In keiner Stadt arbeiteten die Stadtverwaltung und Parteien so eng mit den Clans zusammen, wie in Essen. Dialog und Kooperation sollten helfen, Konflikte zu vermeiden. Das Konzept ist gescheitert.
Am 27. September 2015 hatte er es geschafft. Der Christdemokrat Thomas Kufen schlug den in einer Stichwahl den sozialdemokratischen Amtsinhaber Reinhard Paß deutlich und gewann die Oberbürgermeisterwahl in der Ruhrgebietskommune souverän mit 62,6 Prozent. Unterstützt wurde Kufen im Wahlkampf von der Familien-Union, einem Zusammenschluss der libanesischen Clans in Essen. Ein Foto vom Wahlabend zeigt Kufen wie ihm ein Mitglied der Familienunion gratuliert. Die 2008 gegründete Familien-Union setzt in ihrer Selbstdarstellung „für eine bessere Situation im Zusammenleben von Migranten, insbesondere Familien, die aus dem Libanon eingereist sind, und Deutschen“ ein. Auch sollen Konflikte friedlich gelöst und Eskalationen verhindert werden.
Die Familien-Union gehörte in Essen dazu, nicht nur bei der Wahlfeier des Oberbürgermeisters. Sie arbeitet zusammen mit der Stadt an Integrationsprojekten, distanzierte sich von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen libanesischen Familien, arbeitete in Netzwerken mit der Polizei und der Arbeiterwohlfahrt zusammen. Als mit Ahmad Omeirat ein Mitglied eines der größten libanesischen Clans 2014 einen sicheren Listenplatz bei den Grünen erhielt, war man bei der Familien-Union zufrieden. Omeirat, schrieb die Organisation seinerzeit in einer Stellungnahme, sehe „sich als Brückenbauer zwischen denjenigen, die den Weg zum anerkannten Teil der Bürgerschaft noch vor sich haben und den nicht wenigen, die das bereits erreicht haben.“
Die Zeiten sind vorbei. Essen gilt heute neben Berlin und Bremen als das Zentrum der Clan-Kriminalität. Aus dem Umfeld der Clans kamen nach einem Lagebild des NRW-Innenministeriums zwischen 2016 und 2018 2.439 Tatverdächtige. NRW-Rekord.
Und auch bundesweit sorgten die Clans aus Essen für Schlagzeilen. Der aus dem Libanon stammende Berliner Publizist Ralph Ghadban soll auch aus dem Kreis der Familien-Union nach der Veröffentlichung eines Buches über Clans in der Bundesrepublik so stark bedroht worden sein, dass er heute unter Polizeischutz steht. Eine Anfrage hierzu ließ die Familien-Union unbeantwortet.
Jedes Dritte Mitglied eine Familienclans sei kriminell, sagt ein Angehöriger einer der großen, bekannten Familien, der namentlich nicht genannt werden möchte, dieser Zeitung. Niemand würde gezwungen, kriminell zu werden, aber es sei für viele einfach eine vergleichsweise einfache Art und Weise, an Geld heran zu kommen. Die kriminellen Teile der Clans seien autoritär strukturiert, hätten auch Kontakte zur Hisbollah, weil die nun einmal ein Machtfaktor im Libanon sei, an dem man, wenn man Geschäfte machen wolle, nicht vorbeikäme. Eine fiktive Familiengeschichte soll eine alte, stolze Geschichte belegen und darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Familien eine buntgemischte Herkunft haben, die erst mit der von Atatürk erzwungenen Türkisierung zum Problem geworden wäre. Viele, die sich nicht anpassen wollten oder konnten, seien an den 20er Jahren erst in den heutigen Libanon ausgewandert und von dort aus zum Teil ab den 70er Jahren als Bürgerkriegsflüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen. „In keiner Stadt gab es eine so enge, institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen den Clans und der Politik in Essen.“
Die wurde bereits Ende des vergangenen Jahres beendet, verkündet wurde das Aus nach den Drohungen gegen Ghadban im Frühjahr. „Der Verein Familien Union e.V. spielt aus Sicht der Stadt Essen bei der Integration keine relevante Rolle mehr“, sagt Essen Oberbürgermeister Thomas Kufen auf Anfrage: „Mein Konzept heißt „Chancen bieten – Grenzen setzen“. Seit Amtsantritt verfolgen Stadt und Polizei gemeinsam die Null-Toleranz-Strategie gegen beispielsweise Clan-Kriminalität. Diejenigen, die sich nicht an Recht und Ordnung und unsere Rechtsstaatlichkeit halten, werden konsequent strafrechtlich verfolgt. Gleichzeitig möchte ich den Menschen eine Chance bieten, die sich integrieren wollen und Teil unserer Gesellschaft sein möchten – ich will ausdrücklich nicht alle Menschen über einen Kamm scheren.“
