„Mich mangeln die Wörter“ (6) – Heute: Nervöser Markt

© Herholz

Beim Kampf um die kulturelle Hegemonie in allen gesellschaftlichen Bereichen wird vor allem die Sprache missbraucht. Sprachmuster erzeugen Denkmuster. Viktor Klemperer schrieb in „LTI – Sprache des Dritten Reiches“: „Worte können sein wie winzige Arsendosen, und nach einiger Zeit ist die Wirkung da.“
Vieles von dem, was heute locker-flockig als sprachliche Mode daherkommt, als Imponiervokabel, Bläh- und Dummdeutsch oder als bewusste Lüge, verklärt den Blick auf gesellschaftliche Missstände mehr, als dass es Zusammenhänge beleuchtet. In loser Folge versuche ich hier bei den Ruhrbaronen, mit der Kolumne „Mich mangeln die Wörter“ Sprachkritik als Ideologiekritik zu betreiben und hoffentlich etwas Vergnügen zu bereiten. Heute, in Folge 6, lasse ich endlich den leidenden „Markt“ zu Wort kommen, für sich selbst sprechen. Ich habe ihm dazu nur abgelauscht, was er selbst zu sagen hat oder uns über die Medien mitteilen lässt.

Der Markt also spricht, nein, dies sei beileibe kein Spaß: Nervös, sehr nervös sei er geworden und mit ihm eine ganze Horde freier Märkte landauf landab. In der Regel, das wisse man, seien freie Märkte extrem scheu, verwildert, ja – er gebe es zu – eigentlich kaum zu zivilisieren. Man müsse deshalb behutsam mit ihnen umgehen, Menschen seien ihnen, den Märkten, eher fremd, nur vor einigen wenigen fremdelten sie kaum. Da müsse einer dann aber dauerhaft gelernt haben, mit ihnen zu leben, man müsse sich seiner Zuneigung sehr sicher sein. Märkte-Flüsterer wie Josef Ackermann, da gebe es eben nicht viele. Früher sei bei den meisten Märkten Nervosität eher selten gewesen und seltener noch zu beobachten, das sei wohl leider verloren. Noch heute allerdings regelten die Märkte vieles lieber unter sich, in Ruhe, im Stillen, zurückgezogen in ihren jeweiligen Domänen. Die Menschen dort draußen in den Ländern hätten deshalb lange einen freien Markt am helllichten Tag überhaupt nur äußerst selten zu sehen bekommen, meist erst dann, wenn er zusammengebrochen sei – wie etwa zuletzt der aggressivste unter ihnen, der Finanzmarkt. Ihn habe man leider in jüngster Zeit immer öfter elend und krank sich schleppen sehen und um Hilfe bitten, sogar in Villenvororten habe man ihn schon gesichtet.

Angst essen Seele auf, beinahe
Aber auch weniger nervöse Märkte zeigten die bekannten Symptome – wie alle anderen, da seien sie keine Ausnahme. Ja, sicher, ihre Nervosität im Innern werde mittlerweile äußerlich deutlich sichtbar, Unruhe mache sich breit, die rechte Hand wisse nicht, was die linke tue. Nach Handeln und Tauschen sei ihm als Markt zurzeit nicht wirklich zumute, er habe Herzrasen, sein Herz leide unter üblen Rhythmusstörungen, Kurse zitterten. Der freie Markt habe sich seine grenzenlose  Entfesselung  zwar lange gewünscht, doch nun bekomme sogar er Angst vor der eigenen Courage. Nein, nicht Angst vor der Freiheit immer zu tun und nie zu lassen, was er wolle, sondern Angst vor sich selbst als ein Markt, der gottseidank alles kontrolliere, aber die Kontrolle über sich selbst vielleicht ein klein wenig verloren habe. Und das äußere sich neuerdings in veränderten Stimmlagen und unkontrolliertem Sprechen, da könne man nichts machen. Manchmal habe er selbst bereits das dumpfe Gefühl, er stünde vor einem Kollaps. Aber das müsse er als starker Markt aushalten können. (Der Markt lachend:) Von Burn-out wegen zu viel Bail-out wolle er erst gar nicht reden.

