Es ist der 1.11.2019, Allerheiligen, ich sitze im Regionalexpress Richtung Köln/Bonn und kurz nachdem wir die Skyline von Mülheim hinter uns gelassen haben, prasseln dicke Regentropfen auf die gebogenen Scheiben der roten Doppelstockwagen, die Landschaft der Ruhrauen wird durch diesen Schleier pointilistisch und als ich am Duisburger Hauptbahnhof aussteige, bedecken Pfützen den Bahnsteig. Hier wird demnächst eine komplett neue Bahnhofsüberdachung gebaut werden und daher werden die Lecks in der altersschwachen Dachkonstruktion gar nicht mehr repariert, es lohnt ja nicht mehr. Ich checke im Ibishotel direkt am Ausgang ein und als ich mein Zimmer im zweiten Geschoss betrete, bin ich erfreut, es ist klein, hell, sauber und ruhig. Ich stelle meinen Rucksack ab und schaue aus dem Fenster zum Hauptausgang.
Hier sind sie zu Tausenden vor zehn Jahren fröhlich und in Feierlaune angekommen, folgten brav den Hinweisen der Ordner um zum Festivalgelände zu gelangen. Für 21 von ihnen war es der letzte Tag ihres jungen Lebens. Aber als sie hier aus dem Zügen gespült wurden, wussten sie es noch nicht, da glaubten sie noch daran, ein schönes Musikfestival vor sich zu haben und noch viele mehr davon, Jahr für Jahr, doch es sollte das letzte dieser Art sein. Das konnten sie nicht wissen und das war in der Situation das Beste, was ihnen passieren konnte, denn sie waren zukunftsfroh und optimistisch. Wussten nichts von ihrem tödlichen Schicksal.
Es gibt eine Redensart: „Für ein Unglück kann keiner.“ und die gilt hier definitiv nicht, denn es gab Verantwortliche, die verantwortungslos gehandelt und entschieden haben. Ich kenne den Tunnel des Grauens. Ich hatte damals selbst zunächst die Absicht mit meiner guten Freundin Dorota zur Loveparade zu fahren, doch aus irgendeinem Grund entschieden wir uns für einen chilligen Videoabend bei ihr in Herne. Irgendwann klingelte ihr Handy und sie meldete sich auf Polnisch. Nach einem Satz wechselte sie die Gesichtsfarbe auf weiß und dann nach rot, redete wie ein Wasserfall, griff zur Fernbedienung und schaltete von Video auf TV um, wo auf ARD die Bilder der Katastrophe liefen. Sie legte auf und wir glotzten fassungslos und stumm auf den Bildschirm. Sie griff meine Hand und redete polnisch auf mich ein, ich verstand nur das Wort kurwa. Wir glotzten weiter. Irgendwann machte Dorota eine Flasche Wodka auf und goss uns beiden jeweils einen Tumbler ein. Sie reichte mir einen und schaute mich beim Zuprosten sehr direkt an. Ihre Stimme war heiser und leise: „Schatz, ich bin verdammt glücklich, mit Dir gerade jetzt genau hier zu sein und nicht woanders.“. Als sie trank, spiegelten sich in dem Kristallglas die Tränen auf ihren Wangen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir den Nachrichtenstream verfolgt haben, es müssen Stunden gewesen sein. Zwischendurch Anrufe von anderen Verwandten aus Polen und von meiner Familie aus dem Ruhrgebiet und immer wieder dieselben Worte, nein, es geht mir gut, ich bin in Sicherheit, in bin gar nicht in Duisburg. Irgendwann kurz vor 22 Uhr sind wir dann nochmal raus zum Supermarkt, weil uns der Wodka ausgegangen war. Nachschub war bitter nötig, denn nüchtern wären wir sonst in diesen Stunden vor Fassungslosigkeit bekloppt geworden.
