Seit einigen Jahren bin ich in der Sozialpsychologie in der Forschung und Lehre unterwegs. Während des Studiums dachte ich noch, diejenigen, die sich selbst und andere realistisch sehen, seien die Gesunden, und diejenigen, deren Selbst- und Fremdwahrnehmung verzerrt ist, seien die Kranken. Die Sozialpsychologie hat mich gelehrt, dass es gar nicht so selten genau umgekehrt ist. Von unserer Gastautorin Eva Neumann
In einem Klassiker der Sozialpsychologie schreiben Taylor und Brown, dass die meisten Menschen drei Irrtümern unterliegen:
- Sie schätzen sich selbst positiver ein, als andere es tun.
- Sie glauben, die Kontrolle über ihr Leben zu haben.
- Sie glauben, dass ihre Zukunft besser sein wird als ihre Vergangenheit.
Bittet man Menschen, sich selbst einzuschätzen, und legt man die gleichen Fragen Freunden und Bekannten zur Einschätzung dieses Menschen vor, dann ergibt sich in den meisten Fällen eine Diskrepanz. Die Selbsteinschätzung fällt deutlich positiver aus als die Einschätzungen der anderen. Wir sehen uns selbst also rosiger, als andere es tun.
In ähnlicher Weise sind die meisten davon überzeugt, dass sie das, was in ihrem Leben passiert, unter Kontrolle haben. Sie sehen sich selbst als die Architekten ihres Lebens, und zwar auch dann, wenn der Ausgang von Ereignissen vom Zufall abhängt.
Der dritte Fehler war offensichtlich auch John Lennon bekannt, als er dichtete: „Das Leben ist das, was Dir passiert, während Du damit beschäftigt bist, andere Pläne zu machen“ („Life is what happens to you while you’re busy making other plans“). Obwohl die Vergangenheit bei den meisten Menschen zumindest in Teilen anders verlaufen ist, als sie es sich gewünscht haben, sind sie im Allgemeinen dennoch davon überzeugt, dass die Zukunft Gutes für sie bereithalten wird. Dies nennen Taylor und Brown „unrealistischen Optimismus“.
Die Arbeit der beiden Amerikaner wäre nun nicht so populär geworden, wenn sie nur diese drei Prinzipien entdeckt hätten. Denn dass viele Leute sich selbst überschätzen und teilweise in einer Traumwelt leben, ist keine revolutionäre Entdeckung, sondern Bestandteil der Alltagspsychologie. Taylor und Brown gelang es jedoch darüber hinaus nachzuweisen, dass diese Art zu denken dem psychischen Wohlbefinden zuträglich ist. Wer sich selbst überschätzt, glaubt, sein Leben unter Kontrolle zu haben, und unbeirrt daran glaubt, dass sein zukünftiges Leben besser sein wird als das bisherige, dem geht es im Allgemeinen psychisch gut. Diese Denkweise ist ein guter Schutz gegen Depressionen und Ängste. Umgekehrt leiden Menschen, die sich selbst, ihre Kontrollmöglichkeiten und ihre Zukunft weitgehend realistisch einschätzen, häufiger unter Depressionen und anderen psychischen Beschwerden.
Natürlich gilt all das nur, wenn die Selbstüberschätzung nicht so unrealistisch ausfällt, dass sie mit der Wirklichkeit kollidiert. Wer sich selbst für einen hochbegabten Studenten hält, tatsächlich aber noch nicht mal in der Lage ist, einen halbwegs verständlichen Text zu schreiben, wird von der Rückmeldung des Professors regelmäßig enttäuscht sein. Auch schätzen es andere Menschen gar nicht, wenn man ihnen erklärt, die Wiedergeburt von Jesus, Napoleon oder Cleopatra zu sein.
Wir reden hier über den Bereich des so genannten „Normalen“. Wer an leichter Selbstüberschätzung leidet, dies aber so geschickt managt, dass er im Hier und Jetzt dennoch gut funktioniert, der kommt mit dieser Haltung einfach besser durchs Leben als jemand, der sich selbst gnadenlos den Spiegel vorhält.
Die positiven Illusionen funktionieren auch in Partnerschaften hervorragend. In der Nachfolge von Taylor und Brown entdeckten Murray und Holmes, dass Menschen in glücklichen Beziehungen drei Denkfehlern unterliegen, die analog zu den Fehlern bei der Selbsteinschätzung sind:
- Sie sehen ihren Partner positiver, als andere es tun.
- Sie glauben, die Kontrolle über ihre Beziehung zu haben.
- Sie glauben, dass ihre Beziehung glücklicher und stabiler ist als die anderer Menschen.
Den ersten Denkfehler kennt wahrscheinlich fast jeder aus Erfahrungen mit Freunden. Freund/Freundin ist verliebt und schwärmt in einer Tour vom Angebeteten. Wie toll er doch aussieht, wie charmant er doch ist, wie lässig er sich kleidet, ein junger Gott eben. Dann steht das erste Treffen mit der Freundin und dem so Umschwärmten bevor, und nach den Beschreibungen der Freundin erwartet man nun, dass ein Typ irgendwo zwischen Johnny Depp und Keanu Reeves um die Ecke biegt. Tatsächlich kommt einem dann aber nur ein Durchschnittstyp entgegen, und man denkt ‚Was, der? Das ist doch ein ganz normaler Typ, nichts Besonderes!’ Der Seitenblick auf die Freundin mit ihren glänzenden Augen veranlasst einen dann aber, diese Meinung besser für sich zu behalten.