Ehrenwort
Dass er von der Politik, vom Staat, eigentlich der Staatengemeinschaft ungeheuer enttäuscht worden sei, sagt der Markt, dass alle vorgäben, das Vertrauen in ihn verloren zu haben, das betrübe ihn sehr. Er fühle sich da irgendwie allein gelassen. Dass die Anleger nicht mehr anlegten, wie sie seiner Meinung nach sollten, ja müssten, dass die Konsumenten nicht mehr konsumierten, das gefalle ihm ganz und gar nicht, ihm, dem freien Markt, der letztlich alle nur unendlich glücklich sehen wolle. Dafür müsse man ihm selbst aber bitteschön auch erlauben, glücklich zu sein. Er sei es doch, der dafür sorge, dass es allen gut gehe, wenn es nur ihm selbst erst wieder gut gehe. Versprochen sei versprochen. Man habe sein Wort darauf.

Das älteste Gewerbe der Welt
Wenn aber – wie kürzlich – frische Griechenland-Hilfen verschoben würden, sei er wirklich tief bestürzt, so der Markt. Die Griechenland-Lösung auf die lange Bank zu schieben, das hätte die Märkte verunsichert, da seien sie eben sensibel. Und wenn man die Märkte so ganz außer Acht lasse, sich überhaupt nicht mehr um ihr Wohlergehen kümmere, dann müsse man sich nicht wundern, wenn diese negativ reagierten.
Dies sei ein Spiel mit dem Feuer, warnt der Markt, denn er könne nun einmal als Gläubiger auf sein Geld nicht einfach verzichten, man müsse verstehen, wenn er da als Markt einen Staat zur Ordnung rufe, er diesem sehr deutlich erkläre, dass dieser Staat erst seine Hausaufgaben zu machen habe, bevor er ausgerechnet von ihm, dem Markt, etwas fordere. Nur wenn die Staaten endlich ihre Schulden, Zinsen und Zinseszinsen auch pünktlich zahlten, könnten die Finanzmärkte überleben, das sei Survival-of-the-fittest: Und wenn nun scheinheilig gefragt würde, ob da denn nun ein einzelner Staat oder der globale Finanzmarkt selbst überleben solle, dann sei es einfach so, dass die Antwort nur heißen könne: Der globale Markt habe zu überleben, denn nur er gewährleiste letztlich Stabilität. Staaten kommen und gehen, das zeige gerade die jüngste Geschichte, aber der Markt sei so alt wie der Mensch selbst.

Mitgefühl demonstrieren
Ihm, dem Markt tue ein bankrotter Staat natürlich leid, nicht umsonst sei er so nervös in letzter Zeit, regelrecht übel sei ihm, auch er habe schließlich Gefühle, kenne sogar Mitgefühl, demonstriere es auch öffentlich, habe sogar weinen müssen, als der Banken-Rettungsschirm endlich aufgespannt worden sei und es wieder viel Hoffnung gegeben habe für alle. Aber deshalb gleich vice versa von Marktseite einen Staaten-Rettungsschirm zu spannen, das gehe natürlich in die völlig falsche Richtung. Schaue man sich die Schulden einzelner Staaten nämlich genau an, dann werde schnell klar, dass diese Staaten längst den Finanzmärkten gehörten. Das kenne doch jeder von seinem kleinen Häuschen. Wenn man da die Kredite nicht mehr bediene, dann komme es halt zur Zwangsversteigerung, weil das Haus schließlich dem gehöre, der es überwiegend finanziert hätte – und das sei am Ende meistens die Bank. Schon aus diesem Grunde, das müsse man ihm, dem Markt glauben, wolle man eigentlich nicht, dass es den Staaten zu schlecht gehe. Was einem gehöre, will man recht eigentlich auch erhalten, oder? Aber über das Wie müsse man schon noch reden dürfen. Staat und Gesellschaft, ja die Gesellschaft, und auch die Bürger, ja die Bürger, das sage er ganz bewusst, hätten viel zu lange über ihre Verhältnisse gelebt. Und die Verhältnisse und wie man in ihnen zu leben habe, das reguliere nun seit jeher der freie Markt, da sollten Politik und Staat sich bitte raushalten und die Freiheit der Märkte bloß nicht beschneiden. Schließlich hätte der Sozialismus jedem gezeigt, was passiere, wenn Staat und Politik die Wirtschaft steuerten oder bevormundeten: Sie ruinieren sie, die Wirtschaft. Diese Tatsache sei nicht wegzudiskutieren. Der Kapitalismus sei ohne Alternative, dies sei heute dem Dümmsten klar.
Und das habe nichts mit mehr oder weniger Freiheit zu tun, nein, überhaupt nicht. Wenn erst überall der wahrhaft schlanke Staat herrschte, der den Markt vollkommen seinen Selbstheilungskräften überlässt und nur dafür Sorge trägt, dass man auf überflüssigen Ballast wie Sozial-, Kultur- und Bildungsleistungen bewusst verzichtet, dann würde das Leben auch wieder erschwinglich. Man könne den Menschen viel mehr zumuten, als dies der Sozialstaat für möglich halte. Not mache erfinderisch, jede Krise sei tatsächlich eine große Chance für die kleinen Leute draußen in den Ländern.

