Arlie Hochschild zog vom „progressiven“ Berkeley ins erzkonservative Louisiana. Ihr Buch „Fremd in ihrem Land“ dokumentiert eine gespaltene Gesellschaft und plädiert für eine Erneuerung der Linken.
Ella Whelan: Frau Hochschild, Sie haben als selbsternannte Feministin, Linke und Öko-Spinnerin Trump-Wähler und Tea-Party-Anhänger getroffen und ein Buch über ihre Beweggründe geschrieben. Warum?
Arlie Hochschild: Die aktuelle politische Sackgasse ist nichts Neues. Bereits vor fünf Jahren steckten wir in einer politischen Krise. Der Kongress war festgefahren, die Rhetorik eskalierte auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Es herrschte eine sehr negative Stimmung vor, zwischen den politischen Lagern gab es kaum noch konstruktiven Dialog. In dieser Situation bemerkte ich, dass ich in einer politischen Blase lebte. Ich war seit 30 Jahren Professorin für Soziologie im linksliberalen Berkeley, Kalifornien. Während alle um mich herum die gleichen Meinungen vertraten, wurde im Fernsehen oder in den Zeitungen ein ganz anderes Weltbild propagiert, mit dem ich nichts anfangen konnte.
Ich wollte also aus meiner eigenen Blase raus, um eine ähnliche, aber politisch entgegengesetzte Blase zu finden. Ich wollte alle meine Vorurteile und moralischen Bedenken beiseitelegen und mir selbst erlauben, neugierig zu sein. Ich wollte Menschen treffen, die nach einer anderen Wahrheit lebten. Diese Suche führte mich in den Süden, nach Lake Charles, Louisiana. Mein erster Gedanke war: „Ich will in den Süden gehen, um mit den alten Weißen zu sprechen.“ Aber wohin genau? Ich sah mir also die Daten zur Präsidentschaftswahl 2012 genauer an. In Kalifornien sprach sich die Hälfte der weißen Wählerschaft für eine zweite Amtszeit Obamas aus. Im Süden, in den ehemaligen Konföderierten Staaten, war es dagegen nur ein Drittel; und in Louisiana mickrige 14 Prozent. Louisiana war also der Super-Süden.
„Ich wollte Menschen treffen, die nach einer anderen Wahrheit lebten.“
Ich war auch besessen davon, dem sogenannten Red-State-Paradox auf den Grund zu gehen. Red States, also Staaten, in denen die Mehrheit für den republikanischen Präsidentschaftskandidaten stimmt, sind meist die ärmsten Staaten mit den schlechtesten öffentlichen Einrichtungen, der schlechtesten Gesundheitsversorgung und der niedrigsten Lebenserwartung. Obwohl sie mehr Bundesgelder in Form von Fördermitteln bekommen, als sie an Steuern einzahlen, findet man hier die größte Abneigung gegenüber Washington. In Louisiana finden wir eine Extremform dieses Phänomens. 2012 löste Louisiana Mississippi als ärmster Staat der USA ab. 44 Prozent des Staatsbudgets wurden von der US-Bundesregierung bereitgestellt. Trotzdem lebten dort überwältigend viele Tea-Party-Anhänger und später Donald-Trump-Wähler. Ich dachte mir: Das ist genau der Ort, wo ich hin muss. Ich möchte sehen, wo die Menschen zur Schule gegangen sind, wo ihre Eltern begraben liegen; ich möchte mit ihnen Angeln gehen und einfach in ihr Leben eintauchen.
Waren Sie von Donald Trumps Wahlsieg überrascht?
Als ich mit meinen Forschungen in Louisiana begann, hatte ich nicht mit einer Figur wie Trump gerechnet. Als ich jedoch eine seiner Kundgebungen am Flughafen in New Orleans besuchte, wurde mir klar, dass mein Forschungsgegenstand in Wahrheit sehr trockenes Anzündholz war. Donald Trump wurde zum Funken, der das Feuer entfachte.
Gibt es ihrer Meinung nach zu viele Menschen, die die Anliegen (und Stimmen) der Tea-Party-Anhänger und Trump-Wähler als sexistisch, rassistisch oder einfach nur als falsch abtun?
