Literaturnobelpreisträger Günter Grass im Interview: „Die Geldelite verhält sich asozial“

Ich habe kürzlich Günter Grass in Karlsruhe zu einem Interview getroffen. Es war ein ausgesprochen interessantes Gespräch, in dem wir sowohl über Literatur als auch über Politik sprachen. Grass bekannte, dass er sich nach der Veröffentlichung seines jüngsten Buches Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung „leergeschrieben“ fühle. Er denke zwar jedes Mal, dass es sein letztes Buch gewesen sei, „dieses Mal aber ist es, glaube ich, eine von mir zu recht angestellte Vermutung, dass ich nicht mehr die Zeit haben werde, an ein langwieriges episches Konzept heranzugehen.“ Das Ende des Lebens fürchte er aber „überhaupt nicht“. Er habe nie gedacht, dass er einmal 83 Jahre alt werde. „In diesem Alter ist jeder Tag, jedes Frühjahr ein Geschenk.“

Auch der unvermeidliche Thilo Sarrazin und seine Thesen zu integrationsunwilligen Migranten waren ein Thema unseres Gesprächs. Der Nobelpreisträger grenzte sich entschieden von seinem (Noch-) Parteikollegen ab. Vielmehr noch als muslimische Integrationsverweigerer seien die Parallelgesellschaften der Reichen in Deutschland ein gewichtiges Problem. „Sich nach amerikanischem Muster in bewachten Wohnbezirken abzuschotten, dort sein Eigenleben zu führen und die Konten ins Ausland zu verlagern – meines Erachtens ist das asozial.“

(…) Seitdem, Herr Grass, mischen Sie sich ein und ergreifen nach wie vor unermüdlich Partei für die Demokratie. In Grimms Wörter kritisieren Sie zum Beispiel, dass in der Bundesrepublik Grundrechte schwinden und unsere Verfassung zunehmend in Gefahr gerät. Woran genau machen Sie diese Tendenz fest?

In der Verfassung heißt es, dass die vom Volk gewählten Abgeordneten unabhängig sind. Tatsächlich aber verlässt kein wichtiges Gesetz unseren Bundestag, ohne dass die Lobby ihren Einfluss geltend gemacht hätte – sei es die Atom-, Pharma- oder Hotellobby. Diese Einflussnahme beschädigt unsere Verfassung grundlegend. Man darf sich nicht wundern, wenn sich immer mehr Wähler fragen, ob es überhaupt noch Sinn macht, zur Wahl zu gehen und sich mit politischen Prozessen auseinanderzusetzen.

Der politische Diskurs in der Bundesrepublik wird seit mehr als zwei Monaten maßgeblich von Thilo Sarrazins Aussagen über muslimische Zuwanderer bestimmt. Viele Bürger sind ihm dankbar dafür, dass er endlich ein Problem thematisiert habe, das die Politiker zu lange totgeschwiegen hätten. Wie stehen Sie zu den Thesen dieses Sozialdemokraten?

Ich verfolge diese Debatte mit großem Überdruss. Thilo Sarrazins Analyse, warum es mit der Integration nicht klappt, mag zum Teil richtig sein, durch seine biologistischen und vulgärdarwinistischen Einlassungen aber werden sie entwertet. Zudem kann ich im Gegensatz zu Sarrazin nicht erkennen, was problematisch daran sein soll, wenn Einwanderer Teile der Kultur ihrer Eltern behalten.

Das allein wird von Sarrazin nicht als problematisch bezeichnet. Was er beklagt, sind jene 10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer, die in einer Parallelgesellschaft leben.

Diese Ausnahmen von der Regel gibt es, kein Zweifel. Zugleich aber lebt die sogenannte Geldelite Deutschlands in einer Parallelgesellschaft. Sich nach amerikanischem Muster in bewachten Wohnbezirken abzuschotten, dort sein Eigenleben zu führen und die Konten ins Ausland zu verlagern – meines Erachtens ist das asozial.

In Wahrheit also sind es die Superreichen, die – um in Sarrazins Diktion zu bleiben – Deutschland abschaffen?

Ich will diesen Kreisen nicht die Kraft zusprechen, dass sie dazu in der Lage wären. Mir kommt es lediglich darauf an zu sagen, dass auch die Geldelite in einer problematischen Parallelgesellschaft lebt. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Die einseitige Fokussierung auf Integrationsdefizite der Muslime finde ich bedenklich, das unentwegte Beschwören des christlichen Abendlandes unerträglich.

Warum?

