Ich starte heute einen großen Selbstversuch: mit dem ÖPNV vom Bochumer Süden in den Gelsenkirchener Süden! Habe nach der gestrigen Firmen-Weihnachtsfeier mein Auto stehen gelassen. Nun muss ich es abholen, mangels Alternative mit dem ÖPNV. Dieser genießt im Ruhrgebiet einen legendär schlechten Ruf. Mal sehen, wie er wirklich ist…
Der Ruhrgebiets-ÖPNV ist zersplittert wie Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg. Fast jede Stadt in diesem Fünf-Millionen-Ballungsraum hat kleinstaatengleich ihre eigene ÖPNV-Gesellschaft für ihren eigenen Beritt. Diese denken bestenfalls bis zu ihren Stadtgrenzen. Die Deutsche Bahn und einige kleinere private Bahngesellschaften sind zudem für den Schienen-Regionalverkehr zuständig.
Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR ) thront darüber und soll 38 (!!) eigenständige Mitgliedsunternehmen koordinieren. Und das mit Hilfe von sage und schreibe 329 delegierten Kommunalpolitikern, die seinen verschiedenen politischen Gremien angehören. Wer’s nicht glauben kann, bitte sehr: VRR-Gremienmitglieder Wahlperiode 2014 – 2020. Mehr Splitter geht nicht.
Fahrplan-App für’s Handy
Ein Selbstversuch der besonderen Art also. Zur Vorbereitung lade ich mir die Bogestra-App auf’s Handy. Die Bogestra ist die Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen-AG, mit rund 2.200 Mitarbeitern eines der größten Nahverkehrsunternehmen an Ruhr und Emscher, fest in politischer Hand seiner beiden namensgebenden Städte.
Die App ist leicht zu bedienen und sagt mir eine Fahrtdauer von einer Stunde und zwölf Minuten bei zwei Umstiegen voraus – falls alles klappen sollte. Heute ist Samstag und der Wochenend-Fahrplan ist in Kraft. Sechs Euro soll mich die einfache Fahrt kosten.
Start 11:31h
Es nässt und kaltwindet ein penetranter Dezember-Regen heute, wie er unangenehmer nicht sein kann. Die Haltestelle ist zwar überdacht, aber dem Wetter klar unterlegen. Zum Glück kommt der lange Gelenkbus der Linie CE31 auf die Minute pünktlich an. Beim Fahrer kaufe ich mir mein Ticket. Er ist sachlich-professionell und verbirgt routiniert seine Freude über mich als Kunden hinter einem ausdrucks- und begrüßungslosen Gesicht. Es geht zunächst zum Bochumer Hbf. Dort werde ich zum ersten Mal umsteigen müssen. Die App prognostiziert eine Fahrtdauer von 18 Minuten.
Im Bus
Problemlos ergattere ich einen Sitz, dessen Stoffdesign schrill zu nennen ein Understatement wäre. Der Bus füllt sich von Haltestelle zu Haltestelle, ohne zu voll zu werden. Viele Menschen aus allen Herren Länder sind dabei. Es wird bunter, lauter und lebendiger. Unweigerlich kriege ich die Gespräche meiner Mitreisenden mit, verstehe aber nur ganz wenig von dem Gesagten. Ich bedauere es, keine schwarzafrikanische Sprache gelernt zu haben. Arabisch wäre jetzt auch hilfreich.
Ankunft 11:53 Bochum Hbf
Mit vierminütiger Verspätung kommen wir am Bochumer Hauptbahnhof an. Das ist für mich nicht weiter schlimm, da mir die Bogestra-App 15 Minuten Zeit gibt für Suchen, Finden und Umsteigen in die Regionalbahn.
Trotz Verspätung bleibt mir also Zeit, mir ein belegtes Brötchen bei Kamps in der Bahnhofhalle zu gönnen. Dabei entwickelt sich ein kurzes, aber unbezahlbares Gespräch mit der Verkäuferin:
Ich: „Was ist denn das Leckerste hier?“
Sie: „Ich!“
Ich: „Mit oder ohne Remoulade?“
Sie: „Mit.“
Ich: „Dann nehme ich bitte das Zweitleckerste.“
Abfahrt 12:04h Bochum Hbf
Weiter geht’s mit der Privatbahn „abellio“ Linie RB46 Richtung Gelsenkirchen Hbf. Alles sauber und schön hier. Der Zug ist recht leer, der Schaffner kontrolliert routiniert jeden einzelnen Fahrgast. Bisher bestens im Zeitplan!
Die Fahrt führt an vielen Hinterhöfen vorbei, an Wohn- und Industriebauten und an Schrebergärten. Man sieht aus der Bahn das Ruhrgebiet quasi von seiner Rückseite. Ist aber auch nicht viel schöner als von vorne.