Ja, und das ist ein sehr großer Fehler. Es ist schlichtweg falsch, die Hälfte der Bevölkerung abzuschreiben, und das dann auch noch als großen, progressiven Akt zu verkaufen. Empathie ist unentbehrlich, wenn man andere Lebensweisen verstehen und echte Missstände beheben will. Ich bin der Meinung, dass die „Progressiven“ in diesem Land viel zu wenig Empathie gezeigt haben. Dabei sollte das ihre Priorität sein. Es ist sehr kontraproduktiv, Menschen, deren Meinung man nicht teilt, einfach als Rassisten, Trottel oder Rednecks abzustempeln. Genau diese Beleidigungen, diese Arroganz, haben die Menschen, die ich in Louisiana kennen lernte, zur Weißglut getrieben.
Empathie ist schon eine merkwürdige Sache. Als ich mit meinem Forschungsprojekt begann, bekam ich Kommentare wie „Oh, ich könnte mir niemals vorstellen, im Süden mit Anhängern der Tea Party zu sprechen. Das würde mich in den Wahnsinn treiben.“ Andere schienen sich Sorgen zu machen, ich würde vielleicht zur „anderen Seite“ überlaufen. War ich vielleicht insgeheim eine Rechte? Aber das ist schlichtweg eine falsche Auffassung von Empathie: Die Vorstellung, dass sie einen von Grund auf verändert, dass man darauf achten muss, nicht zu viel Empathie zu zeigen, da man sich sonst auf „den Feind“ einlässt. Viele denken auch, dass es sehr anstrengend seien muss, seine wirklichen Gefühle verstecken zu müssen. In meiner Erfahrung war jedoch genau das Gegenteil der Fall: Die Zeit in Louisiana hat meinen Horizont erweitert, ich empfand sie nicht im Geringsten als anstrengend.
„Ich bin der Meinung, dass die ‚Progressiven‘ in diesem Land viel zu wenig Empathie gezeigt haben.“
Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen. In Louisiana nahm ich an den Treffen des Republikanischen Frauenverbandes von Süd-West-Louisiana teil. Dort kam mit der Frau eines Pfingstkirchler-Pfarrers ins Gespräch. Sie war weiß, Mitte 40 und sagte zu mir: „Oh, ich liebe Rush Limbaugh.“ Limbaugh ist ein sehr konservativer, äußerst einflussreicher Radiomoderator, der extrem rechte Ansichten vertritt. Unter „normalen“ Umständen wechsle ich den Radiosender, wenn ich seine Stimme höre. Dieses Mal dachte ich jedoch: Moment mal, das ist eine günstige Gelegenheit. Daher sagte ich zu der Mitt-Vierzigerin: „Wie wäre es mit einer Verabredung zum Eistee morgen? Könnte ich mit Ihnen darüber sprechen?“ Sie willigte ein.
Am Tag darauf fragte ich, was genau sie an Limbaugh so liebe. Sie antwortete, dass sie es toll finde, wie er die „Feminazis“ (oder Feministinnen, wie ich eine bin) und „Öko-Spinner“ (wieder ich) fertigmacht. Ich verhielt mich neutral, machte Notizen, bis sie inne hielt und mich fragte: „War das gerade aufreibend für sie, sich anzuhören, was ich zu sagen hatte?“ Ich war überrascht, wie genau sie mich beobachtet hatte, und antwortete ehrlich: „Nein, ganz und gar nicht. Meine inneren Alarmglocken sind alle ausgeschaltet. Ich bin hier, um zu lernen und kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar bin, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.“ Darauf meinte sie: „Ich weiß, was Sie hier tun. Und wissen Sie was? Auch ich kann meine Alarmglocken abschalten.“ Das Gespräch wurde anschließend sehr persönlich. „Wissen Sie, was ich an Limbaugh wirklich schätze?“, fragte sie. „Er beschützt Arbeiter aus den Südstaaten wie mich vor den Beschimpfungen urbaner Akademiker wie Ihnen. Viele Demokraten würden mich für sexistisch, rassistisch und homophob halten. Für sie bin ich zu religiös, zu ungebildet und zu dick.“ Die Frau war überzeugt, dass Rush Limbaugh eine Art Schutzpatron für Menschen wie sie sei. Am spannendsten fand ich jedoch, dass sie meine Motivation nachvollziehen konnte. Sie verstand, warum ich zuhören und mich in sie hineinversetzen wollte.
