
Machen Klima- und Kriegsängste Kinder und Jugendliche krank? Der Angstexperte Dietmar Hansch sagt, Weltuntergänge auf dem Smartphone schädigen die Seele auf Dauer mehr als eine reale Katastrophe. Von Ellen Daniel und Michael Miersch
Frage: Herr Dr. Hansch, man liest immer wieder, dass Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen stark zunehmen. Können Sie das bestätigen?
Dietmar Hansch: Ich bin kein Epidemiologe, sondern Arzt und Psychotherapeut mit Schwerpunkt Angsterkrankungen. Mein Interesse gilt eher grundlagentheoretischen Fragen und dafür schau ich natürlich auf die Studien, die andere machen. Aufs Ganze gesehen wird da dieser Befund schon bestätigt. Grundsätzlich ist es schwer, solche Entwicklungen zu messen. Es gibt viele methodische Probleme, weshalb sich Studien auch widersprechen. Man kann aber ziemlich sicher sagen, dass ein Anstieg erkennbar ist seit dem Jahr 2010, als die massenhafte Smartphone-Nutzung unter Jugendlichen anfing. Mit Covid-19 gab es nochmals eine Zunahme. Nach der Pandemie erfolgte ein leichter Rückgang. Aber die Fallzahlen heute sind immer noch höher als vor Covid. Insgesamt ist das Niveau der Angststörungen besorgniserregend hoch.
Wie äußert sich eine Angststörung bei jungen Menschen typischerweise?
Jugendliche, insbesondere Pubertierende, empfinden Angst aus vielerlei Gründen. Sie haben beispielsweise Prüfungsängste und soziale Ängste. Das ist völlig normal. Es ist oftmals schwer abzugrenzen: Wo fängt klinisch relevante Angst an? Es gibt auch starke Überschneidungen von Angststörungen und Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder Essstörungen. Angst zeigt sich in körperlicher Anspannung, Schwitzen, Zittern, bis hin zu Panikattacken mit Herzrasen und dem Gefühl, verrückt zu werden. Im kognitiven Bereich wird über ein ständiges Sich-Sorgen geklagt, verbunden mit Anspannung und Schlafstörungen. Das kostet Kraft und kann die Betroffenen mit der Zeit hindern, sich normal zu entwickeln und ihr Leben zu leben. Das permanente Besorgtsein kann zu einem Dauergefühl von Traurigkeit, Enttäuschung und Antriebslosigkeit führen, das in eine Depression übergeht.
Kinder und Jugendliche können also durch Zukunftsängste ernsthaft krank werden?
Ja, unbedingt. Es gibt bei psychischen Erkrankungen immer ein Kontinuum zwischen äußeren und inneren Faktoren. Wenn Menschen eine ausgeprägte Veranlagung haben, bedarf es manchmal nur eines geringen äußeren Impacts, damit es zum Ausbruch einer psychischen Erkrankung kommt. Da kann die ständige Konfrontation mit drastischen Weltuntergangsszenarien durchaus zum ausschlaggebenden Faktor werden, der einen jungen Menschen sogar in den Suizid treibt. Ich frage mich, ob die Organisationen und Medien, die so gern in schrillen Tönen vor einer vermeintlich nahen Apokalypse warnen, sich dessen bewusst sind.
Man kann viel darüber lesen, dass die Kinder und Jugendlichen heute mit der Gleichzeitigkeit großer Krisen belastet seien: Putins Krieg gegen die Ukraine, Nachwirkungen der Pandemie, Klimawandel. Doch auch in der Vergangenheit gab es immer wieder Zeiten, in denen mehrere große Krisen zusammentrafen. Ist vielleicht nur die heutige Wahrnehmung neu?
Manche Journalisten, aber auch Psychologen behaupten, dass der Klimawandel die Jugendlichen ängstlich und depressiv mache und das das zeige, wie gravierend das Klimaproblem sei. Das hat viel von dem, was man in der Psychopathologie als „emotionales Schlussfolgern“ bezeichnet. Vom Vorhandensein eines Gefühls schließt man auf die Realität. Die drastischen Folgen einer Klimaerwärmung in Mitteleuropa liegen ja noch im Bereich von Prognosen. Es sind also keine Tatsachen, sondern Annahmen und Behauptungen, die die Ängste vermeintlich auslösen. Dass sich die Wahrnehmung von Krisen verändert hat, sieht man schon daran, dass bei großen Katastrophen in der Vergangenheit, beispielsweise nach dem 11. September 2001, keine Zunahme von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen gemessen wurde. Die äußeren Ereignisse, auf die Menschen mit Angst reagieren, sind hier wahrscheinlich nicht das Entscheidende. Ich glaube vielmehr, dass eine Vielzahl unguter kultureller Faktoren den allgemeinen Stresslevel und damit die Angstbereitschaft gesteigert hat. Man spürt dann diese diffuse Angst, sucht nach Erklärungen und greift nach den Negativthemen, die die Medien gerade im Angebot haben.
