Seit mehr als 1700 Jahren leben Juden in dem Teil Europas, der heute als Nordrhein-Westfalen ein Teil Deutschlands ist. Das Jubiläum wird in diesem Jahr gefeiert. Doch wie steht es um die Zukunft des jüdischen Lebens im Land?
321 setzte Kaiser Konstantin die bis dahin übliche Befreiung der Juden von städtischen Ämtern in Köln außer Kraft. Es ist das Datum, wegen dem in diesem Jahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland gefeiert wird. Klar ist, Juden lebten offenbar schon länger in Köln. Und an Deutschland dachte damals noch kein Mensch. Köln gehörte zum Römischen Reich und hörte unter Konstantin auf, eine heidnische Macht zu sein. Der Kaiser, der selbst wohl erst auf dem Totenbett getauft wurde, machte das Christentum erstmals zur Staatsreligion.
Das Ereignis wird gefeiert, auch wenn viele der geplanten Veranstaltungen wegen Corona anders ablaufen als geplant. Die Feiern dienen auch der Selbstvergewisserung der Mehrheitsgesellschaft: Nach dem Zivilisationsbruch der Shoa gibt es wieder jüdisches Leben. Die lange Linie der jüdischen Tradition in diesem Land konnte nicht zerstört werden. Dabei ist das Leben von Juden heute keineswegs sicher: Neonazis und Islamisten bedrohen sie und greifen Synagogen an. Die Einzigartigkeit der Shoa wird von immer mehr Linken bestritten.
Die jüdischen Gemeinden wuchsen erst nach dem Ende des Ostblocks durch die Zuwanderung von Kontingentflüchtlingen aus der ehemaligen Sowjetunion zu einer sichtbaren Größe heran. Zahlreiche von ihnen wurden neu gegründet und Synagogen gehören heute oft wieder zum Stadtbild.
Aber wie ist es um die Zukunft des jüdischen Lebens bestellt? Die Welt am Sonntag hat zwei Juden und eine Jüdin aus drei Generationen gefragt.
Diana Broner
„Grundschullehrerin war immer mein Traumberuf. Ich wollte mit Kindern arbeiten, die einen Migrationshintergrund haben, denn ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, mit sechs Jahren die Sprache nicht zu verstehen und sich durchkämpfen zu müssen. Für mich als Kind war es eine keine einfache Zeit. Der Weg zu Abitur war schön, aber auch schwierig.
Es war immer meine Mission, den Kindern eine Brücke zu bauen, bei der Integration zu helfen, aber auch sie dabei zu unterstützen, zur eigenen Identität zu stehen.
Ich arbeite in einer Grundschule in der Nordstadt in Dortmund und gehe offen damit um, dass ich Jüdin bin. Bis jetzt habe ich nichts Schlimmes erlebt. Ein Kind hat einmal gesagt, es werde Gotteskrieger und tötet dann alle Juden, aber so etwas kommt von den Eltern. Mir wurde aber auch schon zum jüdischen Neujahrsfest gratuliert. Angst habe ich nicht. Wegen der Pandemie haben alle Kinder meine private Telefonnummer. Die WhatsApp-Gruppe der Schule war während der Angriffe auf Israel im Mai allerdings voller antisemitischer Parolen. Ich finde es schrecklich, dass immer wieder gesagt wird: Das ist nicht gegen die Juden, das ist gegen Israel. Das ist für einen jüdischen Menschen untrennbar.
Ich wohne in der Innenstadt West. Dorstfeld, der Stadtteil, in dem viele Neonazis leben, ist nicht weit. Ich arbeite an eine Schule, an der viele Juden hassen und habe mit Freunden zusammen einen Kleingarten mit Neonazis in der Nachbarschaft. Die Griechen und Portugiesen in dem Garten können ihre Fahnen aufhängen. Meine Freunde und ich trauen uns das mit einer Israelfahne nicht. Im Alltag vergesse ich, dass ich Jüdin bin. Man sieht es mir ja auch nicht an. Ich bin nicht sehr religiös. Aber ich werde immer wieder daran erinnert, dass ich anders bin.
Meine Eltern war es wichtig, dass es wieder jüdisches Leben in Deutschland gibt. Sie erinnern uns daran, dass wir auf gepackten Koffern leben. Meine Mutter ist sehr auf der Hut. Die Angst, dass man zu lange wartet und es dann zu spät ist, ist immer da. Auf einer Demonstration gegen Israel im Mai sagte ein Imam, zwei Milliarden Muslime werden Europa überrennen und alle Juden vernichten. In der Nordstadt leben viele kinderreiche Familien. Rein demographisch betrachtet wird sich Deutschland in den nächsten 20 Jahren verändern.
Mit Anfang 20 habe ich gesagt, dass ich jetzt hier angekommen bin.
Für mich ist es ein Albtraum, noch einmal ganz von vorne anzufangen: Meine Freunde und meine Eltern leben hier. Es bedeutet uns schon sehr viel, nach Deutschland gezogen zu sein. Für meine Familie in Israel war es unvorstellbar, dass wir ins Täterland gegangen sind. Heute sehen sie es ambivalent. Meine Großeltern haben uns schon besucht, obwohl sie nie nach Deutschland kommen wollten. Bei allen Vorfällen, die es gibt, sehen sie auch, dass hier die Geschichte aufgearbeitet wird.
Diana Broner, 31, zog im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie ist Lehrerin an einer Grundschule in der Dortmunder Nordstadt.