Die Südstaatler in Ihrem Buch beschweren sich über alles Mögliche. Sie stilisieren sich jedoch selten als Opfer. Tatsächlich ist es vor allem das Opfergetue, das diese Menschen an der Identitätspolitik nervt. Brauchen wir weniger Rührseligkeit in der Politik und mehr Empathie und Solidarität?
Empathie ist für mich ganz klar der Weg, eine andere Perspektive einzunehmen und menschliche Gefühle zu verstehen. Ich entwickelte in meiner Arbeit als Soziologin den Begriff der „Deep Story“ (zu Deutsch etwa „tiefe Erzählung“). Wir alle haben eine solche Erzählung, egal ob wir uns links, rechts oder in der Mitte des politischen Spektrums verorten. Was ist eine Deep Story? Es ist schlicht und einfach eine Darstellung, wie sich das Leben für jemanden anfühlt. Fakten und moralische Urteile haben hier nichts zu suchen, es geht um das subjektive Empfinden. Ich sprach mit insgesamt 60 Menschen, 40 davon waren überzeugte Tea-Party-Anhänger. Ich entwarf für sie eine Deep Story und fragte jeden einzelnen: „Stimmt das so?“ Manche baten mich, etwas zu ändern, damit es stimmte, aber die meisten meinten bloß: „Ja.“
„Es ist sehr kontraproduktiv, Menschen, deren Meinung man nicht teilt, einfach als Rassisten, Trottel oder Rednecks abzustempeln.“
Die Deep Story geht in etwa so: Du stehst in einer langen Schlange an wie bei einer Pilgerfahrt. Die Schlange führt einen Berg hinauf und auf dem Gipfel befindet sich der American Dream. Du wartest schon lange. Deine Beine sind müde. Du hast alles richtig gemacht, hast die Regeln beachtet und hart gearbeitet und glaubst, dass Du nun einen Anspruch auf den American Dream hast. Die Schlange bewegt sich jedoch nicht. Plötzlich siehst du, wie sich Leute vordrängeln. Es sind Schwarze, die jetzt Zugang zu Jobs haben, die früher Weißen vorbehalten waren. Schlimmer noch, es sind Frauen dabei, die heute „Männerjobs“ machen. Da sind Einwanderer und Flüchtlinge. Sogar der ölverschmierte Braunpelikan, der vom Aussterben bedroht ist, darf sich weit vor dir einreihen (Ich habe mehrere Menschen sagen hören: „Oh, den Linksliberalen sind Tiere wichtiger als Menschen.“). Und dann siehst du Obama, der den Vordränglern zuwinkt, sie sogar ermutigt. Gehört Obama nicht auch zu den Vordränglern? Wie sonst landete er in Harvard? In Columbia? Er ist immerhin der Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Irgendetwas stimmt hier nicht. So kommt es, dass die Bundesregierung von diesen Menschen als Instrument ihrer Marginalisierung gesehen wird. In der Sprache der Deep Story drehen sich Leute vom Anfang der Schlange um und sagen: „Ihr rückständigen Rednecks.“
Viele Menschen sind zornig. Sie fühlten sich wie Fremde im eigenen Land. Daher auch der Titel meines Buches. Diese Menschen suchen nach jemanden, der sie wieder zurück auf den richtigen Pfad führt. Trump, mit seinen großen Versprechen und seinem Prunk, löste bei ihnen Begeisterung aus. Mit ihm würden sie den Gipfel erklimmen.
Was, glauben Sie, war das Hauptmotiv der Trump-Wähler? Viele Ihrer Gesprächspartner in „Fremd in ihrem Land“ äußerten den Wunsch, durch die politische Zugehörigkeit wieder Ehre und Stolz zu empfinden. Trump griff dieses Gefühl mit seinem Slogan „Make America Great Again“ auf. Der Spruch hatte etwas Übermütiges und ungewollt Komisches. Aber kann man ihn nicht auch als ernsthaften Versuch sehen, dem American Dream neues Leben einzuhauchen? War eine Stimme für Trump auch eine Stimme für ambitionierte gesellschaftliche Ziele? Für Größe, statt für ein bloßes „über die Runden kommen“?
