Michael Miersch gehört seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Umweltjournalisten Deutschlands. Alarmismus und der Ruf nach Freiheitsbeschränkungen waren ihm jedoch immer fremd. In seinem neuen Buch „Einmal Freiheit und zurück“ zeichnet er in 35 Briefen an seine Kinder nach, wie er und die Republik sich gewandelt haben.
Als Michael Miersch 1956 in Frankfurt am Main geboren wurde, war die Bundesrepublik noch ein anderes Land: Der Bundeskanzler hieß Konrad Adenauer (CDU), die Männer trugen Anzüge und die Frauen Kleider, die Wirtschaft boomte, die Schlote qualmten und doch waren die Menschen im Vergleich zu heute arm, auch wenn sie zu denen gehörten, die gut verdienten. Flugreisen waren für fast alle ein unerreichbarer Luxus, Fernseher teuer, selten und schwarz-weiß und die Zahl der Autos stieg erst langsam. Heute selbstverständliche Alltagsgegenstände wie Personal Computer oder Smartphones sollten erst Jahrzehnte später erfunden werden. Die Gleichberechtigung der Frau stand zwar im Grundgesetz, aber um eine Arbeit anzunehmen, brauchten sie die Erlaubnis ihres Mannes. Homosexuelle wurden strafrechtlich verfolgt, wer seinem Sohn erlaubte, mit seiner Freundin in einem Zimmer zu übernachten, musste damit rechnen, wegen Kuppelei angezeigt zu werden und auf Nazis traf man überall: im Klassenzimmer, auf dem Richterstuhl und im Bundestag.
Miersch zeichnet in 35 Briefen, von denen jeder ein eigenes Thema hat, an seine erwachsenen Kinder Amelie und Moritz nach, wie sich seitdem das Land und auch er selbst verändert haben. Die ersten Jahrzehnte dieser Reise durch die Zeit sind von Protest und Freiheitsgewinnen geprägt. Miersch beschreibt, wie er seine Jugend in Frankfurt als Linksradikaler verbrachte, ohne in die Fänge der Marxisten-Leninisten zu geraten, die in den 70er-Jahren auch dort versuchten, den Ton anzugeben: „Meine Peergroup und ich mixten Anarchismus und Punk, eine Kombination, die in der Presse damals als „Politikrocker“ und „Chaoten“ bezeichnet wurde.“
Miersch trug seine Haare zeitweise lang, nahm – maßvoll – Drogen und las, was ihm in die Hände kam. Das Verhältnis zu den Eltern war schlecht, nicht weil sie besondere Tyrannen waren, sondern weil man damals einfach ein schlechtes Verhältnis zu seiner Familie hatte: Zu unterschiedlich waren die Ansichten und Werte, als dass ein freundliches Nebeneinander möglich gewesen wäre.
Aber das Leben wurde mit der Zeit freier: Paare konnten ohne Trauschein zusammenleben, Sexualität wurde enttabuisiert, der Einfluss der Kirchen ging zurück und wie man leben wollte, bestimmte man zunehmend selbst. Miersch jobbt, geht mit wenig Geld auf Reisen und lernt die Welt kennen. Seine Ansprüche sind nicht groß, irgendwie reichen die knappen Mittel immer für eine billige Mahlzeit und einen Platz in einem überfüllten Bus.
Was er seinen Kindern erzählt, ist allerdings keine Heldenreise, sondern einen Bericht, in dem er immer auch auf die eigenen Irrungen und Fehler verweist. Miersch ist nachdenklich. Einige Briefe, zum Beispiel wenn es um Ehe und Sexualität geht, sind so persönlich, dass man als Leser das Gefühl hat, man würde als Fremder eine innerfamiliäre Aussprache stören. Aber diese Texte sind die Ausnahme. In den meisten geht es um Politik. Miersch gehört zu den Pionieren des Umweltjournalismus. Er arbeitete anfangs für den Hessischen Rundfunk, die taz und das Umweltmagazin Natur. Später schrieb er für Cicero und die Welt. Miersch war auch in dieser Zeit Autor und kein Aktivist. Seine Recherchen ergaben auch für ihn überraschend, dass viele der Gewissheiten der schon damals medial mächtigen Umweltbewegung schlicht nicht stimmten: „Mit der Zeit kam ich zu der Überzeugung, dass die gängige Sichtweise »Bio gut – Konventionell böse« nicht der Realität entspricht. Bei vielen Konsumenten insbesondere aus der akademischen Mittelschicht hält sich das Schwarz-Weiß-Bild jedoch bis heute.“ Doch von seinen neuen Erkenntnissen will in der Szene, in der er sich bewegt, niemand wissen. Miersch schreibt gemeinsam mit Dirk Maxeiner schließlich Bestseller wie „Das Lexikon der Öko-Irrtümer“, „Die Zukunft und ihre Feinde – Wie Fortschrittspessimisten unsere Gesellschaft lähmen“ oder „Öko-Optimismus“, in denen der Weltuntergang abgeblasen wird. So erfolgreich sie auch waren, an der Liebe der Deutschen zur Apokalypse änderten sie leider nichts.
Und wenn Miersch in vielen der 34 Briefe beschreibt, wie über Jahrzehnte hinweg die Bundesrepublik zu einem immer freien Land wurde, zeichnet er auch den Weg in eine Angst- und Verbotsgesellschaft. Angst, Desinformation und ein wiederkehrender Glaube an Autoritäten kennzeichnen für Miersch die Entwicklung der vergangenen Jahre:
„Seit ein paar Jahren habe ich den Eindruck, dass die damals aufkommende gesellschaftliche Entspannung in vielen Bereichen rückgängig gemacht wird. Es gibt wieder mehr Tabus, die Etikette wird strikter, die Sitten werden rigider, vieles soll nicht mehr gesagt werden dürfen, und viele fühlen sich ständig beleidigt. Bei jeder Gelegenheit wird nach Verzicht und Einschränkung gerufen. Schließt sich da ein Kreis? Sind die verbotsverliebten Anstandstanten und Saubermänner von einst als hippe Neospießer auferstanden?“
Das grün-woke Milieu sieht Miersch als Feind der Freiheit. Das wundert nicht: Er hat das früher erkannt als viele andere und viel zu wenige haben auf ihn gehört.
Am Ende des Buches wirkt Miersch desillusioniert: „Seit ein Großteil der Deutschen die grüne Weltanschauung angenommen hat, rücken Themen in den Fokus der Politik, die zuvor als völlig unpolitisch angesehen wurden. Das Wetter, Essen, Autofahren, Urlaubsreisen oder das Heizen in den eigenen vier Wänden waren belanglose Plauderthemen. Heute sind sie Anlässe für politisch-moralische Grundsatzdebatten.“
Das ist menschlich verständlich, aber das Buch hätte ebenso ein optimistischeres Ende verdient, wie man dem Autor mit ganzem Herzen einen zuversichtlicheren Blick in die Zukunft wünscht. Die Zeichen mehren sich, dass der Peak-Woke erreicht wird. Jede Schlacht, die wir verlieren, daran kann man schon glauben und sogar die Scherben zitieren, bedeutet unseren nächsten Sieg. Ob Kernenergieausstieg, grünes Wirtschaftswunder oder der jährliche Geschlechtswechsel per Sprechakt: Der größte Feind des grün-woken Komplexes ist die Wirklichkeit. Und der ist es egal, wenn sie sich einen Shitstorm bei Twitter einfängt.
Michael Miersch: „Einmal Freiheit und zurück“ Edition Tiamat, 2023