Ich nehme in der Lobby einen Kaffee to go, verlasse das Hotel und laufe zur U-Bahn-Station hinüber, zwei Stockwerke tief und erwische die U76 in Richtung Düsseldorf. Es regnet immer noch, als die Bahn aus dem Tunnel auftaucht und nun oberirdisch fährt. Ich habe das Buch von Heinrich Peuckmann im Gepäck; „Leere Tage“. Darin beschreibt er, wie Sven seine Liebe Karla an jenem Tag im Juli verliert, wie sich ihre Wege in den Massen verlieren und Karla in der Enge des Tunnels stirbt:
„Dann wurde sie zum ersten Mal von ihm weggedrängt, weil die nächste Welle, diesmal nicht von hinten, sondern von der Seite kam. Drei, vier Jungen wurden zwischen ihn und Karla geschoben. Jetzt kreischte sie wirklich, streckte mit weit aufgerissenen Augen ihre Hand nach ihm aus, und er bekam sie zu fassen, weil einer der Jungen sich zur Seite beugte. Er zog, er zerrte, sie kamen sich wieder näher, und er atmete auf. Aber das letzte Stückchen, dieses verdammte letzte Stückchen, das sie wieder zusammengebracht hätte, schaffte er nicht, denn in diesem Moment gab es den nächsten Stoß. Karla wurde weggedrückt, sie konnte seine Hand nicht mehr halten, ihr Mund stand offen, aber er konnte nichts hören. Es war eine Welle, die sie nicht nur von ihm entfernte, sondern die sie kleiner machte, immer kleiner, bis er begriff, dass sie dabei war, überrollt zu werden.“
An der Karl-Lehr-Straße steige ich aus uns sehe direkt in den Tunnel. Er wirkt breiter, als ich ihn in Erinnerung hatte, dunkel, niedrig. Von dieser Richtung aus gelange ich zum Unglücksort am Fuß der Hauptrampe. Ich bin der einzige Gast.
Eine Pflastersteinstraße. Links ein Kiesbett mit Friedhofsblumengedecken. Friedhofskerzen, davor Bilder und kleine Schilder. Einzelne Rosen. Eine Stahlinstallation aus Wand und Bodenplatte, auf der Wand der Titel „Liebe hört niemals auf“, darunter ein Erläuterungstext, daneben in Treppenform die Fotos und Namen der 21 Gestorbenen. 20 von ihnen seien an Brustkompression gestorben, kann man in den Leichenobduktionsberichten lesen, das bedeutet, sie wurden erdrückt. Auf der Bodenplatte ebenfalls Grablichter. Daneben die schmale Treppe, die vielen als Fluchtmöglichkeit diente, 21 Kreuze und 21 identische künstliche Buxuskugeln in Tontöpfen mit den Namen der Verstorbenen. Neben der Treppe weitere Blumenarrangements, Schilder und Fotos im Kies. An der rechten Wand der Rampe die Landesflaggen der Opfer.
Wo einst die Rampe war, wurde ein Terrassengelände angelegt, das akkurat bepflanzt ist, eine Treppe führt in geschwungenen Serpentinen hinauf bis nach oben hin zur Ebene des ehemaligen Güterbahnhofs, wo sich das Hauptgelände der Veranstaltung befand. Da wollten sie alle hin. Eine schwarze Wandinstallation mit 21 weißen Holzkreuzen an der linken Wand der Rampe. Ich mache Fotos und werde von einem Auto, das durch den Tunnel fährt, angehupt. Dann ist es wieder still bis auf das gleichmäßige Verkehrsrauschen. Totenruhe herrscht hier wohl niemals.
Je länger ich mich hier aufhalte, umso klarer wird mir, dass ich mich aus Angst vor diesem Besuch lange gedrückt habe. Die ganzen Jahre über, in denen ich die Prozesse gegen die Verantwortlichen in den Medien verfolgte, war ich voller Wut über die menschenlebenverachtende gröbste Fahrlässigkeit und Missachtung gesetzlicher Sicherheitsauflagen. An dem Abend mit Dorota spürten wir beide den Schock und das Entsetzen, lebendig davongekommen zu sein, weil wir nicht wie geplant vor Ort waren. Nun spüre ich Trauer um die Gestorbenen, Trauer um Menschen, die ich niemals kannte, die Opfer einer erbarmungslosen Kulturmaschine namens Ruhr 2010 wurden, die sich auf Biegen und Brechen mit der Loveparade die Megaeventkrone aufsetzen wollte. 2009 hatten die Verantwortlichen der Stadt Bochum den Arsch in der Hose und sagte die Loveparade wegen Sicherheitsbedenken ab. Doch nicht so in Duisburg im Kulturhauptstadtjahr. Hier starben 21 jungen Menschen, weil sich ein paar politische Egomanen mit neuen kulturellen Federn schmücken wollten.