Die Geschichte des Abendlandes ist durch und durch blutig. Das ist für uns kein großes Ruhmesblatt. Ohne die Vorarbeit muslimischer Gelehrter wäre die Renaissance in Europa nicht denkbar.

Diese Hochzeit der islamischen Kultur gab es unstrittig, doch seitdem scheint es in vielen Bereichen eine Art Stillstand zu geben…

… und auch unzählige Muslime bedauern, dass sie anders als Europa den Prozess der Aufklärung nicht gehabt haben. Aber wenn wir mit uns ehrlich sind: Ist die Aufklärung bei uns ganz und gar angekommen? In Spanien steht die Trennung von Staat und Religion auf der Kippe, in Polen ebenfalls, und von Italien mag ich gar nicht erst reden. Bevor wir diese Trennung von den Muslimen immer wieder einfordern, sollten wir erst einmal vor der eigenen Tür kehren. Gegenwärtig wird die Integrationsdebatte in einem Ton geführt, den ich unsäglich finde – insbesondere in Bayern.

Sie spielen auf Horst Seehofer an, der einen Stopp muslimischer Zuwanderer forderte, obwohl die Bundesrepublik schon allein aus demographischen Gründen auf Zuwanderung angewiesen ist.

Ja, und um es ganz deutlich zu sagen: Ich halte Thesen dieser Art für hochgefährlich. Um den Beifall von bestimmten Schichten zu erhalten, bedient Horst Seehofer eine Art von Fremdenfeindlichkeit, die in Deutschland schon immer einen Nährboden hatte. Und die Kanzlerin…

… die Seehofer in seiner Forderung nach einem Zuwanderungsstopp beipflichtete und das Projekt Multikulti für tot erklärte…

… sagt mal dies und mal das. In ihrer Position wäre ein klares Wort notwendig gewesen. Stattdessen richtet sie sich mal nach dem und dann wieder, wenn es ihr gerade nutzt, nach jemandem wie Herrn Seehofer.

Ist das das Dilemma einer Kanzlerin, die sowohl die Forderungen der CSU als auch der FDP berücksichtigen muss, ohne den Markenkern ihrer eigenen Partei zu vernachlässigen?

Nein. Das ist das Dilemma einer Kanzlerin, die über keine Strategie verfügt. Eine solche Konzeptlosigkeit wird früher oder später vom Wähler abgestraft (…)

Das Interview erschien, in anderer Version, zuerst auf Cicero Online.

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[…] Donnerstag, 11. November 2010 |  Autor: zoom Günter Grass im Interview: “Die Geldelite verhält sich asozial” … ruhrbarone […]

Frage an Günter Grass
Frage an Günter Grass
14 Jahre zuvor

Ich hätte da mal eine Frage an Günter Grass:

Wieso hat Günter Grass die Ohrfeige, die Beate Klarsfeld Kurt-Georg Kiesinger verpasste, verurteilt?

(wenn das keine coole Aktion war, was dann?)

https://www.netzeitung.de/kultur/355890.html

1968 hat Beate Klarsfeld Kurt-Georg Kiesinger geohrfeigt und später die Verfolgung von NS-Verbrechern aufgenommen. (…)

Netzeitung: Sie haben es ja im Anschluss an die Ohrfeige nicht nur mit der Justiz zu tun bekommen. Es gab auch sehr positive Reaktionen. Heinrich Böll schickte Blumen.

Klarsfeld: Während Günter Grass mich verdammt hat. Das hat er sogar schon vorher getan, als ich bei einem großen Sit-In in der Technischen Universität in Berlin angekündigt habe, dass ich Kiesinger notfalls auch ohrfeigen würde. Die Studenten dort fanden das eher lächerlich, Grass aber ganz unmöglich. Er selbst hat stattdessen einen förmlichen Brief an Kiesinger geschrieben, in dem er ihn aufforderte, vom Posten des Bundeskanzlers zurück zu treten. Natürlich hat Grass nicht einmal eine Antwort bekommen.

Jingo
Jingo
14 Jahre zuvor

Zur Erinnerung:

https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Grass#Kindheit_und_Jugend

„Im Zweiten Weltkrieg meldete er sich mit 15 Jahren – nach eigenen Angaben, um aus der familiären Enge zu entkommen – freiwillig zur Wehrmacht.[2][3] Nach dem Einsatz als Luftwaffenhelfer und der Ableistung des Arbeitsdienstes wurde er am 10. November 1944, im Alter von 17 Jahren, zur 10. SS-Panzer-Division „Frundsberg“ der Waffen-SS einberufen.“

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