Man muß sich an morgen erinnern

40 Jahre Theater an der Ruhr. Ausstellung und Podiumsreihe

Ich wuchs in Mülheim an der Ruhr auf, einen Steinwurf vom Raffelbergpark entfernt und als meine Eltern mich das erste mal mit ins Theater an der Ruhr in „Die Dreigroschenoper“ nahmen, fand ich, dass die Stuhlreihen im Theatersaal des ehemaligen Kurhauses an einen Zirkus erinnerten und das, was ich da auf der Bühne erlebte, hatte gar nichts mit der hermeneutischen Inhaltsangabe meines Reclam-Schauspielführers zu tun. Der kleine Klugscheißer in mir war frustriert und ratlos. Das sollte mir fortan noch häufiger mit Inszenierungen von Roberto Ciulli passieren. Kurz vor dem Abitur erlebte ich „Glückliche Tage“ auf der Studiobühne der Stadthalle. Es begann relativ konventionell mit dem Monolog der Winnie. Dann ging der Eiserne Vorhang hoch, der die Studiobühne von der Hauptbühne trennt. Die Darstellerin der Winnie begann nun, den riesigen Theater- und Zuschauerraum zu bespielen und spielte ihren Monolog, während sie zwischen den mit rotem Kunstleder bezogenen Stuhlreihen des Zuschauerraums herumlief und darüber kletterte. Das war eine sehr intensive und prägende Theatererfahrung. Während meines Studiums war der Dramaturg des Theaters an der Ruhr in einer theaterwissenschaftlichen Vorlesung an der Ruhr-Universität zu Gast. Helmut Schäfer – der betonte, dass er nicht Theaterwissenschaft studiert habe, sondern bei Theodor W. Adorno – gab uns allen damals einen wichtigen Satz mit: „Im Theater geht es nicht um Wissen. Es geht um Erfahrung.“ Wir sehen eine Inszenierung nicht, wie der Autor es möchte, oder auch nicht wie der Regisseur es möchte: Jede Person im Publikums sieht eine Aufführung durch die Brille ihrer einzigartigen Persönlichkeit und wird somit neben Dramatiker, Regisseur und Ensemble zum Co-Autor.

Das führt mich zur kollektiven Praxis des Theaters an der Ruhr. Zu dieser hat sich Roberto Ciulli im Interview mit „The Collective Eye“ geäußert:

„Wenn es überhaupt einen produktiven Ort kollektiver Intelligenz gibt, so ist es das Theater. Dort kann sie sich entfalten, denn es ist ein einmaliger Ort der kollektiven Kunst. Sein Wesen besteht darin, dass in einem Ensemble verschiedene individuelle Autor:innenschaften an einem gemeinsamen Strang ziehen. Neben den Autor:innen des Stückes gehören dazu die Regiseur:innen, die Schauspieler:innen, die Bühnen- und Kostümbildner:innen und nicht zu vergessen die Zuschauer:innen. Das Theater zielt darauf ab, dass alle, die als Autor:innen in den künstlerischen Prozess einbezogen sind, eine andere Form von Gesellschaft aufscheinen lassen. Insofern wohnt dem Theater die utopische Möglichkeit inne, eine kollektive Intelligenz zu entwickeln.“

Wer erfahren möchte, wie der Probenprozess im Unterschied zum pyramidal-hierarchisch organisierten Prozess des klassischen Staats- und Stadttheaters im Theater an der Ruhr abläuft, der hat jetzt die Gelegenheit dazu.