Der blaue Pfau (pavo cristatus) ist eine Vogelart aus der Familie der Fasanenartigen. Er gehört zur Ordnung der Hühnervögel und ist neben dem Fasan und dem Haushuhn einer der bekanntesten Vertreter dieser Vogelgruppe. Aufgrund ihres auffälligen Aussehens gelten vor allem die Männchen als die ältesten Ziervögel. Bereits in den Sagen der Antike wurden sie erwähnt. Als standorttreue Vögel werden die ursprünglich in indien und Sri Lanka beheimateten Tiere heute weltweit als Haustiere gehalten. Der Hahn ist an Hals, Brust und Bauch leuchtend blau. Je nach Lichteinfall kann das Gefieder grünlich und golden schimmern. Ein von den Nasenlöchern bis zum Auge reichendes, schmales Band sowie eine breite, halbovale Fläche unter dem Auge ist weiß und nackt. Im Verhältnis zum Körper fällt der Kopf eher klein aus.
Die Schleppe der Männchen besteht aus sehr stark verlängerten, ein bis eineinhalb Meter langen Oberschwanzfedern. Diese können zu einem fächerförmigen Rad aufgestellt werden.
Ich begreife gerade zum ersten Mal die Bedeutung einer Gedenkstätte richtig. Wir müssen der durch grobe Fahrlässigkeit und Missachtung gesetzlicher Sicherheitsauflagen Gestorbenen gedenken, um nicht aufzuhören dafür zu kämpfen, dass ihnen posthum Gerechtigkeit widerfährt und die Verantwortlichen dafür ihrer verdienten Strafe zugeführt werden. Damit zukünftige Pfauen es sich x-mal überlegen, ob sie lieber über Leichen und anschließend in den Knast gehen, oder ob sie verantwortungsvoll handeln wollen.
Die Pfauen, also die Verantwortlichen der vermeidbaren Katastrophe, hat der Journalist Johannes Heckmannes in seiner Aufarbeitung „Love Parade 2010. Tote eiskalt kalkuliert?“ (Berlin 2011) ziemlich genau beim Namen genannt. Dort finden sich Sätze wie: „Bereits im Jahr 2008 hatte eine interne Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern des Ordnungsamtes, der Polizei und der Feuerwehr festgestellt, dass der öffentliche Raum der Stadt Duisburg vollkommen ungeeignet für die Austragung einer Love-Parade sei. Der entstandene Bericht soll anschließend unter Verschluss genommen worden sein.“ (29)
Der Bericht wie die besorgten Worte von WAZ-Lesern kurz vor der Katastrophe zeigen, dass es durchaus auch Mahner gab, aber die wollte niemand hören. Man wollte das Großevent, um das Ruhrgebiet damit in Sachen Popkultur nach vorne zu bringen und dafür ging man buchstäblich über 21 Leichen.
Am Ende von „Leere Tage“ findet Sven wieder ins Leben zurück und besucht nach einem Jahr die Unglücksstelle, legt dort Blumen nieder:
„‘Ich bin gekommen, Karla‘, sagte er, als er ganz nah vor der Wand stand. ‚Ich weiß, dass du hier geblieben bist und dass du mich siehst. Es tut mir so weh, dass du hier geblieben bist, für immer an diesem schrecklichen Ort. Ich habe dich nicht vergessen, wie könnte ich das auch? Seit einem Jahr lebe ich nun ohne dich, aber du bist immer noch bei mir. In meinen Träumen bist du bei mir, in meinen Gedanken.‘“
Später durchquere ich den langen Tunnel und spüre Beklemmung. Auf der anderen Seite des Tunnels befindet sich das Mahnmal, das am 26. Juni 2011 eingeweiht wurde. Eine 3,50 hohe Stahltafel und 21 ineinander gestützte Balken, die für die Opfer stehen, dient als Mahnung der Öffentlichkeit. Als Mahnung für was genau, frage ich mich? Massenveranstaltungen zu meiden? Das Stahlkunstwerk lässt mich so kalt wie der Stahl, aus dem es gefertigt ist und ich mache mich ein paar Fotos später auf den Weg zurück zum Hotel. Doch ich nehme nicht wieder den Weg durch den Tunnel, sondern bleibe auf dieser Seite des Güterbahnhofs, laufe an dem Gelände eines Baggerherstellers und einem Discounter vorbei. Ich bin hier der einzige Fußgänger. Einmal drehe ich mich noch um und schaue zum Mahnmal und zum Güterbahnhof herüber, wo sich jetzt für mein Auge unsichtbar die Gedenkstätte befindet. Und verabschiede mich bei den Einundzwanzig, bei denen ich gerade zu Gast war.