Doch Einigkeit über den Umgang mit den Clans herrscht in der Essener Politik nicht – noch nicht einmal über den Begriff Clan: „Der Begriff Clan ist in der Debatte relativ neu. Was genau ein Clan ist, ist auch noch nicht bestimmt, weswegen ich diesen Begriff auch nicht verwende. Auch wirkt er diskriminierend gegenüber den Menschen, die als solche bezeichnend werden und den negativen Folgen dessen ausgesetzt sind“, sagt Jules El-Khatib von der Linkspartei. El-Khatib sieht vor allem Versäumnisse der Politik: Fehlende Aufenthaltstitel hätten den Zugang zum Arbeitsmarkt und dem Bildungssystem blockiert. Es hätte eine Politik der Ausgrenzung gegeben: „Eine Stadt, die einst einen Ordnungsdezernenten beschäftigte, der Libanesen mit ungeklärten Staatsbürgerschaften im Libanon „aus dem Flugzeug abwerfen“ will, trägt nicht dazu bei, dass die Menschen sich willkommen fühlen.“
Für Ralph Ghadban war der Glaube der Stadt an eine Zusammenarbeit mit den Clans immer ein Fehler: „Am Anfang“, sagt Ghadban, „war es naiv. Am Ende war es Dummheit.“
Der Glaube, man könne die Probleme mit den Clans lösen, indem man sie umarmt, sei ein Ausdruck des Multikulturalismus. „Multikulturalismus ist eine reaktionäre Ideologie, die davon ausgeht, dass alle Kulturen irgendwie ok sind. Soziale Verhältnisse, Klassen, die eigentlichen Ideen der Linken, spielen da keine Rolle mehr. Es geht nur noch um irgendwelche Identitäten. Diese Ideologie ist ein Reaktion auf die Liberalisierung der Gesellschaft und gegen jede hedonistische Tendenz. Sie stellt überkommene Traditionen und Religionen über den Individualismus.“ Es komme darauf an, den Rechtstaat und die demokratischen Prinzipien zu verteidigen, nicht sie aufzugeben für eine Hoffnung auf Entgegenkommen, die sich ohnehin nicht erfüllt. Für Ghadban sind Aussteigerprogramme eine Möglichkeit, Menschen aus den Fängen der Clans zu bekommen.
Wie in ganz Nordrhein-Westfalen, geht die Polizei auch in Essen seit über einem Jahr massiv gegen Clans vor. Ignorierte die rot-grüne Landesregierung das Problem, hat es der amtierende Innenminister Herbert Reul (CDU) zu seiner Hauptaufgabe gemacht. Aus Kreisen der Clans wird Reul zum Teil deswegen Rassismus vorgeworfen. Der Grünen-Ratsherr Ahmad Omeirat äusserte in Bezug auf einen CDU-Landtagsabgeordnete im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen Clans einen Nazi-Vergleich und wurde dafür bis September von seiner Fraktion ins „Abklingbecken“ gesteckt.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Zwar führt das NRW-Innenministerium keine Statistik über die Herkunft der Opfer von Clankriminalität, aber der Linkspartei-Politiker El-Khatib sagt Medienberichten lägen nahe „dass die häufigsten Betroffenen ebenfalls libanesisch-kurdische Essenerinnen und Essener sind.“
Der SPD-Integrationpolitiker Martin Schlauch kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Die direkte Bedrohung für Essener Bürgerinnen und Bürger schätzen wir als eher gering ein, da die Clans meist „unter sich“ bleiben.“ Betroffen seien andere: „Ein besonderes Gefährdungspotenzial sehe ich für die Gruppe der Neuzugewanderten insbesondere aus dem arabischen Kulturkreis. Syrische Flüchtlinge wurden von den Clans sehr schnell als Zielgruppe entdeckt und für Botengänge, Tabakschmuggel, Drogenhandel und sonstige kriminelle Deals missbraucht. Zudem gibt es immer wieder überteuerte Mietmodelle in durch Geldwäsche erworbenen Immobilien, mit denen Flüchtlinge abgezockt werden.“
Ghadban bezweifelt das: „Anfangs, aber das ist lange her, waren die Opfer Mitglieder der eigenen Community. Aber das ist lange her. Heute geht es um Raub, Geldwäsche, und Schutzgeld. Die Mehrzahl der Opfer gehören längst nicht mehr zur libanesischen Community.
Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World