Das haben Sie sehr schön gesagt. Die Ehre dieser Menschen ist angeschlagen. Ihre Arbeit erfüllt sie nicht mehr mit Stolz, weil sie nicht mehr das ist, was sie einmal war. Daher suchten sie Stolz in ihrer Heimat: „Ich bin stolz darauf, ein Südstaatler zu sein.“ Durch das Internet wurde ihnen jedoch zunehmend bewusst, wie sie von anderen gesehen werden. Ihr Herkunftsort ist also auch kein Grund mehr, stolz zu sein. „Dann sind wir eben stolz darauf, Christen zu sein.“ In einer immer säkularen Welt wird Religiosität jedoch mit falschen Ansichten über die Evolution und anderen schlechten Sachen verbunden. Manche denken sich wohl: „Naja, wenigstens bin ich weiß“, aber das ist rassistisch und daher inakzeptabel. Also der Gedanke: „Wenigstens bin ich ein Mann.“ Aber auch das wird stigmatisiert. Das sind die Regeln, die heute bestimmen, was man fühlen darf. Vielleicht könnten Werte die Grundlage der persönlichen Ehre bilden? Doch auch das geht nicht. Viele traditionelle Werte stehen im Konflikt mit nationalen Gesetzen, die Abtreibung ist heute legal, und auch die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Menschen fühlen sich also aus verschiedenen Gründen marginalisiert, es gibt keinen einzelnen, bestimmenden Faktor. Als Ergebnis zeichnet sich jedoch eine Krise der Ehre ab. Daher ist „US-Amerikaner sein“ plötzlich ungemein wichtig geworden. Der neue Nationalismus füllt ein Vakuum des Stolzes.
„Viele Menschen sind zornig. Sie fühlten sich wie Fremde im eigenen Land.“
In Ihrem Buch geht es auch um die Tatsache, dass rechte Politiker die Gefühle und Sorgen jener Menschen, auf die Sie in Louisiana trafen, für ihre politische Agenda ausnutzen. Nach der Trump-Wahl in den USA oder der Brexit-Wahl in Großbritannien kritisieren viele Beobachter die manipulative Rolle der Medien. Sie hätten mit den Ängsten der Leute gespielt und sie in einer Welle des Populismus mitgerissen. Ist das nicht eine trübe Sicht auf die Menschen? Fanden es ihre Gesprächspartner verletzend, ständig als dumm dargestellt zu werden?
Ich denke, es geht vor allem um Emotionen. Fox News bekräftigt und legitimiert die Gefühle dieser Menschen. Donald Trump war so etwas wie ein Antidepressivum. Hinter der Wut und den rassistischen Ausbrüchen verstecken sich nämlich bei vielen Menschen Gefühle von Trauer und Verlust. Viele in der amerikanischen Arbeiterklasse trauern vergangenen, besseren Zeiten nach. Es gibt einen starken Hunger nach Bestätigung. Schon Ronald Reagan schaffte es, dieses Gefühl mit seiner „New Morning in America“ (ein neuer Morgen in Amerika) Kampagne anzusprechen. Die heutigen Linksliberalen in der US-Politik begreifen das nicht, sie haben dafür kein Verständnis. Bei Männern aus der Arbeiterschicht gibt es eine enorme Zunahme von Depression, Suizid und Suchterkrankungen. Der Linken ist es bisher nicht gelungen, einen Zusammenhang zwischen diese erschreckenden Entwicklungen und der Politik herzustellen. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass wir bisher den Gefühlen zu wenig Beachtung geschenkt haben.
Konnte Trump vor allem die Präsidentschaft gewinnen, weil Hillary Clinton von vielen verachtet wird? Weil sie es nicht geschafft hat, eine wirklich progressive Linie zu vertreten, die Substanz hat und die Menschen überzeugt? Sie verstehen sich selbst als Linke – denken Sie, dass die Tendenz vieler Linker, sich nicht mit rechten Ansichten zu befassen, zum Scheitern der Linken geführt hat? Stimmen deshalb viele Menschen, wie Sie sagen, gegen die eigenen ökonomischen Interessen?
Ja, genau. Hillary verkörperte in den Augen vieler einen zerstörerischen Neoliberalismus. Die ganzen transpazifischen Handelsabkommen wurden von vielen amerikanischen Fabrikarbeitern als wirtschaftliche Bedrohung gesehen. Hillarys Kombination aus Neoliberalismus und Identitätspolitik kam bei der Wählerschaft nicht gut an. Sie betonte oft: „Ich stehe für Transsexuelle, für Frauen und für Schwarze.“ Damit zählte sie nur Personengruppen auf, anstatt auf die Umstände einzugehen, die die Situation dieser Gruppen verschärfen. Hillary sprach die „gläserne Decke“ für berufstätige Frauen an, ein Thema, das uns schon seit den 1970er-Jahren beschäftigt. Über die Strukturen, innerhalb derer Männer und Frauen gleich seien sollen, verlor sie jedoch kein Wort.