Mut zum Tabubruch
Diese sogenannten sozialen Unruhen dagegen, neuerdings sogar in Europa, zeigten doch nur, wohin das Gegenteil führe, dieses Gerede von „Menschenwürde“, diese davon schwadronierenden Pseudo-Intellektuellen und Hobby-Ökonomen, diese selbsternannte Vorhut einer Neidgesellschaft, in der alle alles haben zu müssen glauben. Woher komme das nur, diese Anmaßung zu glauben, man könne sich immer überall nehmen, was man wolle? Diese ungeheure Gier, diese durch falsch verstandene Bildung geweckten Bedürfnisse, die er, der Markt, weder erfüllen wolle noch könne, dafür sei er einfach nicht gemacht. Seine Aufgabe, sein Kerngeschäft sei es, maximale Rendite für Anleger zu erwirtschaften, das sei legitim, und legal, da könne er weder dauernd auf alle anderen Marktteilnehmer Rücksicht nehmen, noch auf jene, die selbstverschuldet überhaupt nicht am Kapitalmarkt teilnähmen. Immerhin bleibe für diese Restgruppe der Ewiggestrigen die Möglichkeit, ihre Arbeitskraft in unternehmerischer Eigenverantwortung auf dem freien Arbeitsmarkt so teuer wie möglich zu verkaufen, dies sei nur recht und billig. Und wer das nicht wolle, diese Chance nicht nutze, der sei auch auf diesem Markt letztlich nicht erwünscht. Dies sei eine bittere Wahrheit, aber so sei es nun einmal. Dies müsse – mit Verlaub – an dieser Stelle deutlich gesagt werden. Er wisse, damit breche er jetzt viele Tabus hierzulande, dafür werde er Prügel einstecken, o.k., dann sei es eben so, aber er wolle hier und heute Mut zeigen, so ein Wert wie Mut sei ihm sehr wichtig, denn er könne schließlich nicht jedem nach dem Munde reden.

P.S.:
Für den Kolumnentitel „Mich mangeln die Wörter“ danke ich Jürgen Lodemann. Das schöne Sprachspiel stammt aus „Essen Viehofer Platz”. Roman. Zürich: Diogenes, 1985.
Und er schrieb mir dazu: “Lieber Gerd, da ich gerade in guten Momenten bin (…), schenk ich Dir gern diesen Originalspruch zur beliebigen Verwendung“.

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Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

Dieses mal mangeln die Wörter mich jedenfalls NICHT.
Und es gibt ja den Mut zum Tabubruch auch anderswo.
Darum werfe ich auch mal einen Satz in die Diskussion, der bisher als absurd galt, denn es sieht aus meiner Sicht, zur Zeit an den Finanzmärkten so aus, daß ich heute den scheinbar kuriosen Satz auszusprechen wage:

„Liberale Wirtschaftspolitik verlangt mehr staatliche Eingriffe als reglementierende Wirtschaftspolitik“.

Allerdings immer erst dann, wenn die Fotos der Gesichter der Börsianer blankes Entsetzen vermuten lassen. Heute kann so ein entsetztes Börsianergesicht jeden Tag, in jeder Zeitung in Ruhe betrachtet werden.

