Mehr Schurkenballett als sportlicher Wettkampf – das ist die WM in Qatar

Korruption, Vorteilsnahme und Verstöße gegen Menschenrechte – das ist das Innenleben der FIFA | Foto: wikipedia / Kremlin / CC BY 4.0

Die Liebe zum Fußball ist in Deutschland immer ein ganz großes Thema gewesen. Inzwischen sind es nicht mal zehn Millionen Fans, die das Auftaktspiel der Nationalelf verfolgten. Droht heute mit der Partie gegen Spanien das nächste Desaster? Peter Hesse und Thommy Junga glauben, dass die prominenten Akteure der FIFA aktuell sehr isoliert wirken und das zukünftig Veränderungen in den Strukturen vielleicht möglich sind. Aber dazu müsste die Politik mehr Druck aufbauen.

Peter Hesse: Die ganz große Euphorie löst die WM in Deutschland bislang nicht aus. Scheinbar haben viele Fans den Aufruf „Boycott Qatar“ ernst genommen und wollen nicht allzu viel mit diesem Turnier in Berührung kommen. Zumindest zeigt dies ein Blick auf die TV-Einschaltquoten. Die liegen seit Beginn auf einem mäßigen Niveau. Selbst das Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft verfolgten nur 9,23 Millionen Zuschauer in der ARD. Wird im nächsten Schritt jetzt etwa Ewald Lienen FIFA-Präsident und leitet die Palast-Revolution ein?

Thommy Junga: Es existieren wirklich genug Gründe dieses Turnier links liegen zu lassen. Ich hätte den deutschen TV-Quoten mit sportlichem Erfolg der Flick-Elf auch noch einen Aufschwung zugetraut, aber dieser Faktor scheint Stand jetzt zweifelhaft. So bleibt zumindest ein wenig Hoffnung, dass die nationalen Verbände als Konsequenz massive Veränderungen im Vergabe- und Organisationskontrollprozess einfordern werden und die FIFA in ihrer jetzigen Form einige Dellen abbekommt. Immer mehr Verantwortliche entziehen bereits jetzt schon FIFA-Boss Infantino das Vertrauen und kündigen indirekt seine Entmachtung an, indem Sie die Suche nach einem anderen Kandidaten forcieren. Mit deiner charmanten Wunschlösung könnte ich auch gut leben, derzeit scheint aber fast alles besser als der Status quo.

Peter Hesse: Die 1968er Generation hat den Sport politischer gemacht – das ist eine These vom Sporthistoriker Christian Becker. Wir erinnern uns gerne an Black-Power-Gesten mit erhobener Faust – als die beiden 200-Meter-Läufer Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung nach ihrem 200-Meter-Lauf mit Medaillien prämiert. Wo sind heute die politische Gesten von Leon Goretzka oder Manuel Neuer? Warum steht kein Spieler aus der Nationalelf auf, fährt zum Flughafen und sagt, dass er mit diesem FIFA-Saftladen nichts mehr zu tun haben will?

Thommy Junga: Ich finde es befremdlich, dass jede Hirnflatulenz auf Instagram geteilt wird, es wird vermarktet und versponsert – bis sich die Balken biegen. Und nebenbei noch zwei eigene Unterhosenkollektionen gelaunched. Stars wie Kimmich, Thomas Müller oder Goretzka haben größere Beraterstäbe als die meisten mittelständischen Betriebe und alles was kommt ist – Zitat Thomas Müller – „wer von uns Fußballer erwartet, dass wir unseren Pfad als Sportler komplett verlassen […], um uns politisch noch deutlicher zu positionieren, der wird enttäuscht sein.“  Das ist so doof, dass es schon fast Mitleid weckt. Wer als erwachsener Mensch glaubt, sein Handeln und Nichthandeln wären nicht auch immer politisch, dem haben wir vielleicht auch zu viel zugetraut. Die Vorstellung, wie da abends auf dem Zimmer von Kimmich der Mannschaftsrat getagt hat und dann einer ganz pfiffig vorgeschlagen hat, man könne sich ja beim Foto die Hand vor den Mund halten und alle ganz aus dem Häuschen waren ob ihres Daseins als Revolutionäre im Trikot – das ist einfach nur noch traurig. Ich hätte mir diese ganze Armbindenkiste aber vor allem als Verband gar nicht bieten lassen. Wenn fünf, sechs Delegationen ihre Abreise ankündigt hätten, wäre der Hebel der FIFA aber deutlich kleiner gewesen.

