihrem inhaftierten Vater 1942 vor den Gefängnismauern die Melodie vor. Preußlers eigene Jugend wurde 1942 abrupt beendet, als er an die Ostfront einberufen wurde. Von dem Lied fühlen sich die Gesellen angezogen und nacheinander verliebt sich ein Geselle.

Demis Volpi „Krabat“: Rafael Vedra (Tonda), Norma Magalhães (Worschula), Tänzerinnen des Ballett am Rhein (Mädchen), Foto: Daniel Senzek

Wie in einem Gemälde von Nicolas Poussin durchkreuzt eine wattierte Landschaftsidylle die Tristesse der bis unter die Bühnendecke gestapelten Kornsäcke. Auch hier flattern die Kleidchen der Tänzerinnen farblich individuell aufeinander abgestimmt, als ob die Farbpalette von den neuseeländischen Wiesen aus „Herr der Ringe“ stamme. Der tanzende Elfenringel zeigt den Jungen eine bessere Welt, in der sie sich frei entfalten könnten. Zur Unterwerfung unter den Meister verwandelt dieser aber die Gesellen in Raben. Die Mädchen, die sich in einen Gesellen verlieben, treibt er zur Strafe in den Wahnsinn. Gleichzeitig erlangen die Gesellen über die Verwandlung auch Fähigkeiten der schwarzen Magie, die sie zunehmend gegen den eigenen Lehrmeister verwenden.

Wer also an der Stelle kritisiert, dass in Volpis Balletten generell zu wenig getanzt werde und Redundanzen entstehen, der müsste die Erzählbasis von Preußlers Buch ausgehend infrage stellen. Gerade im Wechselspiel von Wiederholungen und Brüchen, Routinen und mutigen neuen Wegen, in denen sich das Autonomiestreben von Jugendlichen zu entfalten sucht, bringen Buch und Ballett das charakteristische Wesen von Mündigkeit hervor. Es sind die Handlungsschritte des Erwachsenwerdens in Dilemma Situationen, entscheidungskräftig Konflikte überwinden zu lernen. Krabat, um seine Seele ringend getanzt von Pedro Maricato, entscheidet sich für die Liebe zu Kantorka.

Die Rabenkostüme sind im Übrigen exzellent gearbeitet und deren Flügelspannweite verleihen den geknechteten Burschen eine würdige Erhabenheit. Sie wurden von Katharina Schlipf bravourös und geschmeidig angefertigt, die für jeden Tänzer individuelle Anpassungen vorgenommen hat. Sie zeichnet auch für das ausgesprochen beeindruckende Bühnenbild verantwortlich. Schlipf beherzigt „weniger ist mehr“ auf den Punkt und schafft den nötigen atmosphärischen Raum für die Gesamtdramaturgie.

Das Bühnenbild besteht aus einer Akkumulation von über 1400 Mehlsäcken, auf denen sich durch die Lichtsetzung vor allem bei den jeweiligen Pas de Deux ein wunderbares Schattenspiel der frischen Liebe um ein Vielfaches größer abbildet. Später werden jene Säcke auch zu Leichensäcken.

Demis Volpi „Krabat“: Lara Delfino (Herr Gevatter), Damián Torio (Der Meister), Foto: Daniel Senzek

Der Schwarze Meister wird wiederum von einer teuflischen Figur gesteuert. Als personifizierter Tod verkörpert der Herr Gevatter sinnbildlich, nahezu nur mit ihren Händen vertanzt von Clara Nougué-Cazenave, die zeitlose Ebene von Machtstrukturen, über die einzig die universelle Kraft der Liebe erhaben ist.

Der Mühlmeister verkörpert das Böse, während Krabat und seine Verbündeten für das Gute kämpfen. Nur gemeinsam mit seinen Mitgesellen und der Hilfe der Kantorka, deren Liebe von reinem Herzen getragen ist, getanzt von Sophie Martin in einem präzisen Auswärts und Vorwärts, gelingt es Krabat, den Meister zu besiegen. Es ist beider ungebrochener Wille, sich zu emanzipieren, um die böse Macht zu überwinden. Wer also nach Teil 2 aus der Vorstellung flüchtet, hat den wichtigen dritten Teil verpasst. Dann erst zeigt sich, wozu die Liebe imstande ist, egal welcher Prüfung sie unterzogen wird. Und Volpi kreiert dafür starke Bilder.

