Lassen sich Holocaust und Kolonialismus gemeinsam erinnern, die Verbrechen des Antisemitismus und die des Rassismus? „Multidirektionale Erinnerung“, das Buch von Michael Rothberg, wird als „revolutionäre Theorie“ gehandelt. Und dann das.
„Wie hat er uns die Augen geöffnet.“ Aleida Assmann über Michael Rothberg und dessen Einsicht, dass sich Erinnerung vielseitig zusammensetze: „Er hat uns herausgeholt aus einer Mentalität des Denkens, wo eine Erinnerung gegen die andere antritt“, berichtet die Koryphäe der Erinnerungsforschung. Bis 2009, als das Buch des kalifornischen Professors für Literaturwissenschaft [1] in den USA erschien, habe man in ihren Kreisen einen „Kampf der Erinnerungen“ geführt „im Sound des Kräftemessen und der gegenseitigen Auslöschung.“ Dann aber habe Rothberg es ihnen allen ermöglicht, dass „man sich diese globale Ikone des Holocaust aneignen kann, um seine eigene Geschichte besser zu formulieren“.
So schlecht, wie Assmann ihr Lob formuliert, ist das Buch nicht. Augen öffnet es allerdings auch keine, allenfalls Wege. Sie sollen – das ist Rothbergs eigentliches Thema – von seiner Disziplin, der Holocaust-Forschung, hinüber zu den Postcolonial Studies führen, die hätten zum Holocaust „bisher nicht viel zu sagen gehabt“, schreibt er, weil sie sich „auf alltägliche Formen von Gewalt“ konzentrierten. Mit seiner Studie wolle er „Fragen extremer Gewalt“, wie sie sich in der Holocaust-Forschung stellten, mit dem postkolonialen Diskurs verbinden – und zwar „erstmals“.
Das sei, schreibt Micha Brumlik zwölf Jahre später, denn doch „revolutionär“.[2] Dass man jetzt „multidirektional“ erinnern müsse, weil alles andere „provinziell“ sei, diese Rothbergsche Forderung geisterte erstmals im Sommer 2020 durchs Feuilleton, die Mbembe-Debatte lief heiß. Angestoßen von den Ruhrbaronen, ging es dabei zunächst um Achille Mbembe, den BDS-Supporter, der sich darin gefiel, Israel mit grotesken Vergleichen zu überziehen.
Lorenz Deutsch, FDP-Abgeordneter im Landtag NRW, nahm den Beitrag von Stefan Laurin auf und als weiteren Vorwurf hinzu, dass Mbembes Vergleicherei den Holocaust relativiere. Was sicherlich zutrifft, nur sind es zwei verschiedene Themen, fortan wurden sie pausenlos verrührt, als liefe ein Film mit Untertiteln ab: Auf dem Bildschirm die Frage, ob man Israel mit Apartheid vergleichen dürfe, im UT stand, man müsse den Holocaust mit anderen Gewalttaten vergleichen.
Tatsächlich bedient Rothbergs Buch dieses Themen-Hopping und das nicht zu knapp. Seine Erinnerungsforschung, lässig global orientiert, landet zuverlässig in „Israel“ und nirgends sonst [3], die deutsche Ausgabe wird mit dem Codewort „Israel“ gerahmt: Gleich auf der ersten Seite – in einem eigens für die deutsche Ausgabe geführten Interview – erklärt Rothberg, er sei selber „dazu erzogen, Israel unkritisch zu unterstützen und seine ‚arabischen Nachbarn‘ zu fürchten“, er wisse mithin, wie mühsam es sei, sich aus einer „vorurteilsbehafteten Weltsicht“ zu befreien. Auf den letzten Seiten preist er das politische Potential seines Konzepts an, wieder geht es – „man nehme etwa“ – allein um Israel. Multidirektional? Ist da gar nichts.[4]
Aber wie gesagt, Rothberg absolviert seinen Antrittsbesuch bei den Postcolonial Studies, „Israel“ ist das Codewort, das wie eine Klingel funktioniert. Nein, eher wie ein Mitbringsel, Israel als Give away.
Und doch gibt es starke Passagen in Rothbergs Studie, die zu lesen lohnen. Und es gibt, was man geraderücken sollte, nämlich was Rothberg aus Hannah Arendt macht, das wird hier später mal Teil II.