„Donald Trump war so etwas wie ein Antidepressivum.“
Überhaupt halte ich die Identitätspolitik für absolut kontraproduktiv. Hier auf dem Campus in Berkeley finden Sie den Philippinischen Unternehmerverband, gleich daneben ist die Samoanische Frauengruppe. Es ist wirklich bizarr. Es wird so viel Wert darauf gelegt, woher man kommt, anstatt darauf, was uns alle verbindet. Wir haben es hier also mit einem Paradox zu tun: Der Identitätspolitik geht es vorgeblich um Integration. Sie hat jedoch aus dem Blick verloren, in was für eine Gesellschaftdie Menschen integriert werden sollen. Hillarys Unbeliebtheit hatte also zwei wesentliche Gründe: Neoliberalismus und Identitätspolitik. Das hat sie nicht kapiert. Außerdem hat sie auf die Trump-Anhänger herabgeschaut. Sie bezeichnete die Hälfte von ihnen als „Erbärmliche“ (engl. „deplorables“). Hillary hat es leider einfach nicht geschafft, eine positive Vision zu artikulieren.
Wenn man weiße Arbeiter fragt, welche Faktoren ihre Wahlentscheidungen beeinflussen, sprechen sie meist materielle Probleme an. Es geht um Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, abgehängte Regionen und ein schlechtes Bildungssystem. Trumps Versprechen, die Wirtschaft wieder auf Touren bringen und Jobs zu schaffen, klingen für diese Menschen viel attraktiver als Hillarys leere Schlagwörter. Ist das nicht ein wesentliches Problem der heutigen, bürgerlich geprägten US-Linken? Dass sie nicht versteht, dass Identität in einer handfesten Realität verankert sein muss, und nicht in der ständig fluktuierenden Identitätspolitik oder den Vorgaben der political Correctness?
Auf jeden Fall. Und dass sie nicht erkennt, dass auch die weiße Arbeiterklasse eine Identität hat, die für sie eine Quelle des Stolzes ist. Linksliberale müssen endlich zwei Dinge begreifen: Sie selbst sind die eigentlichen Fremden im eigenen Land. Und sie selbst sind zu einem gewissen Grad dafür verantwortlich. Wir Linken haben es versäumt, die Demokratische Partei zu einem Motor zu machen, der das Leben der breiten Masse verbessert. Natürlich hat die Demokratische Partei auch viel Positives bewirkt, etwa beim Mindestlohn oder dem Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Trotzdem hat sie viele wichtige Anliegen vernachlässigt. Ihre Rhetorik spricht viele Menschen einfach nicht an. Linke müssen endlich erkennen, dass sie sich selbst ins Abseits gestellt haben. Wir müssen aus unserer Ecke rauskommen und mit Menschen reden, die nicht einer Meinung mit uns sind.
Das ist wahrscheinlich einfacher, als viele denken. Als ich in Louisiana unterwegs war, traf ich viele Menschen, die meinten: „Oh Bernie Sanders. Der gute alte Onkel Bernie.“ „Was!?“, meinte ich überrascht. „Der gute alte Onkel Bernie? Toll! Das hätte ich von Tea-Party-Anhängern nicht erwartet. Ich dachte es ging darum, den Staat loszuwerden, anstatt ihn als Motor der Veränderung zu sehen.“ Was ich damit sagen will: Es gibt viele politische Gemeinsamkeiten, von denen wir gar nichts wissen, weil wir immer nur damit beschäftigt sind, die Nase zu rümpfen. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns.
„Hillarys Unbeliebtheit hatte zwei wesentliche Gründe: Neoliberalismus und Identitätspolitik.“
Die Trump-Präsidentschaft scheint Ihnen große Sorgen zu bereiten. Aber hat seine Wahl nicht auch positive Seiten? Hat sie nicht das Schweigen der Menschen gebrochen, denen Sie in Louisiana begegneten? Ist das blaue Auge, das dem Establishment bei der letzten Wahl verpasst wurde, nicht so etwas wie ein Weckruf, der eine neue, bessere Politik einleiten kann?
