Massive Abschiebewelle von Jesiden aus Deutschland in den Irak

Demonstration von Jesiden (Archiv) Foto Laurin

Seit längerer Zeit werden Jesidinnen und Jesiden aus Deutschland in der Irak abgeschoben. In den letzten Wochen wurde dies noch einmal intensiviert. Wen es dabei trifft, sind Überlebende eines Völkermordes. Von unserem Gastautor Holger Geisler.

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“

Wie im bekannten Gedicht von Heinrich Heine bin auch ich derzeit fast jede Nacht um den Schlaf gebracht. Taten wie die jüngst in München, in Magdeburg oder am schlimmsten die in Aschaffenburg lassen wohl niemanden kalt. „Die Ausländer sind  an allem Schuld“ höre ich inzwischen sehr oft. Noch keine fünf Jahre ist es her, dass -ausgerechnet an meinem Geburtstag – neun Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden, niemand scheint sich daran noch zu erinnern.

Nur wenige Monate später wurde Kassels Ministerpräsident Walter Lübcke vom Neonazi Stephan Ernst erschossen. Erinnert sich heute noch jemand an die NSU Morde? Der nationalsozialistische Untergrund, mit rund 200 Unterstützern, verübte 43 Mordversuche und brachte neun Migranten und eine Polizistin um. Die Taten wurden von staatlicher Seite immer wieder vertuscht, Nie habe ich bei diesen Taten aber gehört „Die Deutschen sind an allem Schuld“.

In Aschaffenburg wurde ein kleines Mädchen mit marokkanischen Wurzeln von einem Afghanen abgestochen, ebenso ein deutscher Erwachsener, ein kleiner syrischer Junge wurde lebensbedrohlich verletzt. Eigentlich spielt die Herkunft für mich keine Rolle, aber sonst kommen wieder die Vorwürfe, man wolle die wahre Herkunft verschleiern.

Und dass Herkunft auch für die Politik scheinbar sehr wichtig ist, verdeutlichte der Post von Julia Klöckner, immerhin ehemalige und vielleicht künftige Bundesministerin.  „Es gibt Kulturen, die sind mit unserer Lebensweise nicht einverstanden, deshalb können wir mit Ihnen nicht einverstanden sein“. Gibt es wirklich Kulturen, in denen das Abstechen von Kleinkindern toleriert wird? Und wenn ja, welche sollen das sein? Die muslimische, der sowohl die Mehrzahl der Opfer als auch die Täter angehören? Oder alle Menschen des Nahen Ostens oder aus Nordafrika?

Und was wäre dann die Schlussfolgerung, wir schicken sie alle weg, egal ob deutscher Pass, 25 Jahre in Deutschland, als Lehrerin, Krankenpflegerin, Müllwerker oder Feuerwehrmann berufstätig? Müsste dann auch die Familie des ermordeten Mädchens dieses Land verlassen?

Polizei kommt in der Nacht

Leider sind wir aber schon viel weiter, denn der zweite Grund, der mich um den Schlaf bringt, sind die derzeit ständig durchgeführten Abschiebungen. Die Polizei kommt in der Nacht, stürmt Wohnungen und bringt völlig verängstigte Menschen in Abschiebehaft.

Und es sind nicht die Gefährder, die Gewalttäter, oder die Islamisten, die die übelsten Verbrechen in der Heimat begangen haben oder hier ein Kalifat errichten wollen.

Oftmals glaubt man mir nicht, wenn ich darüber berichte, deshalb einige der Fälle aus den letzten 48 Stunden.  Um fünf Uhr morgens wird eine Wohnung in NRW gestürmt. Dort lebt ein Geschwisterpaar, Jesiden aus dem Irak und vor dem IS geflohen. Während das Mädchen aus dem Schlaf gerissen wird und sich nicht einmal richtig ankleiden darf, ist der Junge fertig angezogen. Der Grund dafür ist einfach. Sein Dienst beim Hermes Paketdienst soll gleich beginnen. Sein Job wird an diesem Tag unerledigt bleiben. Vielleicht bekommt ein Diabetiker sein dringend benötigtes Insulin nicht, vielleicht wartet jemand zum Valentinstag verzweifelt auf den Verlobungsring, oder ein wichtiges Dokument ist nicht rechtzeitig beim Empfänger. Sie wollten sich hier in der Freiheit ein selbstbestimmtes Leben aufbauen, ohne Repressalien durch den Staat, die sie in der kurdisch-irakischen Heimat immer wieder erleben mussten.