40 Jahre Theater an der Ruhr – Die Ausstellung

Unter dem Titel „Man muß sich an morgen erinnern – 40 Jahre Theater an der Ruhr“ zeigt das Theatermuseum Düsseldorf noch bis zum 24. Juli 2022 eine Ausstellung über das TAR, die von Elisabeth Strauß kuratiert wurde. In Raum Eins sieht der Besucher klassische Theaterfotografien vom „Theater an der Ruhr unterwegs“. Im Raum Zwei dann auf einer Wand filmische Dokumentation über die Inszenierungsarbeit des Theaters an der Ruhr und auf einer anderen Wand Filmausschnitte aus dem Projekt „Seidenstraße“. Das Theater an der Ruhr reist viel in der Welt herum und den Aufführungen in Zentralasien, Kasachstan, Usbekistan, Iran und vielen anderen Ländern folgten immer auch Einladungen der Mülheimer an Theater vor Ort für Gastspiele in Mülheim. Neben der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Roma Theater Pralipe ist diese Praxis der Schlüssel dafür dass Roberto Ciulli, Helmut Schäfer und das Ensemble des TAR den interkulturellen Ansatz in Deutschland implementiert haben.

In Raum Drei der Ausstellung finden sich Kostüme und Figurinen aus Inszenierungen. Fotos, Figurinen und Kostüme werden nicht am Ort erläutert, sondern in einem speziellen Faltblatt, das an der Theatermuseumskasse kostenlos erhältlich ist. Für 25 € bekommt man dort auch den detaillierten und sehr wertigen Katalog zur Ausstellung, der in einer nummerierten Auflage von 500 Exemplaren erschienen ist. In Raum befindet sich eine HörVitrine mit Auszügen aus Elektra mit Original Musik. Raum Fünf wird mit einem raumfüllenden Kubus bespielt, in dem als Installation Filmausschnitte, Inszenierungen und Trailer ineinander überlaufen.

Infos zu Öffnungszeiten, Eintrittspreisen Anfahrt unter
Theatermuseum – Landeshauptstadt Düsseldorf (duesseldorf.de)

 

Die Gesprächsreihe mit Roberto Ciulli

In der Gesprächsreihe „Man muß sich an morgen erinnern – 40 Jahre Theater an der Ruhr“, die jeweils um 19:30 Uhr im Kleinen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses stattfindet, lädt sich Roberto Ciulli an insgesamt vier Abenden im Mai und Juni Gäste auf die Bühne. Am 24.5.22 sprach er mit dem Autor Navid Kermani,

Bei dem von Helmut Schäfer moderierten Gespräch ging es nach einer launigen Anekdote über Kermanis Zeit als Praktikant im Theater an der Ruhr bald nur noch um Grundsätzliches; um das Menschsein schlechthin. Während Ciulli mit Franz von Assisi als ersten christlichen Mystiker an die Thematik heranging, wählte Kermani dazu den islamischen Mystiker Scheich Abu Said aus dem 11. Jahrhundert. Von da aus ging es zügig über Hegel und Adorno in die Gegenwart. Kermani las zwischendurch Passagen aus seinem neuen Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“, das vom Autor konzipiert ist als Gesprächsanlass für Erwachsene mit Kindern über Gott und den Tod. Diese Themen durchziehen die Spielpläne des TAR seit seiner Gründung. Es war eine lebhafte Diskussion unter Philosophen, die das Publikum an ihren Gedankenwegen teilhaben ließen. Wenn nach Jaspers das Suchen und nicht der Besitz von Wahrheit das Wesen der Philosophie ist, dann wird das Reisen als Prozess des Unterwegs-seins an sich zu einem philosophischen Akt. Vor diesem Hintergrund ist die Reisetätigkeit des TAR auch zu verstehen. „Den Leuten immer soviel aufladen, wie möglich.“, dieses Zitat von Heiner Müller löste sich in dem Gespräch Ciullis, Schäfers und Kermanis für das Publikum ein. Ein höchst gedankenintensiver Abend.

Die nächsten Termine:

31.05.2022: Haupt- Und Nebenwege – Matthias Pees im Gespräch mit Roberto Ciulli

08.06.2022: Hin und zurück – Europa und die Türkei. Can Dündar im Gespräch mit Roberto Ciulli

12.05.2022: „Man muss sich an morgen erinnern“ – Abschlussveranstaltung zu 40 Jahre Theater an der Ruhr mit Roberto Ciulli und Gästen

Infos und Karten unter: https://www.dhaus.de/

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