Werner Jurga
13 Jahre zuvor

Überall liest man den gleichen Mainstream. Nun ja …
https://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,ausg-5128,00.html

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

Gerd (2),
Das Thema ist so oder so seit langer Zeit heftig umstritten.
Es gibt doch die Analysen von Lord Keynes nicht erst seit heute.
Keynes hatte geglaubt, daß die kapitalistischen Krisenzyklen durch planvolles Gegenlenken des Staates abgemildert werden können. Nach der großen Wirtschaftskrise Ende der 20iger wurde er dafür auch gelobt. Auch heute ist das während der Krisen so. Aber kaum ist die Krise vorüber, kommen die Wirtschaftsliberalen und ihre Anhänger wieder aus den Löchern.
Das, was die an Theorie liefern, hat genau den Charakter, den Du beschreibst.
„in vielen Fällen privilegierte und höchstsubventionierte Scharlatanerie, in der EU und global. Die liefert oft nichts als blanke Ideologie, Wirtschaftswissenschaft ist “Geistes”-Wissenschaft, leider meist ohne Geist betrieben. Mit exakter Wissenschaft hat das jedenfalls nie zu tun. Germanistik ist dagegengeradezu eine exakte Naturwissenschaft“
Dem stimme ich zu.
Da es aber genügend Warnungen, gerade von Volkswirtschaftlern gab und gibt, die samt und sonders in den Wind geschlagen werden, müssen wir uns überlegen, auf welche Weise wir Kritik an diesem wirtschaftsliberalen System üben können, ohne unsererseits in den Fehler zu verfallen, einen Ersatz anzubieten, der noch weniger tauglich wäre.
Aber beobachten wir doch mal die Reaktionen derjenigen, die bisher immer großen Glauben an dieses System gezeigt haben. Denn der Abstand zwischen den Krisen wird immer kürzer, und immer verlieren viele dieser Anhänger viel Geld, daß sich dann auf den Konten anderer Markteilnehmer ganz legal wiederfindet.
Für mich sieht es fast so aus, als wenn die Zahl der wirklich einflußreichen Geldleute durch die vielen heftigen Geldumverteilungskriesen, so klein geworden sind, daß diese Gruppe im Begriff ist, alles abzuräumen.
Wie beim Spiel Monopoly.
Ein kann jetzt keine langen Literaturrecherchen machen, deshalb verweise ich nur kurz auf einen Artikel der TAZ, der diese Quellen, die ich meine, auswertet.

https://www.taz.de/Debatte-zu-Schirrmachers-Linksbekenntnis/!76617/

Patrizia
Patrizia
13 Jahre zuvor

@Helmut Junge

Sie schreiben, (soll wohl heissen) …

“Liberale Wirtschaftspolitik verlangt mehr staatliche Eingriffe (in den Markt) als reglementierende Wirtschaftspolitik”.

… und machen dann einen Schwenk hin zur Phrenologie (FACS = facial action coding system) – den langen, entsetzten Gesichtern von BörsianerInnen.

Hat dies etwas miteinander zu tun ?

Wenn ja, können Sie auch eine weinende bambina und deren Mimik, – wenn sie keine Nestlé-Trinkmilch zum nuckeln erhält -, als ein Desaster der Nahrungsmittelindustrie auslegen.

Das Primat der Politik entscheidet über die Regeln, welche in der Ökonomie zu gelten haben. Wenn die Politik dieses Primat nicht ausübt, also kein geeignetes Regelwerk vorgibt oder unsinnige ad-hoc-Entscheidungen trifft, wie z.B. das beschlossene und kurzfristig, geltende Verbot von Leerverkäufen bei Finanztiteln in Frankreich, Spanien usw., umgekehrt aber Schulden anhäuft, deren Tragweite die wenigsten PolitikerInnen überhaupt abschätzen können, um ihre Versprechen bei ihren WählerInnen einzulösen, dann hat dies nichts mit liberaler oder nicht liberaler Wirtschaftspolitk und deren Vor- oder Nachteile zu tun, sondern mit der Unfähigkeit der Politik zeitgemässe Regeln für eine ständig Veränderungen und Anpassungen unterworfenen Ökonomie zu beschliessen.