Hat jede Zeit und jede Kultur ihre eigenen Angstthemen?
Auf jeden Fall. Früher machten die Kirchen den Menschen Angst vor der Apokalypse. Angst war schon immer auch ein Machtinstrument. Wenn man Menschen Angst macht, kann man sie leichter leiten und führen. Heute kommt die Konkurrenz um Aufmerksamkeit hinzu. Um schnell viel Aufmerksamkeit zu erreichen, werden archaische Instinkte angesprochen: Sex, Gewalt, Klatsch und Tratsch und eben auch Angst vor Katastrophen.
Nennen Sie bitte in paar kulturelle Faktoren, die Angstgefühle heutiger Kinder und Jugendlicher verstärken.
Da spielt einiges rein: Abwesenheit der Väter, zu wenig Bewegung und soziales Spiel in der Natur, Ängstlichkeit der Eltern. Hauptfaktoren sind jedoch die ständige Verfügbarkeit des Smartphones und Social Media. Das hat der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt schlüssig nachgewiesen. Er nennt das „Neuverdrahtung der Kindheit“. Diese habe die kindliche Psyche auf ungute Weise umprogrammiert in Richtung einer Sucht nach schneller Belohnung. Ein Zusammenhang von Smartphone, Social Media und der Verschlechterung der psychischen Gesundheit ist nicht nur aus statistischen Gründen plausibel, sondern auch aus psychologischer Sicht. Ein erheblicher Teil der Angststörungen ist das Resultat aus ständiger Smartphone-Nutzung in Kombination mit dem sensationslüsternen Katastrophismus, mit dem sowohl die klassischen Medien als auch Social Media um Aufmerksamkeit wetteifern.
Wie müssen wir uns das vorstellen, was im Gehirn von Jugendlichen vor sich geht? Wenn ein junger Mensch zum Beispiel Videos von extremen Wetterereignissen anschaut, ist das für das Gehirn so, als ob er das in der Realität erlebt?
Es ist anders, und zwar schlechter.
Wie bitte? Es wäre besser, die Katastrophe wirklich zu erleben?
Medial vermittelte oder virtuelle Katastrophen wirken auf Dauer wie Gift auf die Psyche. An realen Katastrophen kann man mental wachsen. Die Evolution hat uns Menschen zu Katastrophenbewältigungswesen geformt. Wir sind dafür gemacht, Desaster zu meistern. Das Überwinden der Gefahr erzeugt sogar Glücksgefühle. Existenzielle Situationen zu meistern, empfinden wir als befriedigend. Drastische Erlebnisse vermitteln ein Gefühl dafür, was wichtig ist im Leben, stiften sozialen Zusammenhalt. In den Medien ist viel von posttraumatischen Belastungsstörungen zu lesen. Aber in der Realität ist posttraumatisches Wachstum viel häufiger. In Kriegszeiten sinken die Selbstmordraten. Bei virtuellen Bedrohungen stellt sich dieses Gefühl dagegen nie ein. Ich kann meine eigene Selbstwirksamkeit und Bewältigungsfähigkeiten nicht erleben und auch nicht die sozialen Bewältigungspotenziale, über die wir verfügen. Es bleiben die permanente Sorge und Angst. Im Realfall werden unsere Fähigkeiten zur Angstüberwindung mobilisiert, das geht mit einem ganz anderen Erleben einher, bis hin zum Glücksgefühl. Glück ist eine Überwindungsprämie, hat Manès Sperber einmal gesagt.
Wie kommt es eigentlich, dass die Klimaangst so vorherrschend ist? Wir fanden Hunderte Artikel, in denen diese Angst als Hauptbelastung der jungen Generation genannt wird. Die derzeitige Wirtschaftskrise hat doch einen viel direkteren Einfluss auf das Leben der Jugendlichen. Der Krieg in der Ukraine ist ziemlich nah, täglich werden dort Menschen getötet und verletzt. Die befürchtete Klimaapokalypse liegt in der Zukunft. Dennoch wird sie von vielen als das Allerschlimmste wahrgenommen.
