Eine kleine Erinnerung an Schulszenen aus den 1970er Jahren. Von unserem Gastautor U.
Es ist über 40 Jahre her. Verschiedentlich erinnerte ich mich dieser Szenen, ohne wirklichen, persönlichen Groll. Aber doch mit ungläubigem Erstaunen.
Ich besuchte in den 1970er Jahren ein Gymnasium in einer für ihren Chemiestandort bekannten Großstadt. Das Gymnasium gibt es nicht mehr, die Stadt ließ es Ende der 1980er Jahre „auslaufen“.
In der 10. Klasse begeisterte ich mich, über die Identifikation mit einem jungen, optisch etwas freakig anmutenden, engagierten Lehrer für das Fach Geschichte. Ich las viel. Einmal besuchten wir auf einer Klassenfahrt Dachau. Er verdeutlichte, dass Dachau auch für uns eine Bedeutung habe, auch noch ein Viertel Jahrhundert später.
Dachau war für mich als Jugendlicher affektiv bedeutsam. Dunkel wusste ich, in einer sprachlosen Weise, dass mein Opa in einem „dieser Lager“ gewesen war. Ich kannte meinen Opa gut, er wurde 1908 geboren, und ich besuchte ihn als Kind gelegentlich. Die Fahrt zu seiner Wohnung, über die Brücke hinweg in die Millionenstadt, war affektiv für mich bedeutsam. Mein Opa verkörperte keine Gefahr für mich. Das war ein durchaus ungewohntes Gefühl. Ich mochte ihn sehr. Aber wir konnten nicht gut miteinander sprechen: Bedingt durch „das Lager“, die Arbeit im KZ-Steinbruch, die seinen Körper ruinierte, die mehrwöchigen Gestapoverhöre – sein letzter Wohnort vor seinen Gestapoverhören und seiner Verschleppung nach Buchenwald war der Eigelstein 54 in Köln – und die jahrelange Angst hatte er kurz nach meiner Geburt einen, dann noch einen zweiten Schlaganfall. Er vermochte nur mit Mühe zu sprechen und kaum zu laufen. Mein Opa war eine sprachlose Angst und Nähe für mich. Ich war seelisch mit ihm identifiziert.
Ein Jahr später, in der Oberstufe, sollten wir zwei Leistungskurse wählen. Ich wählte Geschichte. Geschichte interessierte mich, ich las sogar Geschichtsbücher.
Der Lehrer, er war zugleich stellvertretender Direktor unseres großen Gymnasiums mit weit über 1500 Schülern, verstand sich selbst als liberal, er war wohl auch in der FDP. Das hatte ich irgendwo gehört. Ich vermute heute, dass er ca. 1940 geboren ist. Ich weiß nichts über seinen Familienhintergrund, aber sein Vater dürfte, mehr oder weniger, mit der Shoah verbunden gewesen sein, wie die Mehrzahl der Deutschen dieser Generation.
Damals beteiligte ich mich auch verbal stark am Unterricht, Geschichte interessierte mich wirklich. Es war die Zeit, als die „Holocaust-Serie“ im Fernsehen lief. Auch in der Schule wurde über „den Holocaust“ gesprochen, im Unterricht aber auch in den Schulpausen.
Offenkundig war ich diesem Geschichtslehrer politisch verdächtig: Ich weiß bis heute nicht warum; ausgeprägt links war ich nicht, mit Sympathien für die gerade entstehenden Grünen. Damit war ich an meinem Gymnasium keineswegs eine Ausnahme. Wenig später zogen die Grünen überraschend sogar in den Stadtrat meiner Chemiestadt ein. Das gelang ihnen Ende der 1970er Jahre nur in wenigen NRW-Städten.
Der Geschichtslehrer war nicht nett zu mir. Das ließ er mich spüren. In den ersten Monaten beteiligte ich mich verbal stark am Unterricht meines Leistungskurses. Dann das Erschrecken: In jeder Klausur gab er mir eine „vier“. Zuvor hatte ich in Geschichte ein „sehr gut“ auf dem Zeugnis gehabt. Einen sachlichen Grund dafür gab es nicht. Das erkannte ich durchaus.
Heute weiß ich, dass mein behinderter „halbjüdischer“ – „Halbjude“ ist eine Nazikategorie – Opa, der zwei Jahre im „Lager“ gewesen war, der Rest war Schweigen und Dunkelheit, hierbei eine zentrale Rolle spielte. Und seine fünf Geschwister, die entweder in weiteren Lagern waren – Ravensbrück, Natzweiler, Westerbork – oder in Klöstern versteckt überlebten. Niemand blieb von der mustergültig organisierten, in Gestapoakten teils erhalten gebliebenen Verfolgung verschont.
Seelisch war ich mit meinem Opa identifiziert, in seiner körperlichen Hilflosigkeit und seinem Leid. Zugestanden: Die Nazis mochte ich nicht besonders, aber das gehörte vielleicht zu meinen verzeihlichen Jugendsünden – die ja bei mir bis heute fortwirken. Antifaschismus erscheint mir bis heute als eine bedeutsame politische Grundhaltung, gerade auch angesichts der sehr rechten AfD. Auch das jugendliche Wissen um „die Lager“ rief in mir Gefühle der Angst hervor. Aber mir deshalb permanent eine so schlechte Note zu geben, obwohl mich Geschichte sehr interessierte und ich durchaus schon ein größeres Wissen hierüber erworben hatte? Sein Zorn, seine Wut über meinen Opa, die ihm gewiss nicht bewusst war, vermochte er kaum zu zügeln. Sein Belehrungszwang im Geschichtsunterricht war mehr als spürbar.
Der Lehrer ließ im Geschichtsunterricht keinen Zweifel an seiner fachlichen Kompetenz aufkommen: Er habe in seinen zahlreichen Fachbüchern immer zahlreiche Striche gemacht, zentrale Passagen markiert, ließ er uns, als Empfehlung, wissen. Seine Fachbücher, von denen er sehr viele lese, seien voller Markierungen. So bedeutsam sei ihm der Inhalt. Und er lese bis heute sehr viel über Geschichte. Er verstehe sich politisch als „liberal“. Er engagiere sich auch in der Kommunalpolitik. Der Leiter der örtlichen Volkshochschule zum Beispiel – ein linker Sozialdemokrat (der sehr viele Jahre später SPD-Bundestagsabgeordneter und auch Oberbürgermeister wurde) – der sei eigentlich nicht richtig an seinem Posten. Das missfalle ihm. Das sei nicht in Ordnung, so ein Mensch auf so einem Posten.
Besonders unangenehm sei es ihm jedoch, so betonte er oft, wenn man von „den Nazis“ spreche – gut 30 Jahre nach der Nazizeit. Zu Zeiten, als die Holocaustserie zur besten Sendezeit im Fernsehen lief, als man vereinzelt von jüdischen Verfolgtenbiografien hörte, als vereinzelt auch „Zeitzeugen“ Schulen besuchten.
Nein, das sei unangemessen, damit werde man der Geschichte nicht gerecht. Das verdecke eigentlich mehr als dass es helfe. Das sei eindeutig ein Hindernis, schädlich, von „den Nazis“ zu sprechen, so könne man Geschichte nicht angemessen verstehen, betonte er mehrfach mit Nachdruck. Irgendwie war das mit den Nazis differenziert zu betrachten. Seine spürbare Botschaft an uns Jugendliche war, dass „das“ offenkundig stark übertrieben werde. Besonders auch von der DDR.
Sein ausgeprägter Groll, seine Wut auf mich hing eindeutig mit diesem Thema zusammen. Ich war ihm verdächtig, verkörperte etwas sehr Schädliches, etwas das „weg“ musste. Eine „vier“ in durchgängig allen Geschichtsklausuren erschien ihm, trotz meiner anfänglich regen Unterrichtsbeteiligung und meines unbestreitbaren Wissens, offenkundig noch als eine gute Note.
Herr X. betonte immer wieder, wie viel er lese. Das sollten wir Schüler wissen. Er war eine in Erscheinung tretende Persönlichkeit, war in der Lokalpolitik verankert, interessiere sich jedoch besonders für die „große Politik“. Selbstredend war er stellvertretender Schulleiter eines großen Gymnasiums mit gewissermaßen klangvollem Namen.
In jeder Klausur in der ersten Hälfte der 11. Klasse bekam ich eine „Vier“. Meine Mitschüler, das war durchaus spürbar, waren befremdet, überrascht. Sie erwarteten eigentlich, dass ich eine „eins“ in den Geschichtsarbeiten bekam. Langsam ließ meine aktive, verbale Beteiligung am Geschichtsunterricht nach. Von eins auf vier, binnen weniger Wochen. Ich konnte machen was ich wollte. Einmal knüpfte er mich bei der Rückgabe einer Klausur sogar persönlich vor, vor der ganzen Klasse. Heute erinnere ich ich diese öffentliche, brutale Herabsetzung des 16-Jährigen mit den mehrwöchigen Kölner Gestapoverhören, die mein Opa Carlo sowie dessen 1914 geborener Bruder Anton – Onkel Toni! – 34 Jahre zuvor durchleben mussten. Auf meine Urgroßmutter Karoline, die in den Gestapoakten fettgedruckt als VOLLJÜDIN tituliert wird, wird in den Gestapoakten meines Opas und seines Bruders Anton mehrfach ausdrücklich Bezug genommen. Diese 1874 in Essen geborene „Volljüdin“ sei ja bereits 1936 an Herzschlag verstorben, heißt es in den Kölner Gestapoakten. Uroma Karoline ist also 1936 „noch rechtzeitig“ vor dem absoluten Grauen verstorben. Die systematische familiäre Verfolgung hatte sie da bereits mehrere Jahre durchlebt. Die Todesurkunde habe ich bei meinen Recherchen geschickt bekommen, ein Grabstein ist nicht bekannt.
Ansonsten war ich ein guter Schüler, später machte ich ein Einserabitur.
Ich erkannte meine absolute Ausweglosigkeit und wechselte nach einem halben Jahr den Leistungskurs; Geschichte war damit nur noch ein normaler Kurs. Das war eine mutige Entscheidung!
Der neue Geschichtslehrer und die gleichbleibende Wut des früheren Lehrers
Ein neuer Geschichtslehrer, ich fand wieder Interesse an der Sache. Ich hatte in Geschichte in den folgenden beiden Jahren gleich wieder eine „eins“. Und ich beteiligte mich bei dem neuen Geschichtslehrer wieder aktiv am Unterricht. Geschichte interessierte mich wieder.
Dann, zwei Jahre später, die mündliche Prüfung im Fach Geschichte – Beisitzer war besagter „liberaler“ Lehrer. Ich bekam eine schlechtere Note. Mein “neuer“ Geschichtslehrer sprach mich nach der Prüfung persönlich an, was durchaus ungewöhnlich war. Sein Erschrecken war in seinem Gesicht eingeschrieben: Er habe mir eine „Eins“ gegeben für die mündliche Prüfung, sagte er mir, aber der andere Lehrer… (nur Beisitzer – man kennt den Schüler i.d.R. nicht und hält kollegial eigentlich „die Klappe“, schließt sich dem Votum des Klassenlehrers an, weiß ich heute, mit Abstand). Herr L. war wirklich geschockt über diese mündliche Abiturnote, wo ich mich doch zwei Jahre sehr rege und kenntnisreich am Geschichtsunterricht beteiligt hatte.
Aber mich als 16-Jährigen musste dieser Lehrer mit allen Mitteln, mit aller Gewalt ruinieren, unnachgiebig, ohne sachliche Begründung.
Irgendwie hat er, der „liberale“ Geschichtslehrer, mir meinen behinderten Opa, der als Jude ab 1943 in Buchenwald war, nach mehrwöchigen Gestapoverhören, und dessen Geschwister gleichfalls als Juden verfolgt worden waren, nicht verziehen. Meine Uroma, so erfuhr ich Jahrzehnte später in Akten, war als „Volljüdin“ – der Begriff „Volljüdin“ war in den Gestapoakten meines Opas und in denen seiner beiden Brüder fett unterstrichen worden – bereits 1936 verstorben. Nur dies interessierte die Gestapo, dieser Begriff. Deren Söhne wollte die Gestapo alle in Vernichtungslager verschleppen, mit wechselnden Begründungen. Der eine von ihnen wurde 1943 gleichfalls in Köln festgenommen und kam nach Ravensbrück und Natzweiler. In seiner Gestapoakte bzw. in der „Aufnahmeliste“ von Ravensbrück war der Paragraph 175 verzeichnet. Der andere Bruder, er war bereits 1933 aus rassistischen Gründen von der Post entlassen worden, war noch rechtzeitig nach Belgien und Holland geflohen, wo er dann in das Lager Westerbork eingewiesen wurde. Seine drei Schwestern wurden gleichfalls aus rassistischen Gründen aus ihren Berufen entfernt und überlebten versteckt in verschiedenen Klöstern.
Sie überlebten alle.
Im Netz sehe ich nun, dass dieser Geschichtslehrer noch lebt. Nach seiner Pensionierung saß er, so ist dem Netz zu entnehmen, in örtlichen Kirchengremien, war in örtlichen Fördervereinen aktiv, leitete gelegentlich politische Diskussionen in der Volkshochschule. Er brachte sich öffentlich über Jahrzehnte als kultivierter, politischer Mensch ein. Er war eine vermutlich höchst angesehene öffentliche Persönlichkeit.
Beim googeln entdecke ich ein Foto von ihm, ein Ehemaligen-Klassentreffen, ein Jahr alt. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt. Aber ein klein wenig erkenne ich ihn nun doch wieder, 45 Jahre später. Ich habe nichts gegen ihn, möchte ihm aber auch Jahrzehnte später nicht noch einmal begegnen. Das Gefühl des Ekels, der Ohnmacht, des sprachlosen Schmerzes ist in mir auch beim Schreiben, beim Wieder-Erinnern, noch ausgeprägt. Ein Bekannter fragte mich kürzlich, ob ich ihm diesen Text nicht schicken wolle. Nein, daran habe ich wirklich kein Interesse. Er würde nichts verstehen. Es bliebe die Leugnung, der Bruch, der Triumph des Pädagogen. Nein, es gibt keine „Bearbeitung“ der Vergangenheit. Die Täter bleiben die weitestgehend Unangetasteten, die Mitläufer wussten nichts, insbesondere nichts über die Juden. Und die Opfer, sofern sie überlebten, schwiegen, versuchten sich in der bundesdeutschen Gesellschaft nach 1945 zu integrieren, zu arrangieren. Ihre Gefangenschaft in den Konzentrationslagern blieb der Makel, der verschwiegen, tabuisiert werden musste.
Ich weiß, dass es „Entschädigungs“akten gibt. Inzwischen weiß ich sogar, wo sie liegen. Wenn ich sie anfordern würde müsste ich für sie eine größere Geldsumme zahlen.
Bisher habe ich nicht die Fahrt zu den Archiven unternommen. Mein Psychoanalytiker fragt mich, ob ich mir das wirklich antun möchte, die Lektüre der Akten.
Nach meinem 1902 in Wuppertal geborenen Großonkel Johann aus Holland musste ich übrigens länger „suchen“. Von seiner Existenz erfuhr ich mehr durch Zufall, bei meinen Recherchen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Er schien Ende 1945 schlicht von der Erde verschwunden zu sein. War er in die USA gegangen, oder vielleicht sogar nach Israel? Aus Amsterdam hatte ich die Aktennotiz bekommen, dass er sich Ende 1945 bei der Amsterdamer Einwohnerzentrale abgemeldet hatte, mit unbekanntem Ziel. Irgendwann erfuhr ich dass er wieder in seine frühere Heimatstadt zurückgegangen war und bereits Anfang 1946 wieder bei der Post begann. In dieser Stadt lebten auch zwei seiner Schwestern, die mehrere Jahre versteckt in einem Kloster überlebt hatten. Er verstarb 1973.
Irgendwann nannte mir ein Forscher ein lokales, mehrere Jahrzehnte altes Erinnerungsbuch, in dem vier meiner Verwandten erwähnt wurden. Die übrigen waren dem Forscher nicht bekannt.
Der andere Bruder, also der mit dem Paragrafen 175, der gleichfalls 1943 in Köln festgenommen und dann nach Natzweiler und Ravensbrück verschleppt wurde, war aus Ravensbrück wieder zurück gekehrt. Er hat, so teilte mir ein Forscher mit, gewiss keinen „Wiedergutmachungsantrag“ gestellt. Paragraf 175, damit blieb er bis zu seinem Lebensende „kriminell“. Ein „Wiedergutmachungs“antrag hätte die Scham, die Schuld nur vergrößert und wäre auch ausweglos geblieben. Später hat er geheiratet, ich habe ihn als Kind zumindest einmal besucht.
Dann gab es kürzlich eine Geschichte mit den Stolpersteinen. Aber die ist so würdelos, so abstoßend, die Opfer erneut entwertend und verhöhnend verlaufen dass ich lieber kein Wort mehr darüber schreibe. Die Dinge sind noch viel schlimmer, als man es sich vorzustellen vermag. Stella Leder hat hierzu in ihrer literarischen Familiengeschichte eine vergleichbare Geschichte erzählt…
Ich war früher ein Befürworter der Stolpersteine, trotz aller Ambivalenzen. Ich bin auch heute kein Gegner dieser Steine. Aber dass der „Austausch“ hierüber derart primitiv und würdelos verlaufen würde – ich hätte es wirklich nicht für möglich gehalten… Die Vorschläge der Inschrift für den Stolperstein war von einer Nazidiktion und „Logik“ geprägt. Korrekturvorschläge wurden zurück gewiesen und entwertet. Auch hier vermag ich nur Gestaposchreiben zu assoziieren. Was für eine primitive, ungebildete, selbstgerechte Suada dieser „Erinnerungsaktivisten“. Es erschüttert mich noch heute. „Stolpersteine“ soll es für sie nicht geben, ließ man mich angesichts meiner Unbotmäßigkeit wissen…
Ich möchte abschließend eine „Spekulation“ anstellen: Die unschuldige und letztlich belanglose Geschichte meines Geschichtslehrers erinnert mich ein wenig, lokalpolitisch reduziert, an Martin Walser. Der Vergleich ist gewiss unpassend, aber er kommt mir soeben beim Schreiben in den Sinn. Symbolisch werde ich beim Schreiben an die „Walser-Geschichte“ erinnert. Ein Schriftsteller und „Intellektueller“, der seine ehemalige, vier Jahre jüngere Regensburger Studienkollegin und Shoah-Überlebende Ruth Klüger erst dominierte – er hatte als Deutscher im Studium, ab 1946, eine feste Identität, während ihr nur die Albträume, die Entwertung, die sprachlose Angst erinnerlich waren. Ein Walser, der ihre KZ-Nummer sah, die die Deutschen ihr, der Zwölfjährigen, in Auschwitz in ihren Körper eingebrannt hatten, und der nie darüber sprach. – Nein, ich habe die KZ-Nummern meines Opas und seiner beiden Brüder nie gesehen.
Ein Walser, der seiner ehemalige Studienfreundin Ruth Klüger dann, ein gutes halbes Jahrhundert später, bei seiner vom gehobenen Bürgertum umjubelten Frankfurter Kampfes- und Triumphrede (1998) indirekt seinen Ekel über das Sprechen von Auschwitz hinterließ. Und der aus diesem Anlass den Begriff der „Moralkeule“ kreierte – den Höcke und Co. heute feiern. Wenn sie, die Überlebenden, nicht da wären wäre alles gut. Wenn es Auschwitz nicht gegeben bzw. wenn daran nicht „erinnert“ worden wäre hätte der Intellektuelle und Literat Walser seinen Frieden gehabt. Nur sie stören, die Überlebenden mit ihren KZ-Nummern.
Ein Walser, der seinen Siegeszug vier Jahre später in seinem antisemitischen „Roman“ (2002) fortsetzte, indem er Ruth Klüger, die jüdische Überlebende, als Jüdin endgültig zu verletzen und seelisch auszulöschen versuchte. „Gift, das Dir aus der Feder floß“ schrieb die jüdische Überlebende Ruth Klüger in einer literarischen Replik an Walser – und brach danach jeden Kontakt zu ihrem ehemaligen deutschen Studienfreund und Literaturkollegen ab. Die Germanistin Monika Jesenitschnig hat hierüber mit Holocaust, Trauma und Resilienz eine vorzügliche Studie vorgelegt.
Dieser Geschichtslehrer, um zu ihm zurück zu kehren, hat mich, so will es mir nun scheinen, ganz gegen seinen Willen, früh gelehrt, was ich erst Jahrzehnte später seelisch und historisch innerlich verstanden habe: Dass „die Nazizeit“, die Konzentrationslager, die Judenverfolgung, keine abstrakte, abgeschlossene Geschichte ist. Juden stören. Sie stören insbesondere viele Deutsche. Sie sind ein Ärgernis – obwohl man ihnen doch eigentlich nahezu nie begegnet. Wenn sie nicht da wären wäre alles einfacher. Auch meine Erinnerung stört.
Heute mag ich meinen Opa, er starb als ich 18 war, ein sprachloser Schrecken bleibt. Der „liberale“ Geschichtslehrer, in seinem Habitus der inneren Sicherheit und des gesicherten Wissens über „die Geschichte“ und „die Nazis“, in seinem inneren Triumpf über meinen Opa, von dem er nichts wusste, aber den er im Unterricht durch mich spürte: Er ist und er bleibt mir unangenehm. Nein, ich möchte ihn nie wieder sehen und auch nicht mit ihm sprechen. Wirklich nicht.
Heute bin ich mir sicher: Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix muss meinen Opa gekannt haben: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen war Zvi Rix in Israel formuliertes, in den 1980ern nach Deutschland überliefertes Bonmot.
Ja, Zvi Rix muss solche Geschichtslehrer wirklich gekannt haben.
Gibt es ein Lernen aus der Geschichte? Nein, das glaube ich nicht.
Der Artikel erschien bereits auf Hagalil