Leonid Charga
Wir haben uns sehr bewusst in Deutschland niedergelassen, meine Familie hatte auch andere Möglichkeiten. Insgesamt glaube ich schon, dass es das Land ist, in dem meine Kinder aufwachsen werden. Die jüdischen Gemeinden sind in den vergangenen Jahren wieder etwas kleiner geworden, aber sie werden bleiben. Die Zahl ihrer Mitglieder wird sich stabilisieren. Es gibt heute wieder jüdische Kindergärten und Schulen. Die Grundlagen für ein dauerhaftes jüdischen Leben in Deutschland sind da.
Man weiß aber nicht, was die Bundestagswahl bringen und wie sich die AfD entwickeln wird. Ich werde aber die Kinder so erziehen, dass sie im Zweifel die Koffer packen und anderswo leben können. Aber das ist nach den vielen Vertreibungen, die wir Juden erlebt haben, in unseren Genen. Antisemitismus habe immer erlebt. Aber eines ist auch klar: Meine Familien und ich wollen bleiben und planen unser Leben in Deutschland.
Als Kind wurde ich angegangen, weil die Juden angeblich Jesus ermordet hätten. Wenn ich Demonstrationen sehe, auf denen Leute mit dem einem gelben Stern rumlaufen, dann ist das für mich ebenso antisemitisch wie die Hetze gegen Israel in den sozialen Medien. Juden sind auch eine Schicksalsgemeinschaft und das nimmt man dann persönlich. Was mich auch nachdenklich stimmt, ist, wie die Justiz mit Antisemitismus umgeht. Die jüdischen Verbänden haben, versucht die Staatsanwaltschaft dazu zu bringen, gegen Neonazipartei „Die Rechte“ zu ermitteln, als die mit dem Plakat „Israel ist unser Unglück“ für sich warb. Die tat aber alles, um nicht ermitteln zu müssen. Sollen das doch die Richter entscheiden.
Leonid Charga kam 1994 mit seiner Familie aus der Ukraine nach Deutschland. Der 39jährige ist Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde in Dortmund.
Felix Lipski
Nach den antisemitischen Ausschreitungen im Mai fragte mich ein Schulfreund, ob Deutschland ein islamischer Staat wird. Das denken zurzeit viele Israelis. Ich lebe seit über 20 Jahren in Deutschland und habe jetzt Sorgen. Viele meiner deutschen Freunde stehen allerdings zu uns Juden und unterstützen uns. Aber natürlich frage ich mich: Wie geht es weiter? Wir befolgen die Gesetze in Deutschland und sind gut integriert. Meine ältere Tochter ist Ärztin, meine jüngere Eventmanagerin. Beide Schwiegersöhne sind auch Ärzte. Eine meiner Enkelinnen hat schon ihren Master und die zweite ist gerade dabei.
Aber viele, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland kamen, brechen die Gesetze und verbreiten Hass gegen Juden. Hierbleiben können sie trotzdem. Volksverhetzung ist nicht erlaubt. Die Polizei muss mit aller Kraft dagegen vorgehen. Ich habe viele türkische, persische und kurdische Freunde, aber sie sind anders als viele der neu Angekommenen, die an den antisemitischen Aktionen teilnehmen.
Sicher fühle ich mich trotzdem. Ich gehe in Bochum und Herne in die Schulen und erzähle den Kindern von der Vergangenheit. Die Lehrer bringen ihnen bei, dass im zweiten Weltkrieg sechs Millionen Juden ermordet wurden. Für viele Schüler bin ich der erste lebende Jude, den sie kennenlernen. Ich erzähle ihnen von meiner Familie. Wir waren zwei Jahre im Ghetto von Minsk. Am Anfang waren dort nur Juden aus Weißrussland, aber dann wurden auch Juden aus Deutschland und anderen europäischen Ländern dorthin deportiert und ermordet. Fast 50 Juden aus Bochum und Herne wurden nach Minsk deportiert, sie wurden alle umgebracht. Von den 1300 Juden aus Düsseldorf und Wuppertal überlebten nur ein oder zwei das Minsker Ghetto. Ich versuche den Kindern zu zeigen, dass der Holocaust auch etwas mit den Städten zu tun hat, in denen sie leben. Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber die meisten der Geschichtslehrer an Schulen und Studenten in der Universität haben sehr allgemeine und oberflächliche Kenntnisse über den Holocaust. Manche Lehrer haben Angst über den Holocaust zu sprechen, weil ein großer Teil der Schüler Migranten aus islamischen Ländern sind. Mein Motto: Man muss zuerst Studenten und Lehrer das Thema Holocaust beibringen und im Unterricht mehr Zeit aufbringen, um Videos und Aufzeichnungen aus der Zeit den Schülern zu zeigen. Nie wieder!
Felix Lipski ist 83 Jahre alt, wohnt in Bochum. Er ist 1938 in Minsk geboren. Mit drei Jahren wurde er zusammen mit seiner Mutter in das dort von den Deutschen errichtete Getto gesperrt. Seine Mutter war im Getto im Widerstand gegen die Nazis aktiv. Gemeinsam mit ihrem Sohn gelang ihr 1943 die Flucht.
Bis zur Befreiung Weißrusslands durch die Rote Armee im Rahmen der Operation Bagration im Sommer 1944 lebte Lipski mit seiner Mutter im Familienlager der Partisaneneinheit von Schalom Sorin. Lipski wurde später Arzt und gründete die Weißrussische Vereinigung der Holocaustüberlebenden. Im November 1989 kam er nach Deutschland.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag
[…] Werk „Nur wir haben überlebt“ heraus, Untertitel: „Holocaust in der Ukraine“. Zusammen mit Felix Lipski von der Jüdischen Gemeinde Bochum haben wir Zabarko 2009 in die Christuskirche Bochum eingeladen, […]
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