Das ist sehr wahrscheinlich eine Folge der medialen Zuspitzung dieses Themas. Auch in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, in der Populärkultur und teilweise in den Elternhäusern nimmt die Bedrohung durch die Klimaerwärmung viel Raum ein. Jede Hitzeperiode, jede Überschwemmung, jeder Starkregen wird der Klimaerwärmung zugeschrieben. Auch wenn nachgewiesen ist, dass solche Wetterereignisse auch in der Vergangenheit immer wieder vorkamen. Öffentlich-rechtliche Sender bieten den Jugendlichen Apps und Computerspiele an, in denen sie Weltuntergangsszenarien hautnah, sinnlich erleben können. Wenn jedes Gewitter zum Vorboten einer Klimaapokalypse erklärt wird, dann hat das natürlich eine Wirkung auf Kinder und Jugendliche. Sie erleben das nicht mehr als Prognose oder Szenario, sondern als die Realität.
Es gibt Psychologen, die behaupten, starke Angstgefühle seien die angemessene, gesunde Reaktion auf den Klimawandel. Wer keine Angst habe, verdränge die Gefahr und sei der eigentlich Therapiebedürftige.
Ich halte das für falsch. Selbst wenn man den schlimmsten Prognosen der Apokalyptiker glaubt, werden sich die katastrophalen Folgen einer Klimaerwärmung erst in einigen Jahrzehnten bemerkbar machen. Für die Menschen in Mitteleuropa führt der Klimawandel derzeit zu keiner relevanten Lebensbeeinträchtigung. Es ist also eine irreale Angst, die den erlebbaren Fakten widerspricht.
Sie schreiben, dass unsere psychische Konstitution in vielen tausend Jahren geprägt wurde, in denen die Menschen als Jäger und Sammler lebten. Unter harten Bedingungen, wo es darauf ankam, den Tag zu überleben und jeden Vorteil sofort auszunutzen. Entsprechend schwer sei es für uns, auf die Zukunft bezogen vernünftig zu handeln. Spricht das Phänomen „Klimaangst“ bei Jugendlichen nicht dafür, dass sich die psychische Verfassung weiterentwickelt hat, reflektierter geworden ist? Wir sind in der Lage, die Zukunft zu antizipieren. Das ist doch gut.
Natürlich ist Sorge völlig berechtigt. Die Erderwärmung ist messbar und der CO2-Ausstoß der Menschheit ist dabei ein wichtiger Faktor. Das ist so gut wie unumstritten. Wahrscheinlich werden einige Folgen dieser globalen Erwärmung schädlich und zerstörerisch sein. Aber berechtigte Sorge ist etwas anderes als Panik, oder gar Angststörungen, die uns lähmen. Eine gesunde Reaktion auf die Herausforderungen des Klimawandels wäre zu fragen, wie man sich auf Katastrophenfälle vorbereiten kann. Wie man in globaler Kooperation den Ausstoß von Treibhausgasen senkt. Und welche Maßnahmen im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung dafür am besten geeignet wären. Eine Bewältigungshaltung ist da sicherlich hilfreicher als eine Opferhaltung.
Was hilft Kindern und Jugendlichen, sich von Weltuntergangsängsten nicht überwältigen zu lassen?
Das fängt mit der Stärkung der biologischen Ressourcen an: also gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, körperliche Bewegung. Es hilft viel, wenn ein Mensch etwas tut, das ihm ein Gefühl von Selbstwirksamkeit gibt. Frauen tut es beispielsweise gut, wenn sie einen Selbstverteidigungskurs machen. Das nächste wäre, auf die Psychohygiene zu achten. Man kann lernen, die Mechanismen zu verstehen, die eine gedankliche Fixierung auf mögliche Katastrophen bewirken. Man kann diese Mechanismen rechtzeitig an sich selbst bemerken und sie stoppen oder „umtrainieren“. Eine rationale Grundhaltung ist hilfreich. Man kann lernen, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Eine bewusstere Nutzung von Medien tut gut. Freundschaften und gute Paarbeziehungen sind wirksame Mittel zum Erhalt der psychischen Gesundheit. Es hilft ungemein, wenn man mit vertrauten Menschen reden kann und Ängste nicht in sich hineinfrisst.