Der Glaube, die eigene Beziehung unter Kontrolle zu haben, kann vor quälenden Ängsten schützen. So können sich viele nicht vorstellen, dass ihr Partner fremdgeht. Dass dieser – in vielen Fällen leider nicht realistische Glaube – gut für die Beziehung ist, liegt auf der Hand. Eifersucht ist ein quälendes Gefühl, und wer frei davon ist, belastet weder sich noch den Partner. Mit diesem Mechanismus ist auch zu erklären, warum es oft der betrogene Partner ist, der als letzter merkt, dass der andere fremdgeht: Das, was für andere offensichtlich ist, wird aus Selbstschutz ausgeblendet. Erst wenn so offensichtliche Beweise vorliegen, dass eine weitere Verleugnung unmöglich wird, wird die Tatsache des Fremdgehens wahrgenommen. Da vorher alle Warnhinweise „übersehen“ wurden, ist dies dann um so schockierender. Dieses Beispiel zeigt wiederum, dass die Selbstverblendung nur dann ihre positive Wirkung entfalten kann, wenn sie nicht zu krass von der Realität abweicht.
Angesichts der hohen Trennungs- und Scheidungsraten mutet es geradezu naiv an, dass viele Menschen davon überzeugt sind, ihre Beziehung laufe besser als die von anderen und werde ewig halten. Doch auch diese Illusion ist nützlich: Warum sollte man sich überhaupt auf eine Beziehung einlassen, wenn man von vornherein denkt, sie werde schlecht verlaufen und mit einer Trennung enden? Ohne die Illusion einer immerwährenden Liebe ergibt es eigentlich keinen Sinn, das Risiko einzugehen, sich jemand anderem gegenüber zu öffnen und damit verwundbar zu machen.
Murray und Holmes konnten belegen, dass Partner, die den anderen überschätzen, glauben, ihre Beziehung unter Kontrolle zu haben, und an die Stabilität ihrer Partnerschaft glauben, glücklicher in der Beziehung sind als Paare, die dieses positiv verzerrte Denken nicht aufweisen. Mehr noch: Die Paare, die ihre Partnerschaft verklären, sind einige Zeit später mit höherer Wahrscheinlichkeit noch zusammen als die Paare, die ihre Beziehung realistischer einschätzen. Die Illusionen scheinen zur selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden: Wer fest daran glaubt, dass er in der Beziehung glücklich ist und lange mit dem Partner zusammen sein wird, der ist es dann auch.
Es scheint konstruktiv zu sein, in der Liebe illusionär zu fühlen und zu denken. Ein Mann, der im dicken Cellulite-Popo seiner Freundin einen süßen Knackarsch sieht, findet sie wahrscheinlich sehr erotisch. Eine Frau, die beim Anblick des untrainierten, schmächtigen Oberkörpers ihres Freundes denkt ‚Oh, er ist ein sehniger Typ!’ (und dabei auch noch sein stetig wachsendes Bäuchlein geflissentlich übersieht), die findet ihn wahrscheinlich sehr männlich. Okay, lassen wir mal diese oberflächliche Betrachtung des Äußeren und wenden uns dem Höheren, den inneren Werten zu. Hier sind meiner Beobachtung nach Frauen ganz groß: Mädels, die mit einem muffeligen Gefühlslegastheniker zusammen sind, neigen dazu, an den Typ „harte Schale, weicher Kern“ zu glauben. Tatsächlich ist es aber meistens wohl so, dass der, der keine Gefühle zeigt, diese dann auch gar nicht hat. Also eher der Typ „außen harte Schale, innen hohle Nuss“. Wenn die Mädels dennoch an die vermeintliche, im Verborgenen liegende Sensibilität ihres Liebsten glauben mögen – bitte schön, Murray und Holmes haben gezeigt, dass sie damit in ihrer Beziehung durchaus weiterkommen können. Gibt es solche Illusionen bei Männern auch? Hier fehlt mir irgendwie der Zugang – doch vielleicht schaffen es Männer, das hysterische Gekreische ihrer Freundin als Engagement für die Beziehung zu interpretieren?
All das scheint gut zu sein. Wer diesen scheinbar dummen Gedankenfehlern unterliegt, bringt die Beziehung und seine eigenen Gefühle nach vorne.
Geben wir uns also ungehemmt Illusionen über unsere Liebsten hin. Verklären wir ihn, sie, machen wir sie zu unseren Idolen. Wenn die Realität kein Glück für uns bereithält, dann können wir dieses in unseren Herzen und Köpfen erschaffen.
Literatur:
Taylor, S.E. & Brown, J.D. (1988). Illusion and well-being: A social psychological perspective on mental health. Psychological Bulletin, 103, 193-210.
Murray, S.L. & Holmes, J.G. (1997). A leap of faith: Positive illusions in romantic relationships. Personality and Social Psychology Bulletin, 23, 586-604.
@Eva,
Wir geben uns, Ihrem Text nach, also Illusionen hin, über uns selbst, und auch über andere Personen.
Wenn das aber normal ist, und möglicherweise sogar hilfreich, dann gibt es aber auch Menschen, die sich derart selber überschätzen, daß sie von anderen als psychisch krank eingestuft werden. Wenn auch die Grenze unscharf sein sollte, muß es ja doch eine Grenze geben. Ich frage mich, welche Kriterien gelten da?
Denn ich bin schon häufig Zeitgenossen begegnet, bei denen ich mir diese frage gestellt habe.
Ich möchte allerdings noch dazu sagen, dass ich persönlich die Kommunikation mit Menschen, die ein übersteigertes Selbstbewußtsein zu haben scheinen, der Kommunikation mit solchen Leuten vorziehe, die wegen ihrer Minderwertigkeitskomplexe schnell beleidigt sind.
Dass jemand dem Partner vertraut, ist übrigens eine Form von Selbstschutz, denn alles andere bedeutet Qual.