Viele Zuwanderer haben deutlich konservativere Einstellungen als die Mehrheitsbevölkerung in Deutschland.
Zwischen 2017 und 2022 fragte das World Values Survey Menschen in der ganzen Welt nach ihren Werten und Einstellungen zu den verschiedensten Themen. Das sozialwissenschaftliche Großprojekt begann 1981. Die von 2017 und 2022 erhobenen Daten gehören zur siebten Befragungswelle. Während wir hierzulande fast täglich die Ergebnisse von Umfragen und Studien lesen können, wissen wir oft nur wenig darüber, was Menschen in anderen Ländern denken, obwohl aus ihnen viele neue Mitbürger stammen.
Denn die Zusammensetzung der deutschen Gesellschaft hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Der Anteil der Migranten ist stark gestiegen. Betrug der Anteil von in Deutschland lebenden Ausländern 1961 noch 1,2 Prozent, sind es heute über 14 Prozent. 28,7 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen haben heute einen Migrationshintergrund. Die Hälfte von ihnen hat, wie der Autor selbst, die deutsche Staatsangehörigkeit.
Zweidrittel der Migranten kommen aus europäischen Staaten, ein Drittel hat außereuropäische Wurzeln oder ist direkt aus Ländern außerhalb Europas zugewandert. Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Zuwanderer in den kommenden Jahren sich weiter stark erhöhen wird. Allein aus wirtschaftlichen Gründen benötigt Deutschland eine Zuwanderung von etwa 400.000 Menschen im Jahr. Das Land wirbt also im Ausland um Arbeitskräfte. Hinzu kommt, dass Deutschland wie ganz Europa weiterhin das Ziel von Flüchtlingen bleiben wird.
Die Menschen, die nach Deutschland kommen, bringen aus ihren Herkunftsländern auch ihre Einstellungen und Werte mit. Und die sind oft deutlich konservativer als die der hiesigen Mehrheitsbevölkerung. So haben die über 67 Prozent der Türken in Deutschland für Erdogan gestimmt, dessen Partei AKP durchaus mit der AfD vergleichbar ist. In der Türkei selbst erzielte Erdogan nur knapp über 50 Prozent. Mit 78 Prozent war die Zustimmung für Erdogan im Ruhrgebiet besonders groß. Das Ergebnis lässt sich nicht dadurch relativieren, dass sich nur die Hälfte der in Deutschland lebenden Berechtigten an der Wahl beteiligt haben. Bedenkt man den Aufwand für eine Stimmabgabe, nur sehr weniger Wahllokale in Konsulaten, Briefwahl, war die Wahlbeteiligung sensationell hoch. Bei der Bundestagswahl, 2021 lag bei 76,6 Prozent und das obwohl das nächste Wahllokal meist um die Ecke liegt.
„Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich drauf!“, sagte die Grünen Politikerin Katrin Göring-Eckardt 2015 angesichts der damaligen Flüchtlingswelle auf einem Parteitag der Grünen. Ob Göring-Eckardt wirklich viele Gründe hat, sich zu freuen, darf bezweifelt werden, denn viele, die nach Deutschland kommen, sind deutlich konservativer als der Durchschnitt der Deutschen. Auch wenn für Afghanistan und Syrien, zwei Staaten, aus denen nach wie vor viele Menschen nach Deutschland flüchten, in dem aktuellen World Values Survey keine Daten vorliegen, haben die Zahlen aus Staaten in ihrer Nachbarschaft sicher eine gewisse Aussagekraft, denn auch die Menschen aus mitteleuropäischen Ländern liegen bei vielen Fragen nicht weit auseinander.
In Deutschland lehnen 6,4 Prozent Homosexuelle als Nachbarn ab. In Afghanistans Nachbarland Pakistan sehen das 41,2 Prozent auch so. In Marokko (79,9 %), Syriens Nachbarland Libanon (47,7 %) wollen auch viele nicht neben Schwulen und Lesben wohnen. Eine Einstellung, die auch viele Menschen in Nigeria (89,9 %), der Türkei (75,8 %), China (70,8 %), Rumänien (55,9 %) oder Kenia (73,1 %) teilen. Offener sind hingegen Briten (3,6 %), Uruguayer (4,7 %) und Niederländer (2,2 %).
Fleiß als Erziehungsziel bei Kindern ist 39.7 Prozent der Deutschen wichtig. Für Türken (62.3 %), Tunesier (80.3 %), Rumänen (73.9 %), Kenianer (81.3 %), Marokkaner (65.2 %) und Chinesen (70.4 %) spielt Fleiß indes eine wesentlich größere Rolle bei der Erziehung. Libanesen (44.4 %) und Niederländer (25.9 %) sehen es ähnlich wie die Deutschen.
37.4 Prozent der befragten Deutschen war eine stabile Wirtschaftslage wichtig, 12.4 Prozent fanden, das „Fortschritte auf dem Weg zu einer
Gesellschaft, in der in der Ideen mehr zählen als Geld“. Niederländer (34.0 % zu 8,6 %), Marokkaner (44.8% zu 15.0%) und Pakistanis (29.1 % zu 18.2 %) liegen in dieser Frage nah an den Deutschen. Tunesier (58.4 % zu 8 %), Nigerianer (61.8 % zu 9,6 %), Chinesen (55.4 % zu 7 %) sehen das deutlich anders.
Nur acht Prozent der Deutschen sind der Überzeugung, dass Männer bessere politische Führer sind als Frauen. Das sehen auch 6 Prozent der Niederländer und 6,8 Prozent der Briten so. In Nigeria (74,7 %), Pakistan (75,8 %), der Türkei (51,8 %), dem Libanon (46,1 %) und China (50,1 %) ist diese Ansicht deutlich verbreiteter.
Bei den Deutschen sind 9,8 Prozent der Meinung, dass, wenn Jobs knapp sind, Männer ein größeres Recht auf Arbeit haben als Frauen. In Australien (6,7 %), den Niederlanden (2,8 %) und den USA (5,2) ist man, was Gleichberechtigung betrifft, deutlich weiter.
Aber 51,2 % der Türken, 64,6 % der Nigerianer, 85,3 5 der Pakistanis und 61,7 Prozent der Libanesen sind der Meinung, dass Männer bei der Vergabe knapper Arbeitsplätze bevorzugt werden sollten.
Mit 55,7 Prozent glaubt etwas mehr als die Hälfte der Deutschen an einen Gott. Die Niederländer (28.6 %), Chinesen (11,5 Prozent) und Ukrainer (41.9 %) sind zum Teil deutlich atheistischer eingestellt. Gläubiger sind hingegen die Türken (91.8 %), die Libanesen (85.3 %), die Nigerianer (83.2), Kenia (83.0 %) und die Pakistanis (89.3 %). In Bangladesch glauben sogar 98.8 % an einen Gott. Das ist der Gläubigkeitsweltrekord.
Natürlich können sich diese Einstellungen wandeln – allerdings nicht nur bei den Zuwanderern. Ob auf der Arbeit, im Freundeskreis oder in der Schule: Auch die Überzeugungen und Meinungen der Migranten werden Einfluss auf die Ansichten der Deutschen ob mit ohne Migrationshintergrund haben. Austausch ist keine Einbahnstraße. Unter dem Strich ist es also wahrscheinlich, dass Deutschland konservativer wird.