Am Bahnhof von Wanne-Eickel halten wir für meinen Geschmack etwas zu lange, ohne jeden ersichtlichen Grund. Kaum jemand steigt ein oder aus. Wanne-Eickel hat einen erstaunlich großen und modernen Bahnhof. Aber wozu nur?
Ankunft 12:30h Gelsenkirchen Hbf
Am Gelsenkirchener Hbf kommen wir vier Minuten zu spät an. Genau diese vier Minuten waren aber von der Bogestra-App für den Umstieg in den Bus eingeplant. Wäre aber eh‘ nicht zu schaffen gewesen: Vom Bahn- zum Bussteig über Treppen runter und dann wieder rauf braucht man eher sieben Minuten. Der Bus ist also schon weg, als ich am Steig 5 des „Zentralen Omnibus-Bahnhofs (ZOB)“ ankomme. Bin gespannt, was mir die App nun vorschlägt.
Fünfzehn Minuten soll ich auf den nächsten Bus der Linie 382 warten, sagt die App. Diese Zeit vertreibe ich mir durch unfreiwilliges Mithören lautstarker Telefonate in meiner Nähe. Diesmal Ruhrgebietsplatt vom Feinsten, alle Klischees erfüllend. Ob die Leute ahnen, wie lustig sie sind?
Zielankunft 12:56h in GE-Bulmke-Hüllen
Inzwischen scheint die Dezember-Sonne und ich bin an meinem Ziel angekommen: nach exakt einer Stunde und 25 Minuten, mit dreizehn Minuten Verspätung. Sechs Euro für eine einfache Fahrt hat dieser Spaß gekostet, das ist noch akzeptabel. Nicht akzeptabel ist aber die Fahrtdauer! Mit dem Auto hätte ich nur 22 Minuten für die 18 km gebraucht, sagt Google Maps.
ÖPNV im Alltag? Undenkbar!
So schnell mach‘ ich das nicht wieder. Ich bleibe dem Auto treu, in erster Linie wegen der eingesparten Zeit. Für die läppischen 18 Kilometer Entfernung anderthalb Stunden Bus & Bahn fahren? So viel Zeit habe ich nun doch nicht. Vor allem im alltäglichen Berufsverkehr wäre das völlig undenkbar für mich. Die sechs Euro Fahrtpreis könnte man mir schenken, ich würde immer noch Auto fahren. In Berlin, München und Hamburg mag das etwas anderes sein. Aber hier bei uns im Ruhrgebiet geht das unter den heutigen Umständen schlicht nicht. War aber trotzdem ein interessantes Experiment…
Zum Ruhr-ÖPNV:
„Der bessere Nahverkehr im Ruhrgebiet scheitert an Mathekünsten des VRR“
„Der VRR darf nicht Modellregion des Bundes für Bus und Bahn werden“
Alle Menschen unter 18 müssen diesen Nahverkehr ohne wenn und aber benutzen, oder besser ertragen.
Guter Artikel, netter Selbstversuch 🙂
" … 329 delegierten Kommunalpolitikern …"
Schon haben Sie den Kern von Kommunalunternehmen herausgearbeitet: die Selbstversorgung mit Posten & Pöstchen.
Bei vielen Reisen im Ruhrgebiet dauern die Fußwege zu den Haltestellen und das Warten beim Umsteigen länger als die eigentliche Fahrt. Dies liegt häufig an den sehr unterschiedlichen Taktungen verschiedener Verkehrsmittel, besonders Busse sind hier die Schwachstelle. Busse ohne eigene Fahrspur haben darüber hinaus auch den großen Nachteil dass sie ebenso wie die Autos im Berufsverkehr stecken bleiben.
In Berlin sind Fahrten auch nicht immer besonders schnell, aber hier entfallen wenigstens die langen Wartezeiten beim Umsteigen durch die sehr guten Taktungen. Und der Weg zur nächsten Haltestelle ist dort nie besonders weit.
Schöner Bericht, vor allem das humorvolle Gespräch mit der Brötchenverkäuferin hat mir gut gefallen. ÖPNV im Ruhrgebiet – nein Danke! Da bleibe ich meinem Rad treu und bin häufig sogar noch schneller am Ziel. (Übrigens das auch als Kommentar zu jenem Vorredner @Arnold Voss, der meint, alle unter 18 "müssen diesen Nahverkehr ohne wenn und aber benutzen, oder besser ertragen"! Nein, das müssen sie nicht. Wer gesund ist und sich eine Fahrrad leisten kann, kommt aber häufig genug besser zum Ziel und hat für seine Fitness was getan.