Neben dem Einfluss des Smartphones und Social Media sehen Sie noch eine dritte Ursache für die Ängstlichkeit von Kindern und Jugendlichen: die Ängstlichkeit der Eltern.
Einerseits ist es das Modelllernen von den ängstlichen Eltern. Zusätzlich verhindert eine Überprotektion die Entwicklung von Resilienz und Bewältigungsfähigkeiten. Kindern werden wichtige Erfahrungen vorenthalten. Es gehört zum Heranwachsen, auch mal vom Ast zu fallen oder sich das Knie aufzuschlagen. Diese Überprotektion in der realen Welt geht zusammen mit einer Unterprotektion in der digitalen Welt, wie Haidt das treffend formuliert. Die digitalen Medien hindern Jugendliche daran, innere Ressourcen auszubilden. Weil die Aufmerksamkeitsspanne sinkt, weil die Wissensaufnahme beim digitalen Lesen geringer ist. Durch die Illusion, ich muss mir kein Wissen mehr aneignen, denn ich kriege es jederzeit auf dem Silbertablett präsentiert, verkümmert gewissermaßen der Innenausbau der Psyche. Wenn ich mir kein Wissen mehr aneigne, wenn ich keine Bücher lese, entwickele ich keine inneren Ressourcen. Diesen geistigen Reichtum brauche ich aber für den inneren Dialog und als Quelle des Trostes. Fehlen diese Fähigkeiten, bleibe ich ein außengeleiteter Mensch. Für außengeleitete Menschen ist natürlich das, was über die Medien angeboten wird, viel stärker wirksam als bei einem innengeleiteten Menschen. Der innengeleitete Mensch konsumiert weniger und kann mit den von außen auf ihn einwirkenden medialen Reizen distanzierter und souveräner umgehen, weil er beispielsweise aus der Literatur gelernt hat, wie man Krisen und schwierige Situationen meistert.
Noch vor wenigen Jahrzehnten galt es als Tugend, sich vom kühlen Verstand leiten zu lassen. Gefühlen misstraute man. Heute ist es eher umgekehrt. Gefühle gelten als besonders authentisch. Orientieren wir uns in den westlichen Gesellschaften zu sehr an unseren Emotionen?
Es ist ein Fortschritt, dass wir heute Gefühle ernstnehmen. Aber es muss dabei klar sein, dass Fakten sich nicht von Gefühlen aus der Welt schaffen lassen. Wir leben in einer therapeutischen Kultur, in der uns permanent eigeredet wird, wie schlimm schon geringste Irritationen oder Störungen auf uns einwirken. Das fördert erheblich die Bereitschaft, sich in Dinge hineinzusteigern. Doch der Versuch, die Welt so einzurichten, dass man niemals verletzt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Um unsere psychische Gesundheit zu wahren, müssen wir lernen, unsere Gefühle so zu beherrschen, dass wir möglichst von innen her unverletzlich werden.
Der Fokus liegt aber auf der Außenwelt. Zum Bespiel sind sogenannte Safer Spaces auf Jugendfestivals und anderen Veranstaltungen für Heranwachsende fast schon Standard.
Das ist ein Wahnsinn, der zur weiteren Vulnerabilisierung beiträgt. Jeder Angsttherapeut weiß, dass Konfrontation mit der Realität das wichtigste Mittel ist, um mit negativen Gefühlen umzugehen. Die Akzeptanz-Commitment-Therapie ist ein wichtiger und gut wirksamer Ansatz. Also die negativen Gefühle zu akzeptieren und sich auf positive Ziele zu konzentrieren. Und dann im Verfolgen positiver Ziele zu lernen, mit dem negativen Dingen umzugehen. Wir sind körpergetragene Wesen. Irgendwann holt uns alle die Realität ein, sei es durch eine Erkrankung, sei es durch einen Unfall. Für körpergetragene Wesen gibt es keinen Safe Space.
Dr. med. Dietmar Hansch leitete bis zu seiner Pensionierung 2023 den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Klinik Hohenegg bei Zürich. Er ist Facharzt für Innere Medizin und Psychotherapeut Als Wissenschaftler und Publizist beleuchtet er gesellschaftliche Probleme aus der Perspektive der Evolutions- und Systemtheorie. Er ist Autor mehrerer Bücher auch über Angsterkrankungen, z.B. „Angst selbst bewältigen – Das Praxisbuch“ (Knaur).
Der Artikel erschien bereits auf dem Blog von Michael Miersch