„Kulturelle Muster, die alle Arten von Menschen betreffen“
Was das Vergleichen angeht, hat sich Achille Mbembe immer generös gezeigt. Im Düsseldorfer Schauspielhaus etwa erklärte der Professor für Geschichte, verglichen mit dem Holocaust gebe es heute mehr Vernichtungslager als je zuvor, „most of them in Europe, there are here“.
Dergleichen ist weit unter Rothbergs Niveau, der Mbembe dennoch verteidigt hat mit dem Argument, alle Erinnerungskulturen entwickelten sich dialogisch, nämlich „durch Anleihen, Aneignungen, Gegenüberstellungen und Wiederholungen anderer Geschichten“ und eben auch durch „wütende Konflikte“. Das gelte gerade auch für die Erinnerung an den Holocaust, seine Studie zeige dies anhand „ausführlicher Analysen vieler Schlüsseltexte“:
Einer dieser Texte stammt von dem US-amerikanischen Soziologen W.E.B. Du Bois, einem renommierten US-Bürgerrechtler, der Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland studiert und Bismarck schätzen gelernt hatte, weil dieser, der Reichskanzler, es geschafft habe, aus einer – wie Du Bois es formuliert – „Masse sich zankender Völker“ eine gemeinsame Nation zu formen. 1949 besuchte Du Bois das von eben diesen Deutschen zerstörte Warschau und hier auch das zerstörte Ghetto, eine Steinwüste, in der nichts stand außer jenem Denkmal, das Nathan Rappaport ein Jahr zuvor geschaffen hat, um an den jüdischen Aufstand gegen die Nazis zu erinnern:
„Nach und nach“, so Du Bois, „betrachtend und lesend, rekonstruierte ich die Geschichte dieses außergewöhnlichen Widerstands …“
Zwei Jahre zuvor hatte er noch erklärt, die Nazis hätten nichts getan, „dessen sich die christliche Zivilisation Europas nicht längst in ihrem Umgang mit Schwarzen in allen Erdteilen schuldig gemacht hätte“. Jetzt, tief beeindruckt, liest er Rapaports Denkmal so, dass es nicht allein um Hautfarbe gehe, nicht um religiöse oder soziale Unterschiede, sondern um „kulturelle Muster, die alle Arten von Menschen betreffen“:
“The race problem in which I was interested cut across lines of color and physique and belief and status and was a matter of cultural patterns, perverted teaching and human hate and prejudice, which reached all sorts of people …“
Und das ist Rothbergs Punkt: dass die Bereitschaft, sich einzudenken in das Leiden anderer und deren Fähigkeit, dem Unrecht zu widerstehen, keine Enteignung bedeute, sondern der Gedenkakt selber sei. Solches Gedenken zeige, so Rothberg, „wie die Geschichte und die Erinnerungen des Anderen für einen selbst eine Quelle der Erneuerung und Umgestaltung sein können“.
„Stalin was a great man“
Bei Du Bois lief diese Erneuerung und Umgestaltung so ab: Seinen Text über das Warschauer Ghetto veröffentlichte er 1952, ein Jahr darauf, als Stalin starb, erklärte er:
“Joseph Stalin was a great man; few other men of the 20th century approach his stature … he first set Russia on the road to conquer race prejudice and make one nation out of its 140 groups without destroying their individuality.”
Also: Stalin habe Russland gelehrt, rassistische Vorurteile zu überwinden und – hier kehrt es wieder, jenes Lob, das Du Bois auch Bismarck ausgesprochen hat – eine gemeinsame Nation zu bilden aus 140 Gruppen, deren Individualität unverletzt geblieben sei.
Was eine Huldigung. Stalin als fast schon postmodernes Ideal, man ist versucht, Stal*in zu schreiben.
Als Du Bois sein Gloria auf diesen Mann verfasste, wusste er, dass dieser die Enteignung, Deportation und Exekution von mehr als 2 Millionen Kulaken angeordnet hatte, eine wesentliche Ursache für den Holodomor in der Ukraine, den Hungertod von Millionen Menschen Anfang der 30er Jahre.
In seiner Eloge auf den Diktator zwei Jahrzehnte später – ein Jahr nach seinem Besuch des Warschauer Ghettos – erklärt Du Bois hingegen eisern, Stalin habe lediglich „Blutsauger“ rausgeworfen, „drove out rural bloodsuckers“.
Wie lässt sich ein solcher – nennen wir es – Spagat verstehen? Dass einer tiefes Mitgefühl entwickelt für das Leiden anderer und im nächsten Moment ungerührt Millionen Menschen aussortiert?
Rothberg erklärt dies nicht, er erwähnt dies alles nicht, eine verschämte Fußnote deutet es vage an. Stattdessen rückt er den historischen Moment ins Bild: Kalter Krieg, die McCarthy-Ära läuft an, in den USA müssen sich jüdische und afroamerikanische Intellektuelle positionieren, während in Afrika und Asien der Kampf um die Dekolonisierung tobt und sich in Europa ein Ostblock formiert, der diesen Kampf scheinbar stützt, aber den Hass auf Juden erneut staatlich organisiert …
Wie Rothberg das erzählt, ist nicht eben flüssig, dennoch stark. Ein Gewirr von Loyalitäten und Erfahrungen, der Einzelne darin verstrickt. [5] Gerade in einem solchen Gewirr, so Rothberg, sei Du Bois‘ Reaktion auf das Warschauer Denkmal ein „paradigmatisches Beispiel“ dafür, wie die Erinnerung an das, was andere erlitten, in „Grenzgebiete des Denkens und der Geschichte“ führen könne.
Und die Sache mit Stalin?
Neun Jahre nach seinem Besuch des Warschauer Ghettos – das sind fünf Jahre nach Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Untaten, fünf Jahre auch nach dem ungarischen Freiheitskampf, den wiederum Chruschtschow zusammenschießen ließ – trat Du Bois der kommunistischen Partei bei.
Erinnern ist nicht-identitär
Warum erwähnt Rothberg das alles nicht? Ist auch er, was er Du Bois attestiert, nicht „gänzlich frei von Taktik und politischem Kalkül“? Will er die postkolonialen Linken, deren Diskurse auf Identität geeicht sind, nicht schon beim Einstandsbesuch überfordern?
Mag sein, aber auch so wird klar, was Rothberg am Text von Du Bois zeigen will: dass es das, was die Postcolonial Studies voraus setzen – dass es eine „direkte Verbindung von Erinnerung und Identität“ gebe – so gar nicht gibt. Dass Du Bois, der sich mit dem jüdischen Widerstand identifiziert, stattdessen ein Beispiel ist dafür, wie unverhofft man seinen Sprechort wechseln kann.
Und letztlich auch, dass Du Bois, der Stalinist, erst recht ein Beispiel wäre dafür, dass man seinen Sprechort in alle Richtungen – also: multidirektional – verlassen und auf alle möglichen Positionen überwechseln kann. Dass es nicht einmal mehr verschiedener Perspektiven bedarf, um multiperspektivisch zu erinnern, es wandert alles im eigenen Kopf.
Anders gesagt: Was Rothberg als multidirektionales Erinnern beschreibt, ist nicht-identitär.
Das sagt er so nicht, er arbeitet diese Einsicht heraus und hält sie verlegen kurz. So auch bei seinem nächsten Beispiel, es bildet das Herzstück seines Buches, auch da stellt sich die Einsicht heimlich ein:
Frankreich 1961
Wieder entfaltet Rothberg ein weites Panorama: Von April bis Dezember steht Eichmann in Jerusalem vor Gericht, der Prozess wird weltweit wahrgenommen; am 17. Oktober werden mitten in Paris mehr als 200 Algerier ermordet, als sie friedlich gegen das französische Kolonialregime in Algerien demonstrieren; angeordnet worden war das Massaker vom Polizeipräfekten der Stadt, Maurice Papon[6], vormals verantwortlich für die Deportation französischer Juden in die Lager der Nazis, ein Eichmann en miniature.
In der Figur dieses Papon verdichten sich Holocaust und Kolonialregime auf obszöne Weise, zeitgleich tun sie es in kulturellen Artefakten auf ästhetisch hohem Niveau: Rothberg zeigt dies am Beispiel des Films Chronik eines Sommers von Jean Rouch und Edgar Morin, „einem verkannten Vorläufer von Claude Lanzmanns Opus Shoah“, und an den ersten Publikationen von Charlotte Delbo, die als Mitglied der Résistance nach Auschwitz und Ravensbrück deportiert worden war.
Wenn man sich nun vorstellt, dass dieser ästhetisch politisierte Sound der Erinnerung eingebettet war in eine enorm wache Öffentlichkeit, geprägt von imposanten Stimmen wie denen von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, die seit Jahren gegen Frankreichs Regime in Algerien angingen und im Sommer 1961 Frantz Fanon trafen, dessen Werk Die Verdammten dieser Erde – Urtext der antikolonialen Befreiungsbewegung – sieben Wochen nach dem Massaker in Paris erschien und Sartre ein sehr bald legendäres Vorwort dafür geschrieben hat und …
Und dann? Wird das Massaker vom 17. Oktober zügig vergessen:
„Als neun linke französische Demonstranten und Demonstrantinnen am 8. Februar 1962 während einer (…) antifaschistischen Kundgebung in der Metro-Station Charonne von der Polizei ermordet wurden, schien das Massaker an den Algeriern und Algerierinnen endgültig aus dem Bewusstsein der Franzosen und Französinnen getilgt“, so Rothberg: „Charonne, und nicht etwa der 17. Oktober, wurde zum Symbol für Polizeigewalt während des Algerienkrieges …“
Frankreichs Linke setzt ihren eigenen Narrativ durch, sie schiebt die Ermordung von 200 Algeriern ins Vergessen ab. Offenbar war sie – in Rothbergs Sprache – „kompetitiv“, also auf Wettbewerb gepolt und nicht bereit, „ausschließliche Ansprüche auf die ultimative Viktimisierung oder den Besitzanspruch an Leiden aufzugeben“.
Und das wäre doch jetzt der Punkt, darüber nachzudenken, wie das geschehen konnte. Und was dieses Vergessen mit der Erinnerung an den Holocaust zu tun haben könnte. Wieder aber springt Rothberg aus der Geschichte raus, er folgt seiner Erinnerungsspur in den „‘Untergrund‘“ [7], während auf den Straßen ein anderer Film anläuft, eine Holocaust-Maskerade:
„Wir sind alle deutsche Juden“
Alain Finkielkraut – den Rothberg völlig ignoriert – hat in Der eingebildete Jude beschrieben, was im Mai 1968 geschieht, als in Paris Tausende auf die Straße gehen, um gegen das Aufenthaltsverbot zu protestieren, das der Staat über Daniel Cohn-Bendit verhängt hat, den Wortführer der studentischen Revolte. Die spontan skandierte Parole: „Wir sind alle deutsche Juden“.
Und Finkielkraut? Hat das Gefühl, er wohne seinem eigenen Verschwinden bei. Als sei es ab nun „jedem Kind der Nachkriegszeit“ erlaubt, „sich den gelben Stern anzustecken“.
Gleichzeitig erkennt er sich selber in den Demonstranten wieder, in dieser „Generation des Wir-sind-alle“, die, von der Fadheit ihres Lebens genervt, offenbar glaube, „über sämtliche großen Unterdrückten in Gegenwart und Geschichte verfügen zu können“, ohne jemals in die Verlegenheit zu kommen, deren Schlachten tatsächlich zu schlagen. Sich mit ihnen, den „großen Unterdrückten“ zu identifizieren, den toten Juden und dann mit Frantz Fanon und Malcom X, mit Che Guevara und Ho Tschi Minh, beschere „fiktive Intensitäten“, so Finkielkraut, sei aber letztlich nur eine „pathetische, demonstrative und leere Affirmation“.
Haben die Postcolonial Studies also recht, wenn sie solche Identifizierungen heute als Kulturelle Aneignung markieren?
Das Barbie-Setting
Nun, wieder geht die Geschichte weiter, und abermals ist es nicht Michael Rothberg, der sie erzählt, sondern Alain Finkielkraut, diesmal in Die vergebliche Erinnerung:
1983 steht Klaus Barbie in Frankreich vor Gericht, Barbie war Gestapo-Chef in Lyon gewesen mit dem Ruf eines Schlächters, dann im Dienst diverser lateinamerikanischer Juntas, in Frankreich zweimal in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Seine Verteidigung jetzt finanziert François Genoud, Nazi-Vertrauter, Nazi-Fluchthelfer und Nazi-Nachlassverwalter, der seinerseits drei linkspolitische Verteidiger engagiert mit divers-postkolonialem Background: algerisch, kongolesisch, vietnamesisch.
Deren Verteidigungsstrategie besteht darin, dass sie, so Finkielkraut, „als Abgesandte der nicht-weißen Menschheit“ auftreten und sich selber zu Sprechern von Milliarden Menschen erklären. Für diese – damals Tiersmondisme, heute globaler Süden – sei der Holocaust nicht mehr als ein Familienzwist unter Weißen, die Ermordung von Juden innerhalb Europas eher unbedeutend verglichen mit der Ermordung von Nichtweißen außerhalb Europas. Und ähnlich unbedeutend verglichen mit dem, was die – so Barbies Verteidiger Nabil Buaita – „nazifizierten Israelis“ heute den Palästinensern antun würden: Der Schlächter von Lyon? Ein Kavalier, ein paar Delikte. Kein Vergleich, so Buaita, mit „israelischen Schlächtern“.