Im Hotel zurück überspiele ich die Fotos und veröffentliche sie auf meinem Profil. Das Feedback lässt nicht lange auf sich warten. Viele meiner Freunde und Bekannten kennen 2010-Besucher und ich verabrede mich mit ein paar von ihnen zu Gesprächen. Was mich interessiert ist die Frage, welche Folgen die traumatologische Aufarbeitung für die Dabeigewesenen, Angehörigen und Hinterbliebenen jetzt nach zehn Jahren zeigt. Der Folkwang-Slogan der Kulturhauptstadt „Kultur durch Wandel – Wandel durch Kultur“ beweist sich in diesem Fall in der Krise und der dazugehörigen Trauerkultur oder eben nicht. Wie hat sich Duisburg, wie haben sich die Menschen geändert? Das, was ich mit diesen Menschen besprochen habe, werde ich hier nicht wiedergeben, weil es persönliche Schicksale sind und schon genügend persönliche Statements dazu veröffentlicht worden sind.
Im Klartext-Verlag erschien 2011, herausgegeben von RUHR 2010 GmbH. Essen für das Ruhrgebiet, www.ruhr2010.de der fette Prachtband „RUHR.2010. Die unmögliche Kulturhauptstadt. Chronik einer Metropole im Werden.“ Darin findet sich auf Seite 206 klitzeklein auf einer Viertelseite die Erwähnung der Loveparade: „Organisatorische Fehler hatten zu einer Panikwelle geführt. 21 junge Menschen verloren ihr Leben(…). RUHR2010 war an der Loveparade weder vertraglich noch organisatorisch oder finanziell beteiligt“ heißt es im Text weiter. Und damit bekommt der Titel „unmöglche Kulturhauptstadt“ ihre wahre Bedeutung. Eine Kulturhauptstadt, die alle Hebel über jegliche Sicherheitsbedenken hinweg in Gang setzt, um das Event Loveparade am Start zu halten und sich dann anschließend nur noch verlogen aus der Verantwortung zieht, ist tatsächlich nur noch unmöglich zu nennen. „RUHR2010, die unmöglich verlogene Kulturhauptstadt“, das ist der neue Titel dieser Veranstaltung. Herzlichen Glückwunsch zum neuen Titel, RUHR2010!
Am 4. Mai hat das Landgericht Duisburg den Prozess um das Unglück bei der Loveparade 2010 mit 21 Toten eingestellt. “Bei den drei zuletzt Angeklagten hatte das Gericht zuvor nur eine geringe Schuld vermutet.“ schreibt ntv.
Justitia ist die Göttin der Gerechtigkeit. Im Falle der Aufarbeitung der Loveparade2010-Katastrophe hat sie bodenlos versagt. Als gebürtiger Duisburger schäme ich mich maßlos für diese Stadt und das, was hier stattgefunden hat.
In Duisburg haben die Gedenkveranstaltungen zum zehnten Jahrestag der Loveparade-Katastrophe bereits gestern begonnen. Seit Donnerstagnachmittag versammeln sich die ersten Menschen im Karl-Lehr-Tunnel – dem Ort, an dem vor zehn Jahren 21 Menschen starben und mehr als 650 verletzt wurden. Die Stadt Duisburg hat den Tunnel am Freitag von 14-23 Uhr gesperrt, er ist in dieser Zeit ausschließlich den trauernden Menschen vorbehalten. Hinterbliebene aus dem Ausland, die aufgrund der Corona-Reisebeschränkungen nicht an der Gedenkfeier teilnehmen können, haben die Möglichkeit diese über einen privaten Livestream zu verfolgen. Die offizielle Trauerfeier beginnt um 18 Uhr. Die Personenzahl ist auf 100 angemeldete Teilnehmer begrenzt. Interessierte können die Veranstaltung per Youtube-Livestream verfolgen. Wegen der Corona-Pandemie gelten in diesem Jahr besondere Bedingungen für die Veranstaltungen. Die Zugänge zum Tunnel und der Gedenkstätte an der Rampe sollen reguliert werden. Es dürfen sich gleichzeitig maximal 15 Personen an der Gedenkstätte und 80 im Tunnel aufhalten. Das Tragen von Masken ist nicht notwendig.
Justitia hat versagt. Wir können nichts anderes tun, als der Gestorbenen zu gedenken, heute, morgen, in einem Jahr und auch noch in zehn oder zwanzig Jahren. Deshalb ist die Gedenkstätte auch gleichzeitig ein wichtiges Mahnmal, damit sich solche eklatanten Fehler, Pfusch und Trickserei in der Organisation von Massenveranstaltungen niemals mehr wiederholen. Mit diesem Mal wird die Stadt Duisburg leben müssen. Den Angehörigen und Hinterbliebenen gilt unser Beileid auch heute.