@Gerd Herholz

Ich finde Ihre Artikel sehr hübsch … wirklich :-). Sie entwerten aber Ihre „Sicht der Dinge“, wenn sie z.B. Wirtschaftswissenschaften als eine zumeist ohne „Geist“ betriebene Wissenschaft bezeichnen. Es ist nicht richtig fehlende oder falsche Wirtschafts“politik“ den Wirtschaftswissenschaften anzukreiden. Sie machen ja auch nicht die Mathematik für den auf einer falsch berechneten Umlaufbahn gelandeten, russischen Satelliten verantwortlich. Da soll der „Geist“ aus der Wodkaflasche sein Händchen mit im Spiel gehabt haben. Auch ein „Geist“ unter den vielen „Geistern“, aber einen der anderen Art.

Werner Jurga
13 Jahre zuvor

@ Gerd (#6):
Ich befürchte, da hast Du meine kleine Anmerkung (#3) etwas zu ernst genommen. Ich wollte hier eigentlich nur auf den neuen Spiegel-Titel aufmerksam machen; mein Einleitungssatz – eher so dahingeschrieben – sollte meine zustimmende Anerkennung zum Ausdruck bringen. Okay, in dieser Nöligkeit konnte er wohl nicht als Kompliment rüberkommen.
Zweiter Versuch: Du schreibst über die „Sprache des `Marktes´, der ja z.B. im TV-Blabla fast nur noch personifiziert und anthropomorphisiert wird“. Hier der kritische Einwand: „personifiziert“ – vielleicht; aber „anthropomorphisiert“? Heißt das nicht anders?
Beispiel: „Am Abend ist der Dachs dann ein wenig müde geworden.“ Bekanntlich sind Dachse fast ausschließlich nachtaktiv. Wie nennt man es denn, wenn menschliche Eigenschaften in Tiere hineinprojiziert werden. Das heißt doch nicht „anthropomorphisieren“? Ich komme jetzt nicht drauf.

Werner Jurga
13 Jahre zuvor

nochmal @ Gerd:
sorry, ich bin so ungebildet. Habe gerade bei Wikipedia nachgesehen. „Anthropomorphismus“ ist der richtige Begriff. Nächstens sehe ich vorher nach. „Am Abend ist der Dachs dann ein wenig müde geworden.“ Anthropomorphismus. Man lernt doch einfach nie aus.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

@Patrizia (7),
„Das Primat der Politik entscheidet über die Regeln, welche in der Ökonomie zu gelten haben.“
Sie scheinen tatsächlich noch daran zu glauben, daß es so ein „Primat der Politik“ noch gibt.
Angesichts der hohen Staatsverschuldungen vieler Staaten, ist deren Staatsbankrott nur noch eine Frage der Zeit. Diese Staaten sind nicht mehr Herr über ihre Zukunftsplanung. Die Unterstützung durch andere Staaten der EU ist da kein Gegenindikator. Aber erstens sind diese anderen Staaten selbst viel zu hoch verschuldet, so daß sie auch selber gefährdet sind, und zweitens sind alle diese merkwürdigen, Sie nennen sie „unsinnige ad-hoc-Entscheidungen“, keine Beispiele für aktives sinnvolles Handeln „des Staates“.
Wo also bleibt das Primat der Politik?
Sie halten für fehlerhafte Politik, was ich als wirtschaftlichen Zwang einstufe.
Patrizia, vor längerer Zeit habe ich Paul A. Samuelson gelesen, weil ich verstehen wollte, wie die von Keynes entwickelte Wirtschaftstheorie von seinen Nachfolgern angewandt werden sollte. Was mich damals verblüfft hat, war daß die Entwicklung immer wieder zurück in den Wirtschaftsliberalismus läuft.
Dabei hatte ich seit dieser Zeit geglaubt, daß die Steuerungsmechanismen, die Keynes entwickelt hatte, tatächlich wirksame Instrumente seien, den Kapitalismus vor den, von Marx angenommenen Antagonismen zu retten. Das war es ja, was auch Keynes selber angenommen haben muß.
Gut, die Krisenzyklen sind wirklich abgemildert worden.
Aber die Krisen, die wir heute erleben finden statt, vor dem Hintergrund, daß der Monopolisierungsprozeß im Sektor Finanzkapital dazu geführt hat, daß eben die Staaten, die ja eigentlich ihr Primat ausüben sollten, zum Teil selber bereits, wegen ihrer Überschuldung, zum Spielball dieses internationalen Finanzkapitals geworden sind. Dieser Prozeß scheint sich sogar zu beschleunigen.
Also doch ein Antagonismus?
Diese Frage kann ich nicht klären, weil ich mir auch das weltweite Desaster, was die Folge einer solcher Annahme, falls sie richtig wäre, nicht vorstellen möchte.
Ich glaube aber, daß da noch Luft im System ist.
Ich glaube aber auch, daß die Zeit für Experimente mit liberalen Wirtschaftskonzepten vorbei ist.
Bevor wir zur abschließenden Analyse dieser Zukunftsfrage kommen, werden wir noch erleben, daß konservative Regierungen selber Regelungen des Finanzmarktes beschließen werden, die für diese Kreise bisher undenkbar waren.

Werner Jurga
13 Jahre zuvor

@ Gerd
Die schönste Stilblüte – ein Dauerbrenner, gegenwärtig nicht ganz so gefragt, kommt aber auch bald wieder und dann mindestens zweimal wöchentlich: „Der Markt will nach oben, kann aber nicht.“
Anthropomorphismus oder nicht? Allgemein sind wir mit diesem Begriff durch. Ich hatte mich geirrt. Fertig. Etwas ernsthafter: Du erwähnst, allerorten werde behauptet, dass “der Markt” eine “Naturgewalt” sei. Daran setzt Du ein Smiley, was ich so interpretiere, dass Du andeuten willst, dass – zumindest unsereins – solch offenkundiger Unfug keinerlei Gedanke Wert sein sollte.
Sollte ich Dich da richtig verstehen, wäre ich geneigt zu widersprechen. Der „Markt“ ist, der heutzutage üblichen Teilung des Wissenschaftssystems folgend, kein Phänomen der Natur, sondern des Sozialen. Insofern wirken in ihm auch keine Naturgesetze, sondern soziale Gesetzmäßigkeiten, ein Bündel aus meist weniger, selten relativ mehr belastbarer Weisheiten aus Ökonomie und anderer Sozialwissenschaften.
50 % der Wirtschaft, das weiß nun aber jeder, ist Psychologie, die nun ihrerseits wiederum zur einen Hälfte eine Sozialwissenschaft, zur anderen Hälfte jedoch eine Naturwissenschaft ist. Wie auch immer: wenn, was vorkommt, nun (fast) sämtliche Wirtschaftssubjekte irgendwie ausflippen, in einen Kauf- oder Verkaufsrausch verfallen, dann erhält das wirklich Züge einer Naturgewalt.
Das Naturgesetz als Anfang aller Dinge. Die Frage bleibt jedoch offen, warum die Leute alle ausflippen. Und warum sind in Fukushima die Brennstäbe aller geschmolzen. Jedenfalls drängt sich auf, von einem recht engen (und dynamischen) Zusammenhang zwischen Naturgewalten und sozialen Gewalten auszugehen.
Und was ich eigentlich anmerken möchte: selbst wenn der „Markt“, wie auch ich finde, mit der Vorstellung von einer Naturgewalt ziemlich falsch verstanden wäre, sollte dies nicht ins Missverständnis führen, dass hier (nicht nur überwiegend, sondern) ausschließlich soziale Kräfte wirkten – gar konkret benennbare Personen oder Personengruppen.
Der „Markt“ ist wie Wasser, segensreich wie vernichtend. Er / es ist da, man kann nicht drauf verzichten, man kann letztlich nicht dagegen ankommen. Gegen die Zerstörungskraft empfiehlt es sich, Dämme zu bauen oder so etwas. Sein schöpferisches Potenzial sollte über das unmittelbar Lebenswichtige hinaus optimal genutzt werden.
Über die Gewalt des Marktes nachzudenken, lohnt sich schon. Dazu muss man anstreben, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was das eigentlich ist, der „Markt“. Und deshalb finde ich Deinen Ursprungsbeitrag hier auch so nützlich, die Aufklärung über die, wie ich jetzt gelernt habe, anthropomorphistische Sprache in diesem Zusammenhang.
Der Markt will nach oben, im Grunde eigentlich immer. Mal kann er, mal nicht. Der Dachs wird manches Mal auch erst am Abend so richtig munter. Keine Naturgewalten, aber eben auch nicht bloß eine sozialökonomische Marotte, die sich durch eine gesetzliche Anordnung für Herrn Ackermann, nicht so doof in die Kamera zu grinsen, einfach mal so eben aus der Welt schaffen ließe.
Die ungeheuerliche Kraft der „Markt“ fußt auf den Naturgesetzen, den sozialen Gesetzmäßigkeiten und den politisch erlassenen Gesetzen – und zwar genau in dieser Priorität. Zwischen dem Recht Gottes und dem Recht des Königs (also den Naturgesetzen und dem EU-Krisengipfel) ist da eben noch des Recht dessen, den wir nicht so recht benannt bekommen (hier: soziale Gesetzmäßigkeiten).
Also der „Markt“. Aber das ist blöd. So können wir ja gar nicht über ihn reden. Das kann doch gar kein Akteur sein. Es gibt Akteure auf dem Markt oder den Märkten (meistens Bösewichte). Aber der Markt als Akteur. Er muss also personifiziert werden und, weil die Disney-Studios auch so arbeiten, gern auch anthropomorphisiert. Man kann in Zeichentrickfilmen ja so viel lernen, weil die Welt plötzlich so einfach ist.
Und so wird der arme „Markt“, der ja irgendwie auch nichts dafür kann, auf einmal zu einer Person, einem Tier, eine Lokomotive oder sonst was. Wir können über „ihn“ reden, die putzigsten Vorstellungen von „ihm“ entwickeln, kurz: uns ein Bild von „ihm“ und ggf. weiterführende Gedanken über „ihn“ machen. Du hast ja eine ganze Reihe entsprechender Bilder hier zusammengetragen.
Und darauf hingewiesen: sie sind alle nicht – ich sage mal: realitätskongruent. Sie sind Phantasmen; irgendetwas ist da, aber das ist es nicht. Ein Teddybär ist ein Kamerad, ein Spielzeug ein Maskottchen und eine Pepsi-Cola-Puppe … – Der Markt jedenfalls ist ein Fetisch. Selbstredend ein real existierender. Und die Menschen können dank Personifizierung über ihn reden. Nur komisches Zeug, logisch; aber immerhin: man redet mal drüber.
Und was alles für Sachen dabei herauskommen! Stilblüten. Herrlich. Wir könnten hier ja eine ganze Serie mit wirklich aufgeschnappten Sprüchen starten. Das könnte ein Spaß werden! Ich mache mal den Anfang. Am besten mit dem Anfang: „die unsichtbare Hand des Marktes“. Meine persönliche Nummer Eins. Dagegen ist der Markt, der will, aber nicht kann, und der ganze Dachs-Käse pillepalle. „Die unsichtbare Hand des Marktes“, gleich zum Start! Im Grunde von vornherein kaum noch zu toppen.

Arnold Voß
Arnold Voß
13 Jahre zuvor

Spannende Diskussion. Dabei kann man von den US-Amerikanern einiges lernen. Wer, wie die USA, mit Absicht viel Markt, sprich auch viel Arbeitsmarkt, zulässt, muss eine Ausbeutungsgrenze nach unten setzen, wenn er den einzelnen Menschen nicht völlig der Gier der anderen aussetzen will: den gesetzlichen d.h für alle geltenden Mindestlohn.

Für die, die keine Arbeit haben bzw. bekommen, hat das Wirtschaftssystem der USA allerdings keinen ernstzunehmenden Schutz zu bieten. Hier kann das Ziel in Anbetracht der strukturell abnehmenden Arbeitsmenge nur das bedingungslose Grundeinkommen sein. Übrigens auch eine amerikanische Idee, und zwar von einem der bekanntesten neoliberaler Wirtschaftstheoretiker: Milton Friedmann.

Ansonsten empfehle ich das, wie ich finde, wirklich interessante und zugleich dicke Buch: „Tauschen und Täuschen – Warum die Gesellschaft ist wie sie ist.“ von Manfred Drenning.

Der hat darin versucht so gut wie alle mehr oder weniger wissenschaftlichen Erkenntnisbereiche als Erklärung sowohl für unsere politisches, unser wirtschaftliches als auch unsere soziales Verhaltens zusammen zu bringen. Wobei der Tausch, also der Markt, für ihn ein überragende Rolle spielt.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

@Gerd (16)
Gerd, wir sollten das mal im Gdansk bei einem Bier diskutieren.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

Gerd, schön melde Dich, wenn es paßt.
Im wahren, also stabilen Weltuntergang, was für ein Satz von Karl Kraus.

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