Am Montagabend habe ich die britische Insel verlassen und bin am Dienstagmorgen auf dem Kontinent angekommen. Nein, kein Fluglotsenstreik, auch kein Stau im Kanaltunnel. Richtig, ich hatte mich für die Reise mit dem Schiff entschieden. Sie dauerte dreizehn Stunden; denn die Fähre fuhr von Newcastle nach Amsterdam. Newcastle, korrekt: Newcastle upon Tyne, liegt im Nordosten Englands, fast schon an der Grenze zu Schottland. Und die „Fähre“ – nun ja, es ist schon ein Hochseeschiff mit allem Drum und Dran, ein Kreuzfahrtdampfer. Dort verbrachte ich also die Nacht vom Montag auf Dienstag. Sehr angenehm.
Von den „Krawallen“, wie man die Ereignisse in London hierzulande genannt hatte, bekam ich bis zur Abreise so gut wie nichts mit. Vielleicht weil ich mich dort online aus deutschen Zeitungen informierte und aus den Nachrichtensendungen von ARD und ZDF (Mediathek). In den Cafés und Restaurants liefen die Fernsehnachrichten der BBC oder von CNN – freilich ohne Ton, mit den Texten im Laufband. Es gab Bilder von den Unruhen in London, doch sie waren bei weitem nicht so dramatisch wie diejenigen, welche es am Montagabend zu sehen gab.
Das Dinner-Büffet auf der „King of Scandinavia“, so der Name des Schiffes, ist wirklich ausgesprochen gut. Wenn man bedenkt, wie viele Leute dort zu beköstigen sind! 1630 Kabinenplätze – das Schiff ist meist, so auch diesmal, gut belegt. Mehr als tausend Menschen müssen gewiss etwas zu essen bekommen. Na klar, die meisten Passagiere speisen nicht im „Seven Seas Restaurant“; aber einige Hundert schon. Trotzdem kein Gedränge am Büffet, eine angenehme Atmosphäre, alles sehr gut organisiert.
Die englische Küche hat bekanntlich nicht so einen besonders guten Ruf. Einmal hatten wir in einem Self-Service-Restaurant zu Mittag gegessen, das offenbar von der einfachen einheimischen, ethnisch-englischen Bevölkerung bevorzugt wird. Man kann natürlich jedes Stück Fleisch so lange in kochendem Wasser garen, bis es im Grunde nach nichts mehr schmeckt. „Just to keep the engine go“, wie der Engländer zu sagen pflegt. Die dort angebotenen Speisen waren freilich preisgünstig, und doch: die Leute hatten das Lokal freiwillig aufgesucht. Das muss auch einmal gesagt werden!
Man kann aber auch in England gut essen: beim Chinesen, beim Italiener, im Steakhouse, wer mag beim Inder; es gibt sogar französische Restaurants in Newcastle. In Newcastle war übrigens alles friedlich, keine Randale und nichts. Vor allem: keine brennenden Häuser. Dies wäre vermutlich auch kaum zu bewerkstelligen gewesen bei diesem Wetter. Die ganze Woche hatte es in einer Tour geregnet. Sie können dies ja über Google überprüfen. Kaum vorstellbar, dass unter diesen Bedingungen irgendetwas brennen kann. Oder dass irgendjemandem nach stundenlangem Street Fighting zumute wäre.
Ja, so ist England. Ein paar Meilen weg von der Insel, schon hatte es mit dem Regen ein Ende. Also raus aufs Außendeck und im Freien den Sonnenuntergang bestaunen. Dann aber ab zum Dinner (siehe oben)! Danach wollten meine beiden jugendlichen Begleiterinnen – völlig klar – in den Nightclub. Ein großer Saal mit Tanzfläche, zwei Bands spielten live – abwechselnd natürlich. Die eine eher Pop, die andere eher Rock. Sehr gute Bands; müssen natürlich berühmte Stücke spielen, die die Leute hören wollen. Die einen Sachen von Bonnie Tyler und Tina Turner, die anderen von AC/DC und Queen. Leute ab 40 aufwärts. Aus der erträumten großen Musikerkarriere war nichts geworden.