"Wozu hat Wanne Eickel einen so großen Bahnhof?" Nun, das ist ganz einfach. Es ist Knotenpunkt u.a. zweier Fernstrecken und Ausgangspunkt einer der wichtigsten Fernstrecken der deutschen Eisenbahn, nämlich der sog. Rollbahn Ruhrgebiet-MS-OS-HB-HH, die noch von der CME gebaut wurde, der auch DO seine Funktion als bedeutender Eisenbahnknotenpunkt verdankt, der als Betriebsmittelpunkt eben jener Cöln-Mindener-Eisenbahn begann. Diese CME baute übrigens auch eine der ersten Elbbrücken in HH.
Ich finde nicht richtig, dass Sie hier einen ausführlichen Bericht eines Suizidversuches eines offensichtlich Wahnsinnigen -wer ist so verrückt und föhrt mit dem Bus von Bochum nach Gelsenkirchen- verbreiten.
Zumindest hätten Sie einen Hinweis auf die Rufnummer der Telefonseelsorge an den Schluss des Textes stellen können. " Ihre Gedanken kreisen um Selbstmord oder Sie beabsichtigen, mit dem VRR-ÖPNV zu fahren ?, Dann rufen Sie uns an"
(PS: ich nutze diesen ÖPNV seit Jahrzehnten töglich, es ist schon ein Dilemma)
Der Bus steht nun mal genau wie der PKW im Stau, weil die Planer und Bauer der Nachkriegszeit dem Wahn der autogerechten Stadt verfallen waren. Es gibt als Folge dieses Wiederaufbaus und einer zudem völlig aus dem Ruder gelaufenen Verkehrspolitik halt viel zu viele Autos. Da man die Stadt nicht mit Schienen zu pflastern kann, wird sich am ÖPNV auf der Straße nur dann was ändern, wenn man ganz massiv Busspuren einrichtet. Das ginge quasi von heute auf morgen. Auch entsprechende Ampelschaltungen, die generell Bussen und Straßenbahnen den Vorrang geben, helfen weiter.
Meine Erfahrung nach 3 Jahren im Ruhrgebiet und täglicher ÖPNV-Nutzung: Es kommt seeeeehr darauf an wohin man will und je nach Ort gibt es extreme Unterschiede von ein Bus 3x am Tag bis hin zu alle 3 Minuten eine U-Bahn (U35 z.B.). Die Innenstädte sind fast immer ausreichend bis gut zu erreichen, für so ein dezentrales Gebilde wie es das Ruhrgebiet nun mal ist, ist das aber nicht immer praktikabel. Gerade in Nord-Süd-Richtung fehlen gute Verbindungen. Versuche mal einer von Wuppertal nach Bochum zu kommen oder von Bochum nach Recklinghausen. Das ist beschämend.
Durch das Netz 2020 und den neuen S-Bahn-Takt verbessert sich in Bochum und umzu vieles. Hier fährt ab morgen alle 7-8 Minuten werktags eine Straßenbahn ab und die S-Bahn auch alle 15 Minuten. Bisher waren es bei beiden 20 bis 30 Minuten. Mit dem Netz 2020 stärkt die Bogestra ganz klar ihre Stadtbahnlinien und ihre Hauptbuslinien. Die Stadtteilzentren werden verstärkt bedient und durch ihre Kombination auf den Hauptverkehrsstraßen bietet sich oft ein 7- bis 15-Minuten-Takt. Das ist viel besser als bisher.
Statt 45 min brauch ich demnächst abends "nur" noch 30-35 Minuten von der Arbeit nach Hause, weil ich nicht mehr 15 Minuten auf die nächste S-Bahn warten muss und die Taktung auf dieser Strecke verbessert wird. Bin werktäglich mit 378, S1 und CE31 (nun 350) oder 353 unterwegs.
Mit dem Auto wäre dieselbe Strecke bei schwachem Verkehr in 10-15 min zu bewerkstelligen. Für Leute die ein Auto haben ist das verständlicherweise nicht attraktiv. Ich habe keines, durch die Taktänderung habe ich allerdings auch weniger Gründe ein eigenes zu kaufen. Ich brauch das nicht zur Verlängerung meines Egos und es wäre für mich definitiv teurer als ein Ticket2000. Dann miete ich lieber bei Bedarf ein Kfz und nutze sonst die Öffis oder mein Rad. Ist auch für die Umwelt besser.
Leider verschlechtert sich aber auch vieles. Es gibt Ecken von Bochum die tatsächlich zukünftig eine schlechtere Taktung haben (gerade Gegenden die weit entfernt von den Hauptverkehrsachsen sind) und die Taktbrechung von der S1 in Essen und Duisburg kann man auch nicht als gelungen bezeichnen. Das wird zu viel Verwirrung führen. Wenn man das so schon machen will hätte man auch weitere S-Bahn-Nummern einführen sollen.
