Nur reiche Länder können den Künstler als Lebensentwurf in größere Zahl erlauben. Nie wurde das in den vergangenen Jahrzehnten so deutlich wie in der aktuellen Krise.
Theater? Geschlossen. Kinos, Clubs, Opernhäuser und Museen ebenso. Konzerte und Lesungen finden zurzeit nicht statt. Kultur erleben die Menschen natürlich trotzdem, nur nicht live. Streamingdienste boomen, Musik und Filme stehen in noch vor wenigen Jahren unvorstellbarem Maße und zu niedrigen Preise zur Verfügung. Bücher erscheinen, neue Computerspiele kommen auf den Markt.
Auch in der Krise zeigt sich der Vorteil in einem reichen Land zu leben: Die Subventionen für die staatlichen und städtischen Theater laufen weiter, bei der freien Szene wird es langsam eng, aber die Länder und Städte haben auch hier große Summen zur Unterstützung bereitgestellt. Könnte es mehr Geld sein? Natürlich, es könnte immer und für jeden zu jeder Zeit mehr Geld sein, aber wenn wir am Ende der Krise alles zusammenrechnen, werden wir auch für den Kulturbereich auf Summen kommen, die mehr als beachtlich sind.
Und dass die Menschen Bücher und Computerspiele kaufen und Abos bei Spotify und Netflix abschließen können liegt daran, dass es sehr vielen in diesem Land gut geht, Nach einem Boom von fast zehn Jahren ist die Beschäftigungsquote hoch, automatische Stabilisatoren wie das massiv ausgeweitete Kurzarbeitergeld sichert sowohl Arbeitsplätze als auch Einkommen. Der Staat, Bund, Land und die Städte, verschulden sich massiv, um all das bezahlen zu können. Auch das können sie nur, weil es in den vergangenen Jahren ein ordentliches Wachstum gab, Wohlstand geschaffen und halbwegs vernünftig gehaushaltet wurde.
Der Wohlstand wurde nur zu einem sehr geringen, wenn man ehrlich ist nahezu unbedeutendem Teil, von denen geschaffen, die sich als Künstler im engeren Sinne verstehen und seit Monaten darauf pochen, auch systemrelevant zu sein. In der Kreativwirtschaft war es vor allem der Softwarebereich.
Die Künstler, die vor allem im Westen oft eine Lebensform darstellen, die sich, wie in Bereichen wie Theater oder Oper, wirtschaftlich sogar vom Publikum unabhängig gemacht haben und vom Staat alimentiert werden, leben von der Wirtschaftsleistung anderer Branchen. In Deutschland ist das vor allem die exportierende Industrie aber auch Dienstleistungsbrachen wie Software und Versicherungen.
Die Kunst ist also in weiten Teilen nicht in der Lage, ihre eigenen wirtschaftlichen Grundlagen sicherzustellen. Sie lebt davon, dass andere Waren und Dienstleistungen produzieren, die soviel Wachstum erzeugen, dass auch für sie etwas übrig bleibt. Vielen Künstlern scheint das nicht ganz klar zu sein. Die meisten von ihnen, mit denen ich mich unterhalte, sind sehr selbstbewusst und von ihrer Arbeit überzeugt, was ja eine gute Sache ist. Allerdings sind sie auch davon überzeugt, dass alleine die Tatsache ihrer künstlerischen Tätigkeit Grund genug ist, sie zu bezahlen. Etliche, die sich heute über die eigenen wirtschaftlichen Probleme beklagen, die ohne Zweifel hart sind, zeigten, als sich bereits im vergangenen Jahr die Krise der Automobilindustrie andeutete und es klar war, dass es zu massiven Entlassungen kommen würde, für die Betroffenen in der Industrie wenig Empathie. Die würden ja ohnehin nur etwas herstellen, was klimaschädlich ist und in Zukunft keine mehr braucht. Wenn sie ihre Jobs verlieren, könnten sie ja was anderes, gesellschaftlich sinnvolles, machen. Als das Schauspielhaus Bochum 2014 angesichts des Ende von Opel die Aktion „This is not Detroit“ startete, wurde Urban Gardening als eine alternative Form des Wirtschaftens vorgestellt. Meine Phantasie reicht nicht aus, mir den Schrei der Empörung vorzustellen, wenn heute jemand Künstlern in wirtschaftlichen Schwierigkeiten raten würde, jetzt damit zu beginnen, Tomaten im Hof zu züchten.
Auch an den Fridays for Future Demonstrationen nahmen viele Künstler teil. Ein Ziel des Klimastreiks war die Beendigung einer Wirtschaft, die auf Wachstum ausgerichtet ist. Vielen Künstlern dürfte nicht ganz klar gewesen sein, dass sie, wenn dieses Ziel umgesetzt werden sollte, wirklich damit beginnen können, Tomaten zu züchten. Denn Künstler als Lebensform ist ein Luxus, den sich nur sehr reiche Gesellschaften leisten können.
Wenn dank der Impfstoffe, die hoffentlich in den kommenden Monaten in immer größerer Zahl zugelassen werden, die Coronapandemie beendet sein wird, können Bund, die Länder und die Städte die massiven Kosten der Krise und die aufgenommenen Schulden nur halbwegs ohne große soziale Brüche abbauen, wenn die Wirtschaft stark wächst. Wenn nicht, werden wir alle die Bedeutung von Begriffen wie Inflation oder Deflation näher kennenlernen. Und wenn das Wachstum nicht herausragend sein wird, werden es die Künstler mit als erste zu spüren bekommen. Denn umso schwächer die Wirtschaft wächst um so härter wird gespart werden müssen. Schulen werden sicher nicht aus Finanznot geschlossen, bei freien Theater kann das ganz schnell gehen. Mit der wirtschaftlichen Kraft stirbt die Kultur – die Bedeutung des Satzes werden in der nahen Zukunft viele Menschen, die sich als Künstler verstehen, lernen.
Ende Oktober veröffentlichte Mario Thurnes auf diesem Blog den Artikel „Mit der wirtschaftlichen Kraft stirbt die politische Kultur„. Er brachte mich auf die Idee zu diesem Text. Vielen Dank.
Tomaten machen nicht satt. Kartoffeln wären angemessener.