Thomas Müller hat seinen Zenit als Sprachrohr und Nationalspieler überschritten / Quelle: Wikipedia, Foto: Michael Kranewitter / Lizenz: CC-by-sa 3.0

Peter Hesse: In den vergangenen Jahren hat sich Franz Beckenbauer in der Öffentlichkeit rar gemacht. Viel ist nicht mehr über das Privatleben des ehemaligen Fußballstars bekannt, der 1974 als Spieler die Weltmeisterschaft gewann und 1990 als Trainer. Aktuell leidet der 77-Jährige an einem Augeninfarkt – und sieht auf dem rechten Auge nichts mehr. Darf man mit dem Kaiser Mitleid haben – oder verbietet sich das wegen seiner Schmiergeld-Zahlungen zur WM 2006?

Thommy Junga: Bis zu einem bestimmten Grad versuche ich immer Werk und Autor zu trennen, ein wenig ist es jetzt auch in diesem Fall so. Er war ein großer Sportsmann zu seiner aktiven Zeit, eine fußballerisch stilbildende Persönlichkeit – der Vorzeige-Libero war und bleibt wohl auch für immer der Teamchef. Leider hat er sich in seiner Funktionärsrolle nicht mit Ruhm bekleckert. Das hat der Kaiserstatue ordentliche Risse verpasst. Für den Menschen Beckenbauer tut es mir leid. Sein Gang über den römischen Rasen 1990 ist für mich immer noch einer der bedeutendsten und emotionalsten Fußballerinnerungen.

Peter Hesse: Die Spieler der iranischen Fußball-Nationalmannschaft vollführen bei der WM in Qatar einen Spagat. Das Regime will sie instrumentalisieren, doch sie sehen sich als Stimme der Proteste. Als die Iraner vor dem Spiel gegen England, das es 2:6 verlor, zur Hymne der Islamischen Republik schwieg, wurden die Spieler in Europa für ihren Mut gepriesen. Vielen Iranern ist das zu wenig. Wie sollen sie sich die iranischen Spieler weiter verhalten?

Thommy Junga: Diese Jungs haben Familie, stehen unter einem Druck, den ich mir nicht anmaße ihn mir vorzustellen oder zu beschreiben. Ihr Mut und ihre gemeinschaftliche Entschlossenheit ist beeindruckend und sollte jedem demokratieverwöhnten Multimillionär in den anderen Teams die Schamröte ins Gesicht treiben. Ich werde mich nicht auf das schmale Brett begeben und hier auf die Durchhalte-Parolen einstimmen. Das sind schwerwiegende persönliche Entscheidungen, sie bedürfen der Solidarität und – wenn es nötig sein sollte – dem Schutz auf politischer Ebene.Das darf nach der Vorrunde nicht einfach wieder ausgeblendet werden.

In Deutschland herrscht aktuell keine WM-Begeisterung | Archiv-Foto: Daniel Jentsch

Peter Hesse: Die öffentliche Empörung über diess Turnier in Qatar ist groß. Dennoch halten westliche Sponsoren wie Adidas, Coca-Cola, McDonald’s und Budweiser der FIFA und der WM-Administration vor Ort die Stange. Es fällt aber auch auf, das asiatische Sponosren (aus China oder eben Qatar) hier immer mehr Einfluss durch immer höhere Geldzahlungen gewinnen. Angenommen nach dieser WM würde die UEFA bei der FIFA aussteigen – bekämen wir dann Verhältnisse wie beim Boxsport mit mehreren rivalisierenden Weltverbänden – wäre das ein vorstellbares Szenario? Oder wo geht die Reise hin, wenn die nächste WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada stattfindet?

Thommy Junga: Die prominenten Akteure der FIFA wirken aktuell schon sehr isoliert und Veränderungen in den Strukturen scheinen derzeit tatsächlich möglich. Soll die FIFA doch eigentlich als Dachverband einen und regulieren, präsentiert sie sich eher als ein in unterschiedliche Interessen zerfallendes Konstrukt. Es wird auch in Zukunft vermutlich einen großen Gesamtverband geben und geben müssen. Entscheidend wird sein, wie dieser agiert, ob es gelingt das zerbrochene Porzellan wieder zu kitten. Ein Multiverbandskonstrukt wäre im Fußball kaum umzusetzten. Man denke nur an all die nationalen Spielpläne, internationalen Vereinswettbewerbe und Abstellungsregelungen, die schon aktuell bei einem Verband kaum noch jemand überblickt. Der alte Hinterzimmermuff muss raus, Korruption und Vorteilsnahme muss klar und transparent Einhalt geboten werden. Dann passiert so ein Unfug wie derzeit auch nicht nochmal.

 

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung