Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS NRW) hat für das Jahr 2022 insgesamt 264 antisemitische Vorfälle erfasst. Das sind durchschnittlich fünf dokumentierte antisemitische Vorfälle pro Woche. Bereits im ersten Erfassungsjahr konnte RIAS NRW alle Erscheinungsformen von Antisemitismus registrieren.
Wie der heute in Düsseldorf gemeinsam mit Ministerin Josefine Paul (MKJFGFI NRW) vorgestellte Bericht „Antisemitische Vorfälle in Nordrhein-Westfalen 2022“ zeigt, ist Antisemitismus in Nordrhein-Westfalen ein virulentes Phänomen.
„Schon nach dem ersten Jahr der Erfassung antisemitischer Vorfälle durch RIAS NRW zeigt sich deutlich, dass auch in NRW Antisemitismus eine schreckliche gesellschaftliche Normalität darstellt. Antisemitismus äußert sich dabei in zahlreichen Ausdrucks- und Erscheinungsformen und geht mit einer realen Gefährdung und Bedrohung der Betroffenen einher“, so Jörg Rensmann, Leiter von RIAS NRW.
Insgesamt wurden von RIAS NRW vier Fälle von extremer Gewalt, fünf Angriffe, sechs Bedrohungen, 27 gezielte Sachbeschädigungen, neun Massenzuschriften, 60 Versammlungen sowie 153 Fälle verletzenden Verhaltens registriert. Die dokumentierten Fälle von verletzendem Verhalten zeigen, wie alltäglich herabwürdigende Äußerungen über Juden oder über das Judentum sind. Hervorzuheben ist die im bundesweiten Vergleich hohe Anzahl von Vorfällen extremer Gewalt, was die Bedrohungslage für Juden und jüdische Institutionen unterstreicht. Dazu zählen die Anschlagsserie im Ruhrgebiet im November 2022, bei der wahrscheinlich staatliche Stellen des Iran federführend involviert waren, sowie der Brandanschlag auf das Friedhofsgebäude der Synagogengemeinde Köln.
Die Betroffenen eines antisemitischen Vorfalls, soweit sie ermittelt werden konnten, waren je zur Hälfte Einzelpersonen und Institutionen (jeweils 73). In zwei von drei Vorfällen waren Juden betroffen. In 85% der Vorfälle fanden antisemitische Äußerungen oder Handlungen von Angesicht zu Angesicht statt. Dabei waren die Betroffenen meist im öffentlichen Raum oder in Bildungseinrichtungen wie Schulen mit Antisemitismus konfrontiert, was die potenziell alltagsprägende Dimension von Antisemitismus verdeutlicht. Knapp ein Drittel der Vorfälle gegen Institutionen betrafen jüdische Einrichtungen, die antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren.
Die meisten Vorfälle wurden dem Post-Schoa-Antisemitismus zugeordnet (111 Vorfälle). Diese Erscheinungsform äußert sich in Form von Leugnung oder Verharmlosung der Schoa. Die Abwehr der Erinnerung an die Schoa und die nationalsozialistischen Verbrechen ist eines der wichtigsten Motive für antisemitische Äußerungen. Mit 105 Vorfällen folgt das antisemitische Othering, bei dem Juden als der Mehrheitsgesellschaft „fremd“ oder „nicht zugehörig“ beschrieben werden. In 88 Fällen wurde israelbezogener Antisemitismus geäußert. Dieser liegt beispielsweise vor, wenn in NRW lebende Juden für die Politik des Staates Israel verantwortlich gemacht werden. Moderner Antisemitismus wurde in 68 Fällen erfasst, er zeichnet sich insbesondere durch Verschwörungsmythen aus, etwa wenn Juden eine besondere Macht oder eine vermeintliche „Weltverschwörung“ unterstellt wird.
Dem verschwörungsideologischen Milieu konnten die meisten dokumentierten Vorfälle zugeordnet werden (14%), gefolgt vom israelfeindlichen Aktivismus (8%) und dem rechtsextremen bzw. rechtspopulistischen Milieu (7%). Mit 67 Prozent konnte der Großteil der erfassten Vorfälle keinem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zugeordnet werden.