Nur ein paar Stunden später betritt ein weiterer junger Jeside hoffnungsvoll die Ausländerbehörde in einer hessischen Großstadt. Sein Aufenthalt soll verlängert werden, hat die Stadt ihm schriftlich mitgeteilt. Die Belohnung dafür, dass er sich gut integriert hat, die deutsche Sprache beherrscht und bislang Vollzeit gearbeitet hat. Nun soll der nächste Schritt beginnen, er hat sich einen Ausbildungsplatz organisiert und will sich eine Zukunft aufbauen, schließlich möchte er bald seine Freundin, eine deutsche Staatsbürgerin, heiraten. Daraus wird erst einmal nichts werden, denn in der Ausländerbehörde klicken die Handschellen. Die Polizei nimmt den jungen Mann ebenfalls in Abschiebehaft, während die Freundin verzweifelt zurückbleibt.

Irrsinn

Ein paar Tage zuvor ist zwei jesidischen Geschwistern ähnliches in Bayern widerfahren. Beide sind Vollzeit berufstätig, die junge Frau, bereits religiös mit einem erfolgreichen Unternehmer, der im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, aus NRW verheiratet. Weil sie verspätet zum Termin erscheint, wird sie nicht in Handschellen genommen, sieht aber mit an, wie ihr Bruder von mehreren Polizisten abgeführt wird. Voller Panik flieht sie und ist seitdem untergetaucht. Der Irrsinn wird hier besonders deutlich. Die Gemeinde, in der der Ehemann lebt, war bereit, die Frau aufzunehmen, die bayerischen Behörden haben dies abgelehnt. Wird der Ehemann nun, falls seine Frau auch zurück in den Irak muss, dieser folgen, seinen Betrieb schließen und damit 12 Mitarbeiter in die Arbeitslosigkeit schicken? Oder wird er sich von seiner Frau trennen, weil Deutschland das für angemessen hält? Die Alternative wäre zu warten, bis sie über eine Familienzusammenführung wieder zu ihm kommen dürfte. Nach derzeitigem Stand wären das ein paar Jahre, hält eine Liebe das wirklich aus. Manche in der Politik wollen selbst die Familienzusammenführung streichen.

Während ich diese Zeilen tippe, fallen mir nicht die ein, denen wir helfen konnten, sondern die, bei denen wir gescheitert sind.

Ich melde mich bei einem jungen Jesiden im Irak. Er wurde abgeschoben, seine gesamte Familie lebt in Deutschland. Es geht ihm schlecht, sagt er, er hat Alpträume und Angstzustände. Er hat keine Arbeit gefunden und keine Wohnung. Er lebt bei einem Onkel, der in einem Zelt im Flüchtlingscamp mit seiner Frau und seinen sechs Kindern selbst nur vor sich hinvegetiert.

Ich brauche etwas, dass mich aufbaut, und so rufe ich zwei Schwestern an, denen wir temporär eine Zukunft in Deutschland ermöglichen konnten. Wie es nach der Ausbildung weitergeht, wissen wir noch nicht, aber das hat ja auch noch Zeit. Das Telefonat verläuft anders als erwartet. Die Eltern, beide Ende sechzig, haben Post erhalten. Auch sie sollen Deutschland verlassen.

Die Politiker die 2023 den Genozid an den Jesiden im Bundestag anerkannt hatten, verstehen angeblich nicht wie es dazu kommen konnte. Innenministerin Nancy Faeser sieht keine Fehler bei sich, ihrem Amt oder ihren Behörden. Die Bundesländer betonen, sie würden das alles gar nicht wollen und das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) kann daran nach eigenen Angaben nichts ändern.

„Wenn Euch die Islamisten Eure Heimat nehmen, schenken wir Euch die unsere“. Die starken Worte im Bundestag an die Jesiden sind ebenso vergessen, wie die Morde an Walter Lübcke und in Hanau.  Und ja „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“. Und ja, das hat mit meinen jesidischen Freundinnen und Freunden zu tun, nur Schuld sind diese daran ganz sicher nicht.

Der Artikel erschien bereits in der Jungle World

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