Die deutsche Vizemeisterin der U20-Poetry-Slammer von 2014 Zoe Hagen nimmt in ihrem Debütroman den Leser mit auf die Achterbahnfahrt einer Jugendlichen zwischen Selbstekel, Kloschüssel und Lebenshunger.
Die Erzählerin Antonia ist 15 Jahre alt, wird von ihren Freunden Gandhi genannt und schreibt Briefe an Gott, an den sie eigentlich im katholischen Sinne gar nicht glaubt, sondern eher als Energie, die alles zusammenhält. Kraft ist ihr wichtig, zum Beispiel um die Widersprüchlichkeit des Lebens auszuhalten, das erinnerte Glück ihrer Kindheit mit ihrem aktuellen Gefühl von Leere, Einsamkeit und innerlichen Wunden, ihre Wahrnehmung der Schönheit der Welt und ihr gleichzeitiges Unvermögen, diese zu realisieren und der Gegensatz zwischen Realität und Illusion:
„Ich glaube nicht mehr an dich. Du existierst nicht. Aber ich schreibe dir trotzdem. Denn manchmal ist die Illusion weitaus schöner, als die Realität, die Realität nichts als die schlechte Kopie der Vorstellung.“
Gandhi stellt die illusionistische Realität der imaginären Vorstellung als Idee über die vordergründige Realität der Welt.
Sie lernt neue Freunde kennen, die sich „Der Club der verhinderten Selbstmörder“ nennen. Fabien, Fred, Noah, Lynn und Amira haben sich in einer Klinik nach ihren jeweils missglückten Suizidversuchen kennengelernt und sie eint ihre Ambivalenz zwischen Eros und Thanatos. Gandhi selbst findet in dieser Expertenrunde der Absurdität des Daseins für ihre eigene Existenz eine Metapher aus Dunkel und Licht:
„Ich glaube, wir sind alle Würmer. Aber dann kommt der Moment, in dem wir zu leuchten beginnen, vielleicht haben wir es auch schon die ganze Zeit gemacht, und es war einfach zu hell, um es zu erkennen. Wir werden leuchten und jemand wird unser Licht sehen und sein Herz daran erwärmen. Ich finde es nicht schlimm, ein Wurm zu sein, solange ich weiß, dass ein Licht in mir brennt.“
Ihre neuen Freunde feiern mit Gandhi ihr schönstes Silvester, fahren mit ihr ans Meer, besuchen sie am Krankenbett und entführen sie nachts in den Park von Schloss Sanssouci. Die verschiedenen Charaktere der Freunde, ihre komplizierten Beziehungen zueinander und zur Welt ermöglichen Gandhi neue Perspektiven auf das Leben, eine Annäherung an ihr eigenes, tief verschüttetes Geheimnis und Trost in der Musik; die Songs und Texte von Jack Johnson sind der Soundtrack des Romans:
… there has always been laughing, crying, birth and dying, boys and girls with hearts that take and give and break and heal and grow and recreate and raise and marture but then hurt from time to times like these and what will be will be an so it goes,
Einen Aufbruch zu literarischem Neuland ermöglicht ihr der feinsinnige Noah: Er, der selbst Lyrik schreibt, kitzelt aus Gandhi heraus, was ihr Drama ist, also das, was sie zu sagen hätte. Er macht sie mit Gustav Flaubert vertraut und schenkt ihr eine alte Ausgabe von dessen kleiner Erzählung ‚November‘. Diese bildet einen Subtext, der sich zunehmend wie ein Teppich als melancholische Begleitung unter Gandhis Erzählung legt. Die Melodie von Gandhis Sprache oszilliert hingegen zwischen Wut, Trauer, Verzweiflung und Hoffnung, sie ist dabei auch in ihren zärtlichen Momenten immer etwas ruppig, dabei macht sie auch vor Gott nicht halt:
„Lieber Gott, ich will dir sagen, was Magersucht ist. Das ist, wenn du abends nicht schlafen kannst, weil dein Herz so weh tut, so verdammt weh tut, dass du Angst hast, dass es zerbricht. Das ist, wenn du weinst, aber nur innerlich, weil deine Tränen für niemand Bestimmtes sind, weil es niemanden gibt, niemanden auf dieser verdammten großen weiten Welt, den es auch nur im Ansatz interessiert, warum du dummes kleines Ding schon wieder Tränen vergießt.“
Diese Erklärungen benennen Gandhis Probleme nicht an den Symptomen, sondern an den tieferliegenden Ursachen überdeutlich, dagegen wirken die elterlichen und pädagogischen Leerformeln als lediglich gut gemeint und ziemlich hilflos, dieser Fokus macht den besonderen Wert dieses Romans aus. Gandhis Perspektive auf ihre eigene, komplett überforderte Mutter und deren unzulänglichen Umgang mit der Krankheit der Tochter wirft dabei die Frage auf, wie Eltern in der heutigen Zeit adäquat mit ihren heranwachsenden Kindern umgehen sollten, wenn sie die Verbindung zu ihnen nicht verlieren möchten.
Im ihren letzten Briefen an Gott beklagt Gandhi eine menschliche Tragödie und hat nach einem absoluten Tiefpunkt in ihrem Leben wieder Hoffnung geschöpft. Sie hat – durch Noah inspiriert – begonnen, Gedichte zu schreiben. Das, was vorher unsagbar für sie war, was sie bisher zum einsamen, lautlosen Schreien über der Kloschüssel verdammte, ist nun für sie sagbar und laut formulierbar geworden. Nicht nur in Briefform gegenüber Gott, sondern auch als Literatur. Zoe Hagens Debütroman ist ein literarischer Leuchtkäfer, ein großer Gewinn und ein Glück für die Leser.
Zoe Hagen: Tage mit Leuchtkäfern
Roman, Ullstein Buchverlage Berlin 2016
192 Seiten, Paperback
13,00 Eur (D) / 13,40 Eur (A) / 14,90 CHF
ISBN: 978-3-548-28694-5