Wenn man verstehen will, was hier zum ersten Mal passiert, muss man sich das Setting vor Gericht vorstellen: auf der einen Seite der Nazi samt Finanzier, daneben die politische Linke samt postkolonialem Engagement, ihnen gemeinsam die Fähigkeit, multidirektional zu erinnern: Sie sind es, die das Leiden anderer in den Zeugenstand rufen.
Ihnen gegenüber sitzt … wer sitzt da noch? Außer die Juden.
Nur findet sich niemand mehr, der sich ihnen und ihrer Erinnerung so mitfühlend zuwenden würde wie Du Bois es einmal tat. Stattdessen ein Maskenball, man gibt selber die Rolle des verfolgten Juden, erste Maske, mimt die Stimme des globalen Südens, zweite Maske, erkennt in den eben noch verhassten Nazis die neuen Verbündeten im Freiheitskampf, dritte Maske, und schon lassen sich die eben noch verfolgten Juden als die wahren Nazis denunzieren, viertes Reich.
„Deckerinnerung“
Dies alles – Barbie, das Bündnis, die neue Sitzordnung – kümmert Rothberg nicht, er erwähnt es nicht, er richtet sich in der neuen Sitzordnung ein: Was Finkielkraut als „Maskerade“ entlarvt hat, wird Rothberg zur „Deckerinnerung“.
Damit meint er, dass sich die Erinnerung an eine Gewalterfahrung wie eine Decke über eine andere Gewalterfahrung lege, die noch gewaltsamer, noch traumatischer sei. Im Postkolonialismus wird diese äußerst fragwürdige These [8] gerne bemüht, da ist es die Erinnerung an den Holocaust, die alle Untaten des Kolonialismus verdecke, womit zwei Dinge auf einen Schlag erledigt scheinen: erstens die Frage, wer eigentlich verantwortlich sei dafür, dass koloniale Verbrechen vergessen würden; zweitens, dass diese Verbrechen, weil vergessen, eben darum viel verstörender und weil verstörender, viel gewaltvoller gewesen seien.
Klassischer Zirkelschluss. Rothberg stimmt dieser Psycho-Trope tatsächlich zu, möchte ihr aber ein „neues Verständnis“ spendieren: Die Erinnerung an den Holocaust, schreibt er, verdecke andere Erinnerungen, das ja, ermögliche sie aber zugleich. Holocaust-Erinnerung könne, „was unterdrückt worden ist, sowohl verbergen als auch zeigen“, könne Verbindungslinien knüpfen als auch kappen, brächte zum Sprechen wie zum Schweigen, decke zu und decke auf …
Einzigartige Fähigkeiten, sollte man meinen, Rothberg erklärt den Holocaust zum Ur-Meter des Erinnerns – nur um sich im nächsten Moment darüber zu echauffieren, falls es tatsächlich zum Maß der Dinge wird, das nennt er „Sakralisierung“.
Eben noch staffiert er das Erinnern an den Holocaust mit der – haben Querdenker es nicht geahnt? – wirklich erstaunlichen Fähigkeit aus, den Grenzverkehr zwischen kollektiv Bewusstem und kollektiv Unbewussten zu regeln, jetzt empört er sich darüber, dass „dem Holocaust … ein fast schon heiliger Status als einzigartiges Ereignis in der Erinnerungslandschaft“ verliehen werde, in der aktuellen ZEIT spricht er von „Fetischismus“:
Die Verbrechen des Kolonialismus, erklärt er da, würden keineswegs geleugnet, sondern „fetischhaft“ geleugnet, und bei diesem Fetisch wiederum gehe es – jetzt aber mit beiden Händen in die Tasten –
„um nicht weniger als um die Abwehr einer Debatte über koloniale Verbrechen und damit verbunden um die unkritische Rettung einer europäischen Moderne, die Sicherung einer weißen hegemonialen Position im Innern und die dominierende Stellung des ‚Westens‘ nach außen.“
Donnerlittchen. Die globale Frage ist die Judenfrage, welche Kräfte da denn am Werk sein möchten. Sucht man nach einer Antwort auf diese zweite Frage, wird es bei Rothberg dünn, einmal spricht er vom „deutschen Establishment“, das an Diskursstrippen ziehe, einmal raunt er von „bestimmten offiziellen Kreisen“, und im Rosalux-Milieu wird er fast einmal präzise, da sagt er, es handele sich um alle, die Achille Mbembe kritisiert hätten:
Diese Leute seien zwar alle durchaus bemüht, Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen, so viel gibt er einem zu, nur würden sie diese Verantwortung dann „gezielt dazu einzusetzen, um weitere Verantwortlichkeiten … zu vermeiden“.
Und schon stellt er die Stühle: Auf der einen Seite sitze, wer auf der „Einzigartigkeit des Holocaust“ beharre zusammen mit denen, die Israel vor Antisemitismus schützen, auf der anderen Seite, wer sich als Opfer des Kolonialismus sehe zusammen mit denen, die für die Rechte der Palästinenser streiten.[9]
Da ist es wieder, das Barbie-Setting. Auf der einen Seite Holocaust plus Israel, auf der anderen die anderen.
In dieser Sitzordnung finden sich, sie ist übersichtlich, auch rechte Revisionisten zurecht, endlich haben sie – so zuletzt Felix Stephan in der SZ – einen „deutungsstarken Verbündeten ausgerechnet in der internationalen, linken, postkolonialen, akademischen Klasse“ gefunden. Das sei „nicht ohne Ironie“, so die SZ, aber Rothberg würde da ja nun „einen Ausweg bieten“.
Nein, tut er nicht. Kaum wendet er seine „multidirektionale Erinnerung“ an, stellt sich die alte Sitzordnung her, Rothberg schleppt die Stühle selbst herbei: Letzte Woche erst hat er die „Jerusalemer Erklärung“ signiert, eine Art Freifahrtschein dafür, Israel ungehemmt zu denunzieren, jetzt spricht er von „Fetischismus“ eben da, wo Gauland von „Vogelschiss“ doziert.
In diesem Barbie-Setting, von Rothberg multiperspektivisch eingerichtet, wird es nie und nimmer um die Verbrechen gehen, die in kolonialen Systemen verübt worden sind – und sie sind kolossal, diese Verbrechen, sie aufzuarbeiten ist überfällig, dass dies so schleppend geschieht, hat mit dem Holocaust überhaupt nichts zu tun, wohl aber damit, dass es die Postkolonialen selber sind, die sich auf den Holocaust fixieren, um über eine „Fixierung auf den Holocaust“ zu lamentieren – in diesem Barbie-Setting wird es immer um die Juden gehen, die toten, und die „nazifizierten“.
So ein dickes Buch und dann das.
[1] Michael Rothberg ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of California, dort hat er auch den Lehrstuhl für Holocaust-Studien inne als Nachfolger von Saul Friedländer, dessen Arbeiten bahnbrechend sind darin, dass und wie sie literarische Quellen – die Stimmen der Opfer – als konstitutiven Teil der Geschichte des Holocaust einbinden. Diese Arbeit, ließe sich sagen, führt Rothberg einen generationellen Schritt weiter, und mit dem Übergang auf die Generation der Nachgeborenen – Friedländer ist Zeitzeuge – wechseln die Holocaust-Studies ihre Fakultät, Geschichte geht über in Literatur: „Multidirektionale Erinnerung“, stellt Rothberg klar, „handelt von der Erinnerung an den Holocaust – nicht von der Historie, die zum Massenmord an den Juden Europas führte.“
[2] Anders Claudius Seidl in der FAZ, er fragt sich konsterniert, ob wir uns jetzt darauf einigen sollen, „dass so etwas wie der Holocaust ‚häufiger‘ vorkomme? Sollen die Leute in Israel sich anhören, dass ihr Sicherheitsbedürfnis übertrieben sei; andere Völker hätten doch auch üble Erfahrungen gemacht?“ Auch Thomas Schmid in der WELT (auf Schmid.Welt ohne Paywall) reagiert ratlos: „Man soll auf Wechselwirkungen, Kopplungen und Verflechtungen achten, alle Leidenserfahrungen miteinander verknüpfen. Wie aber soll das vor sich gehen? Dazu schweigt Rothberg. Genauer: Er tut so, als sei der Appell zur Tat schon die Tat. (…) Statt eine Geschichte zu erzählen und sie dann zu deuten, beginnt er jedes Kapitel mit einer seitenlangen Deutung und Konklusion, um dann erst auf die eigentliche Geschichte einzugehen.“ – Ähnlich Stefan Klävers in „Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung“: Bei Rothberg sei „nicht ganz ersichtlich, ob seine Theorie nun eine deskriptive Analyse oder ein Desiderat (Wunsch- oder Sollvorstellung; thw) darstellt“.