Ja, das glaube ich tatsächlich. Als ich mit meinen Recherchen in Louisiana begann, rechnete ich nicht damit, Gemeinsamkeiten mit den Rechten zu finden. Ich wurde jedoch eines Besseren belehrt. Einmal machte ich mit einem großen Trump-Anhänger einen Angelausflug. Er verbrachte seine Kindheit auf einer Zuckerplantage und hatte sein Leben lang in der Ölindustrie gearbeitet. Er sagte zu mir: „Wissen Sie was? Es ist wirklich an der Zeit, dass die Politik nicht mehr vom Geld dominiert wird.“ Ich musste an meine linken Freunde denken, die sich für eine Reform der Wahlkampffinanzierung einsetzen. „Außerdem müsste man daran arbeiten, die Zahl der Gefängnisinsassen zu reduzieren“, meinte er weiter. „Viel zu viele Leute stecken wegen kleinerer Drogendelikte im Gefängnis.“ Darauf meinte ich: „Wissen Sie was? Die Linksliberalen teilen diese Meinung. Lass uns doch einmal nachdenken, was wir dagegen tun können.“ Solche Gespräche ergeben sich, wenn man sich auf die andere Seite einlässt.
Es gibt wirklich viele Gemeinsamkeiten, aber wir müssen aktiv auf die Menschen zugehen und ihnen eine grundsätzlich bessere Politik anbieten. In den 1930er-Jahren wurde Louisiana von einem progressiven, sozialistischen Gouverneur, Huey Pierce Long Jr., regiert. Dieser versprach „ein Huhn in jedem Topf“ – also Wohlstand für alle, egal ob schwarz oder weiß. Auf meine Frage, wer der beste Gouverneur von Louisiana gewesen wäre, antwortete der Mann, mit dem ich angeln fuhr: „Oh, Huey Long.“ Die Linke hat so viel Boden verloren. Das gilt es wieder gutzumachen.
Ein toller Artikel über eine sehr sympathische Arlie Hochschild. Vielen Dank an Maria Mayböck für das Entdecken und Übersetzen dieses Beitrages.
Wenn die Linke deren analytische, neugierige und selbstkritische Herangehensweise besäße (auch wenn sie sich bisweilen in soziologischen Deutungen verliert), wäre sie das, was sie vor Urzeiten einmal war: eine progressive und glaubwürdige Alternative. Leider ist davon nichts zu sehen, im Gegenteil. Die Linke zu reformieren kommt dem Versuch nahe, in die NPD einzutreten, um diese zu demokratisieren.
Ich weiß, das ist böse. Aber was ist von einer Linken oder einer feministischen Bewegung zu halten, die z.B. einer Judith Butler bewundernd an den Lippen hängt während diese erzählt, dass die faschistische Hamas „Teil einer sozialen Bewegung“ ist.
Oder was ist davon zu halten, dass Hunderttausende dem Aufruf einer Linda Sarsour (Palästinenserin) zu einer Demonstration (gegen Trump) folgen, die schon 2011 tweetete, dass man den Islamkritikerinnen Brigitte Gabriel (Libanesin) und Ayaan Hirsi Ali (Somalierin) am besten „den Hintern versohlt“ und sich wünschte, „ich könnte ihnen die Vaginas wegnehmen – sie verdienen es nicht, Frauen zu sein.“ Menschenverachtung pur, und keine(n) kümmert es.
In Deutschland sieht es nicht besser aus: Augstein, Todenhöfer, Lafontaine und, und, und … ja, ich könnte noch weiter fortfahren. Fakt ist: Diese Linke ist reaktionär, antisemitisch und opportunistisch. Eine unübersehbare Vorliebe für Diktatoren, totalitäre Staaten und Gruppen runden das Ganze ab. In ihrem Schwarzweiß-Denken stehen sie der Konkurrenz von rechts in nichts nach.
„Es ist sehr kontraproduktiv, Menschen, deren Meinung man nicht teilt, einfach als Rassisten, Trottel oder Rednecks abzustempeln.“ – Das ist ein Satz, den ich unterstütze, weil er den demokratischen Grundkonsens wiederherstellen könnte. Ich sehe aber momentan für so eine Einsicht keine Zukunft. Das wäre das Ende der "Political Correctness" und auf diese moralische Superiorität wird das linke Establishment erst nach einer vernichtenden Niederlage durch Trump oder einen anderen verzichten können.