Also aus dem RE sehe ich zwischen Wattenscheid und Essen immer den Stau auf der A40. Darf ich mich da einmal reinstellen und dann hier einen Klageartikel veröffentlichen inkl. der Erwähnung der besten Hits-Ankündigungen im Radio? 🙂
Wie #8 erwähnt, hängt es immer stark von Start und Ziel ab, womit man schnell vorankommt.
@ Heiner #8
Tja, das hört sich ja schön an, lieber Heiner, aber ob das auch so klappt? Nach meiner Erfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln wirst Du bei der verkürzten Umsteigezeit demnächst einen Bus früher nehmen müssen, weil Du Deinen Anschluss verpasst, wenn der Bus mal wieder Verspätung hat, oder ausfällt … es ist also fraglich, ob Du tatsächlich Zeit sparst.
Zum Artikel: Lieber Roland, da hattest Du aber Glück, dass Du nur einen Anschluss verpasst hast. Das liegt vermutlich daran, dass es Samstag war und die Busse/Bahnen nicht so stark frequentiert. Ich fahre jeden Tag von GE nach E, ca. 11 km, und brauche dafür so im Schnitt auch 1 1/2 Stunden, aber auch 2 Stunden sind keine Seltenheit.
Und beklag Dich bitte nicht über das Muster der Sitzpolster: Die neuesten Busse der Bogestra sind gar nicht mehr gepolstert, da sitzt man auf hartem Plastik, ohne jegliches Polster, und weil offenbar auch die Stoßdämpfer eingespart wurden knallt einem jede kleine Unebenheit auf der Straße direkt in die Wirbelsäule – so muss das Reisen zu Postkutschenzeiten mal gewesen sein…
Außerdem war es eine gute Idee, das Experiment im Winter zu machen. Du glaubst nicht, wie toll so eine Fahrt im Sommer ist: Seitdem man in allen Bussen Klimaanlagen eingebaut hat, lassen sich die Fenster nämlich nicht mehr öffnen. Dumm nur, dass in jedem 2. Bus die Klimaanlage nicht funktioniert.
Es ist ein Elend.
11 km schafft man mit dem Rad in einer guten halben Stunde, höchstens 3/4 Stunde. Und hatte noch Bewegung. Und ein individuellen Ansprüchen genügendes Fahrzeug. 😉
@Bebbi
Es soll Menschen geben die eine Behinderung haben. Ich kenne das von meinem Nachbarn, der ist für 5 km auf den Bus angewiesen und ist teilweise über eine Stunde unterwegs.
#11 Benni
Und davon wird der ÖPNV im VRR-Gebiet besser?
Kürzlich schaute ich ein YouTube-Video über eine MtB-Tour am Kili. Einer der Teilnehmer hat
fördert ein Entwicklungshilfeprojekt dort, Fahrräder bauen und reparieren. Damit haben die Menschen in der Region Zugang zu Bildung und zu entfernter liegender Arbeit. Schön wenn das Ruhrgebiet abgesehen vom eigenen Auto auf dem Niveau tansanischen Hinterlandes funktioniert?
Es ist nicht zu fassen, womit manche sich abspeisen lassen!
Statt 15 Minuten am HBF GE zu warten, hätte man in der Zeit aber auch locker zum Ziel laufen können.
@12: Für eine Vielzahl an Einschränkungen gibt es spezielle Räder
@13: Also ich bin froh, nicht mit dem Auto fahren zu müssen, daher ist Radfahren kein Entwicklungsrückschritt. Damit wird der nicht besser, aber das ist dann egal.
#15 Bebbi (Sorry, letzes mal hat die Autokorrektur dazwischen gefunkt.)
Was für Sie oder mich erfreut oder uns möglich ist, kann für einen ÖPNV kein Standard sein, der sollte für die Masse des Publikums als stand-alone-System funktionieren, wie das in anderen Großstädten und Ballungsräumen auch der Fall ist.
@ Wolfram Obermanns # 16
Aber das wollen nur wenige begreifen. Der ÖPNV darf kein Restanbieter sein, der dann ins Geschäft kommt, wenn alle anderen Verkehrsarten nicht zum Ziel führen. Er hat das zentrale Angebot in einer Stadt/Region zu sein, das gerade für die attraktiv sein muss, die weder Auto- noch Radfahren wollen oder können und die, die es, z.B. aus gesundheitlichen Gründen, sogar zu Fuß schwer haben. Und das völlig unabhängig vom Klimawandel.