[3] „Die permanente palästinensisch-israelische Krise (bleibt) der andere dominierende politische Schauplatz multidirektionaler Erinnerung“ neben dem „Krieg gegen den Terror“: Den allerdings erwähnt Rothberg eingangs 1 x und nie wieder.
[4] Es könnte an der Materialbeschaffung liegen, Google-Test: Gibt man „Warsaw Gaza“ ein, kriegt man seitenweise miese Vergleiche, bei „Warsaw Aleppo“ gibt es Reiserouten. Wenn man die auf Israel projezierten NS-Vergleiche aussortiert, könnte Rothbergs Projekt durchaus abseitig wirken: Ist der Holocaust womöglich gar nicht das, was Assmann eine „globale Ikone“ nennt, ist er als Referenzpunkt, global gesehen, „provinziell“? – Anders Daniel Levy / Natan Sznaider in Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust.
[5] Rothbergs The Implicated Subjekt ist 2019 in den USA erschienen, mit dem verstrickten Subjekt meint er alle, die wir uns schuldlos schuldig machen und immer beides sind. Siehe dazu Elisabeth von Thadden in DIE ZEIT.
[6] Eine schöne Spekulation von Rothberg darüber, dass es Wechselwirkungen geben könnte zwischen Erinnerung und Engagement, die es in Wirklichkeit nicht gegeben hat: „Was, wenn die blutigen Pariser Ereignisse des 17. Oktober (…) die Saat für ein verspätetes Bewusstsein französischer Mitschuld an den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs säten?“ – Erst 1997 wurde Papon als Verbrecher gegen die Menschheit angeklagt und 1998 verurteilt, allerdings ohne dass das Massaker von 1961 juristisch berücksichtigt wurde. Dass zu den Verbrechen gegen die Menschheit, die Papon verübt hat, ab dato auch der Mord an antikolonialen Demonstranten zählt, ist ein Gedanke, der unabhängig vom Urteilstext überzeugt.
[7] Rothbergs Schlüsseltext jetzt: William Gardner Smith‘ The Stone Face, 1963 erschienen, dann aber „viele Jahr ignoriert“ und erst 2004 wiederentdeckt. Was denn doch mal ein methodisches Problem aufwirft: Rothberg wählt seine „Schlüsseltexte“ ausschließlich danach aus, ob sie seine These stützen. Er bietet aber kein Maß, an dem sich abschätzen ließe, welche öffentliche Relevanz ein Text entfaltet hat oder eben nicht. Das macht, dass die Textauswahl willkürlich anmutet und so dann auch die Gedankenspur, die er dank seiner Auswahl zieht: Eine Wirkungsgeschichte lässt sich auf diese Weise nicht erkennen.
[8] Die Gedankenfigur der „Deckerinnerung“ ist bei Sigmund Freud entlehnt, dann aber von der individuellen Ebene auf die kollektive übertragen, ein mehr als fraglicher Übersprung: Wenn es denn überhaupt so etwas wie eine kollektive Psyche gibt, arbeitet sie anders als die subjektive. – Felix Axster und Jana König, die das der deutschen Ausgabe vorangestellte Interview mit Rothberg geführt haben, dürften geahnt haben, dass da was scheppert: In einer ihrer Fragen erklären sie, „in Deutschland“ könne die Erinnerung an den Holocaust „kaum mit dem Begriff der Deckerinnerung in Zusammenhang gebracht werden“. Daraufhin schaltet Rothberg entspannt auf ein anderes Wort um, auf „Sensibilität“. Schon irritierend, wie gleichmütig die Bausteine einer Theorie zerwürfelt werden. Möglicherweise hat Thomas Schmid recht: „Im Grunde läuft (Rothbergs) Ansatz auf die sozialarbeiterische Plattitüde zurück: Erzähl’ du mir deine Geschichte, ich erzähle dir meine, und dann werden wir uns vertragen. Das klingt komisch, ist es auch.“ – Stefan Klävers hat die eigenartige Verwendung des Trauma-Begriffs in der Literaturwissenschaft analysiert: Klävers zufolge übernimmt Rothberg letzlich auch die Vorstellung, dass kollektive Erinnerungen keine Bedeutung aus sich selber heraus freisetzen, sondern „erst im Zusammenspiel mit anderen kollektiven Erinnerungskulturen“, was im postkolonialen Diskurs wiederum dazu führe, dass „alle kollektiven Erinnerungen gleichwertig seien und miteinander vertauscht werden können“.
