Mit den Augen der Menschen sehen – Christoph Ransmayrs „Atlas eines ängstlichen Mannes“ macht Mut zur Fremde

Atlas eines ängstlichen Mannes Es ist nie zu spät, Christoph Ransmayr zu lesen oder seine Bücher zu Weihnachten zu verschenken. Ransmayr könnte man von seinen Anfängen als Reisereporter kennen, aber auch als Theaterautor, als Prosaschriftsteller oder Essayisten, als experimentellen Sprachforscher aus seiner Reihe zu Spielformen des Erzählens. Seine in über 30 Sprachen übersetzten Texte spannen sich weit über Zeiten und Räume – von der Suche nach Ovid bis heute, vom exotisch klingenden Surabaya oder Rapa Nui bis zum prosaischen Berlin.

Mitreise-Gelegenheit
Zwischen vier und 18 Seiten sind sie lang, die 70 Episoden aus seinem letzten, 2012 bei S. Fischer erschienenen Buch, dem „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Allesamt beginnen sie mit den magischen Worten „Ich sah…“ und jedes Mal wird man durch diesen Anfang in eine Geschichte hineingezogen, die von inneren Reisen ebenso handelt wie von denen in die äußere Ferne und Nähe.
„Ich sah eine gedeckte Tafel im Mannschaftsraum des russischen Eisbrechers Kapitan Dranitsyn. Das Schiff lag mit gestoppten Maschinen so still im hocharktischen Packeis, daß aus keinem der zwölf auf das Glück eines lächelnden Mannes erhobenen Gläser auch nur ein Tropfen schwappte.“
Schon mit wenigen Worten werden wir mitgerissenen und zu Mitreisenden auf Fahrten und Wanderungen in den Schatten der Vulkane Javas oder ins Berliner Reichstagsgebäude, in den Weltraum, in die Südsee, über die Stromschnellen des Mekong. Und eine Reise mit dem Titel „Reviergesang“ führt beileibe nicht ins Ruhrgebiet, sondern zu einem walisischen Birdwatcher an die Chinesische Mauer.

Fernweh und Selbsterkundung
Der große Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schrieb einmal: „Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können . . .“ Und wenn’s im wirklichen Leben nicht funktioniert, so kann‘s immerhin noch in der Phantasie gelingen, könnte man hinzufügen. Selbst-Vermessungen und Fernwehverstärker liefern Ransmayrs Texte allemal. Seine Geschichten gestalten und reflektieren nicht nur die Kunst des Reisens und Erzählens, sie ermutigen dazu, im Angesicht erzählter Fremde auch sich selbst gegenüber weniger fremd zu bleiben, also – im Sinne Mitscherlichs – „ein Mit-mir-bekannt-Gewordener“ zu werden.

Siebzig Mal also hebt Christoph Ransmayr im „Atlas“ zu erzählen an mit den Worten „Ich sah“, in denen immer ein „Ich erinnere mich“, ein „Ich fand und erfinde“ mitschwingen dürften, weil der Autor darum weiß, dass man – ein Diktum Karl Kraussens abwandelnd – auch sagen könnte: Je näher ich eine Welt betrachte, desto ferner schaut sie zurück:
„Ich sah die Heimat Gottes auf 26º 28‘ südlicher Breite und 105º 21‘ westlicher Länge: eine menschenleere, von Seevögeln umschwärmte Felseninsel weit, weit draußen im Pazifik.“

Meine Lektüre der 70 Geschichten aus dem „Atlas eines ängstlichen Mannes“ ähnelte der beim Lesen sehr guter Gedichte. Denn nur solche irritieren, verstören, befragen einen selbst, eröffnen neue Horizonte, decken Vergessenes und Verdrängtes auf oder führen ganz in die Terra incognita. So oder so: Man kann jeweils nur einige wenige Texte Ransmayrs hintereinander lesen – zu berührend, packend oder auch intim ist die Begegnung mit jedem einzelnen Text, dem vom Reisen, Wahrnehmen, Spracherkunden geschliffenen Vokabular und der von vielerlei Sprachen bereicherten Syntax und Bildlichkeit. Nur Schritt für Schritt lesend ergibt sich Möglichkeit um Möglichkeit, andere Welten zu sehen und die Welt anders zu sehen.

Ich reiste, sah und wollte nie siegen…
Gelegentlich sprach die Kritik von Ransmayrs „Atlas“ als einer „Schule des Sehens“. Ich würde den „Atlas“ gerne eine „Ermutigung zu schauen“ nennen, eine Ermutigung zu stehen, gehen, reisen, sich die Zeit zu nehmen, mit „gedehntem Blick“ (Wilhelm Genazino) einen Menschen, einen Ort oder Augenblick in seiner Tiefe wahrzunehmen und ihn sprachlich zur Entfaltung zu bringen.
Christoph Ransmayr beschrieb Facetten dieser Haltung in einem Interview so: „Wenn man sich denn auf den Weg macht in das Fremde, dann habe ich immer versucht, mit den Augen der Menschen zu sehen, die mich dort erwarten.“  In Abwandlung des ersten Satzes aus Ransmayrs Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ könnte man ergänzen: „Er reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern größer. So groß, dass sie ihn schließlich wieder und wieder verwandelte bis ihm auch die Welt selbst als eine immer sich neu verwandelnde erschien.“

Keine Sackgasse: Vom Glück nebenan
Dass es zur Kunst oder zur Dialektik des Reisens und des Erzählens davon gehört, dass dieses Reisen jederzeit scheitern kann, münden kann in Verlassenheit, Einsamkeit, Elend, Angst – das versteht sich von selbst. Doch immerhin öffnet sich auch der Horizont dafür, dass Reisen glücken kann, wenn man mit einer nicht-missionarischen, einer offenen Haltung reist, zu der auch die Ängstlichkeit gehört als „Spielform der Vorsicht“ – wie Christoph Ransmayr im Interview sagte, als Bewusstsein von der Zufälligkeit, Fragilität und Vergänglichkeit, dessen was ist. Ransmayr sagt zu diesem Glücken des Reisens: „…auf jeder Reise, die den Namen dazu verdient, gibt es einen Punkt, an dem mich nichts mehr weiterdrängt – oder gar –treibt –, sondern an dem ich sage: Jetzt bin ich hier und besser als hier kann es nicht sein. Und wenn es so einen Punkt gibt, dann sage ich, jetzt bin ich angekommen, jetzt bin ich da. Und so einen Punkt kann es theoretisch auf jeder Reise, auf jedem Fußweg geben.“
„Die andere Kultur“ ergänzt er, „ kann dabei auch in der nächsten Gasse auf einen warten und fremd und unverständlich und exotisch sein. Das ist ja keine Frage großer Entfernungen oder Gefahren.“

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