Sicher, wenn Schwanensee als Maßstab jeden Federviehs auf den Bühnen gilt, muss bei Volpis Krabat auf Raumdiagonalen von technischer Virtuosität seiner Raben verzichtet werden. Traditionelle Erzähltechniken im Ballett kann man mit dem Ansatz, den Volpi anbietet, nicht gegeneinander ausspielen. In der zweiten Pause vor dem Höhepunkt des Stücks spreche ich die 13jährige Ida an, wie ihr das Stück gefalle. Ihre Augen leuchten: „Mir gefällt, dass nicht nur getanzt, sondern auch gespielt wird. Das ist wie Pantomime und ich verstehe die Geschichte.“

Eine Besucherin im magischen Spiegel mit Augmented Reality aus Demi Volpis Nussknacker im Eingangsbereich der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf, Foto: Anna Maria Loffredo

Als Didaktikerin und sog. Anwältin aufgeklärter Kinder und Jugendliche muss ich abschließend in einem wesentlichen Punkt eine Lanze für Krabat als Buch und auch als Ballett brechen. 2013 hatten Eltern aus Bocholt geklagt, die den Zeugen Jehovas angehören, dass die Abenteuergeschichte vom Müller- und Zauberlehrling Krabat mit ihren religiösen Überzeugungen kollidiere. Ich kann mir auch noch andere Gründe von Eltern vorstellen, warum sie ihren Kindern Krabat verweigern wollen. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hatte „Krabat“ nicht als Befreiungsgrund vom Schulbesuch akzeptiert.

Damit gaben die Bundesrichter einem Revisionsantrag des Landes Nordrhein-Westfalen gegen ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster statt. Wenn ich mir Volpis Inszenierung genauer betrachte, könnten auch hier Gründe gefunden werden, weswegen Eltern ihren Kindern den Besuch des Balletts verbieten. Wenn aber ständig von Demokratiefähigkeit als Bildungsziel und Bildungschancen für alle geschwafelt wird, dann wäre genau in der Oper am Rhein mit Volpis Krabat ein Lernen im Leben möglich, um über das eigene Dasein zu reflektieren, um medientheoretische Analysevergleiche vornehmen zu können und auch einen Blick hinter die Kulissen zu gewinnen, um außergewöhnliche Berufe wie den von Julia Schinke zu entdecken, die als Dramaturgin an der Oper am Rhein arbeitet.

Der Aufgabe, Buch und Ballett versöhnt miteinander zu denken, hat sich der in Argentinien geborene Choreograf Demis Volpi mit diesem Handlungsballett in drei Akten gestellt, das er in Stuttgart 2013 uraufführte. Dort war er seit 2004 erst als Tänzer und seit 2006 zusätzlich als Choreograf engagiert, im einstigen Haus von John Cranko. Das muss man vielleicht bei Volpis Stilistik und Entschiedenheit, Stücke anzupacken mitdenken. Den aktuellen Film über Cranko quer dazu zu sehen, könnte hilfreich sein. Nachdem Volpi Stücke für das American Ballet Theatre, das Lettische National Ballett Riga, das Ballet de Santiago de Chile und das Königliche Ballett Flandern inszeniert hatte, holte ihn das Ballett am Rhein ab der Saison 2020/21 als Ballettdirektor und Chefchoreograf. Seine raketenähnliche Karriere geht mit seiner Berufung im August 2024 in Hamburg weiter. Dort tritt er die Nachfolge von keinem geringerem als John Neumeier an.

Ich wünschte, die Inszenierung von Demis Volpi bliebe noch ein wenig länger als bis zum 4. Januar 2025 im Düsseldorfer Programm. Mediologisch betrachtet hat jedes Medium spezifische Stärken in Rezeption und Produktion. Die Frage, ob Buch oder Ballett die höchste emotionale Wirkung erzielt, wird der Geschichte von Krabat als solche nicht gerecht. Am Ende geht es doch um die Kernbotschaft, die möglichst viele Menschen erreichen und optimalerweise berühren, ja auch zum Weinen bringen soll.

Letzte Karten gibt es hier!

[Ich bedanke mich herzlich bei Monika Doll von der Pressestelle der Deutschen Oper am Rhein, die mir einen hervorragenden Sitzplatz ausgesucht hat.]

 

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