[9] Der Satz im Original: „Insbesondere die Verteidigung der Einzigartigkeit des Holocaust und die Überwachung der Grenzen dessen, was seltsam genug als «Israelkritik» bezeichnet wird, tragen dazu bei, die Verantwortung für andere deutsche Gräueltaten wie den Völkermord an den Herero und Nama und allgemeiner die Beteiligung am Kolonialismus zu verdrängen und von der deutschen Verstrickung in die Enteignung der Palästinenser abzulenken.“ – Dass Rothberg daran glaubt, öffentliche Debatten inkl. Stefan Laurin würden „gezielt eingesetzt“, um anderes zu verhindern, kennt man von Aleida Assmann, sie dachte öffentlich darüber nach, ob die Debatte über Achille Mbembe nicht als „Stellvertreter-Diskurs“ angezettelt worden sei, „der uns überhaupt von anderen globaleren Weltproblemen ablenken soll“. Mindestens.
Ex post geschichtliche Wissenschaft versucht ihr ideologisch geprägtes Weltbild zu retten.
Es ist für das Unrecht dieser Welt nicht von Belang auf diese Weise ideologisch eindeutige Schuldige zu suchen, was das eigentliche Motiv dieser Forschung ist.
Letztlich verweigert der Autor und seine Gefolgsleute nur selbst die Akzeptanz der schnöden Wahrheit.
Schuldig sind immer die, die sich der Wahrheit verschließen, sei es durch Fokussierung auf Teilwahrheiten oder das sie Unwahrheiten zum Anlass nehmen sich zu ursurpieren.
Das geschieht in der Geschichte auf verschiedenste Weise und die eine übergriffige Ursurpation steht deshalb nicht in einem Zusammenhang mit einer Anderen, auch nicht aufgrund der Monströsität der Übergriffigkeit.
Letzteres ist ein ein erschreckend banales Ergebnis der Machtreichweite.
Also gut, ein farbiger US-amerikanischer Gelehrter, der Mitglied der US-KP war, in der kapitalistischen Ersten Welt lebte und sich für die Belange der blockfreien Dritten Welt, insbesondere der Länder mit farbiger Bevölkerung einsetzte, hat sich mitten im Kalten Krieg über einen gerade verstorbenen Anführer der kommunistischen Zweiten Welt positiv geäußert. Das zeigt, dass ein Gelehrter, der wahrscheinlich sowohl neugierig als auch informiert war, versagt hat, als er eine bestimmte Sorte von Verbrechen, die der Anführer der Zweiten Welt verantwortet hatte, entweder nicht zur Kenntnis nahm oder nicht verurteilen wollte. Sagt das schon etwas darüber, welche Verbrechen Rothberg zur Kenntnis nehmen will und verurteilen will? Wenn 1953 jemand in einem Punkt falsch lag, dessen akademischen und politischen Ansichten Rothberg heute würdigt, heisst das,, dass Rothberg das Versagen des Gelehrten in diesem Punkt leugnet oder ignoriert?
@ JP Rheinberg | Die Hymne von Du Bois auf Stalin – siehe hier https://www.marxists.org/reference/archive/stalin/biographies/1953/03/16.htm – ist wirklich unterirdisch, Rothberg liest es auch so. Er leugnet es nicht, ignoriert es nicht, es ist ihm eben nur eine winzige Fußnote wert. Und das wundert mich:
Du Bois würde gerade in seiner Ambivalenz – sich einfühlen können ins Leiden anderer und anderer Leid ins Schöne reden – Rothbergs Theorie stützen, dass man im eigenen Kopf "multiperspektivisch" denken kann. Warum er darauf verzichtet … vielleicht, das ist jetzt spekulativ, wollte er den Punkt, den er mit Du Bois gemacht hat – du kannst deinen „Sprechort“ wechseln, niemand ist in Identität gefangen – nicht gleich wieder relativieren. Sprechorte wechseln, um auch mal Stalinist zu werden? Das argumentiert sich schwer.
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