In Newcastle hatte ich sehr häufig junge Leute getroffen, die am Anfang ihrer Karriere standen. Leute so zwischen 18 und 35, die direkt nebenan von „meinem“ Hotel arbeiten. In einem riesigen Bürokomplex werden Sendungen für Sky TV produziert und vermarktet. Getroffen hatte ich sie mehrmals täglich in der „Smoking Area“, die etwa so aussah wie eine Bushaltestelle. Nur eben, dass statt der Fahrpläne dort Aschenbecher hängen. Das Rauchverbot wird in Großbritannien deutlich restriktiver gehandhabt als hierzulande, jedenfalls als (derzeit noch) in NRW.
Auf dem Schiff sieht es mit Rauchen auch nicht gerade gut aus. Das war vor sieben oder acht Jahren noch anders. So lange schon gönne ich mir bereits diesen angenehmen kleinen Trip nach Nordostengland einmal jährlich. Man gönnt sich ja sonst nichts. Auf den Außendecks ist Rauchen zwar erlaubt, aber bei diesem Wetter ab zehn Uhr abends kein ungetrübtes Vergnügen. Kalt und alle Bänke sind nass. In dem großen Nightclub ist an Rauchen freilich nicht zu denken; doch in einer der diversen kleinen Bars ist es erlaubt. Außerdem: nichts gegen Rock und Pop, laut und live und – wie gesagt – ziemlich gut. Aber ich wollte nicht nur Rauchen, sondern, weil ich ein wenig geschafft war, es auch ein wenig gemütlicher haben.
Überall auf dem Schiff hängen große Flachbildschirme, auf denen CNN oder BBC News läuft. Genau wie in Newcastle: der Ton abgeschaltet, aber man sieht ja alles und hat hier die Muße, sich die Nachrichtentexte in Ruhe zu Gemüte zu führen. Es ist Montagabend: London brennt. Okay: in London brennt es, an einem Dutzend Stellen, und zwar sehr heftig. Supermärkte, Geschäftshäuser, aber auch Wohnhäuser. Man sieht auf den Bildschirmen Flammenmeere, wie man sie sonst nur aus Kriegsfilmen oder Kriegsberichten kennt. Auf dem Schiff erfahre ich nach dem Dinner, also am späten Abend, was in London los ist. Ein jugendlicher Mob zieht plündernd und brandschatzend durch ein Dutzend Armenviertel und hinterlässt eine Spur der Verwüstung.
Auch in der kleinen Raucherbar, in der ich Asyl gefunden hatte, hingen zwei große Flachbildschirme, auf denen die News liefen. Meine beiden jugendlichen Begleiterinnen wusste ich im Rambo-Zambo-Nightclub sicher verwahrt. Ausgelassene Frauengruppen, Familien mit Kindern, junge Männer klar in der Unterzahl. Ich saß in der kleinen Bar, setzte mich an einen Fensterplatz, blickte auf das dunkle Meer, steckte mir eine Zigarette an und bestellte mir einen Whisky. Einen Shivas Regal, nicht ganz billig, gerade auf so einem Schiff. Doch man versaut sich nur die schönste Zeit des Jahres, wenn man im Urlaub ständig auf das Geld guckt.
Apropos Geld: die Kids in London – und, wie wir heute wissen – in Birmingham, Manchester und Liverpool – haben nicht nur Brände gelegt, Polizeiautos angegriffen und Flachbildschirme von den Wänden gerissen. Sie haben vor allem geklaut wie die Raben, vor allem Flachbildschirme, die originalverpackten. Aber selbstverständlich auch Dinge, die nicht niet- und nagelfest sind. „Gehen wir erst in einen Elektromarkt oder in einen Body-Shop“, fragt ein Girl ihre Freundin, beide etwa so alt wie die beiden mir anvertrauten Schutzbefohlenen. Meine Mädels hatten sich in Newcastle und im benachbarten Gateshead mit genau dieser Frage immer wieder herumschlagen müssen. Sie jedoch mussten nichts mitgehen lassen, weil sie das meiste ohnehin haben. Zur Not konnten sie bei mir ganz legal Geld abgreifen.
In der kleinen Bar sang der Liedermacher mit dem Cowboyhut, der mit uns gemeinsam im Bus zum Ferry-Terminal gefahren war, englische Songs und spielte dabei auf einer akustischen Gitarre. Ach, Liedermacher – die Lieder hatte er freilich nicht gemacht, aber Sie merken an diesem – vielleicht nicht ganz zutreffenden – Begriff, um welche Musik es sich handelt. „Streets of London“ zum Beispiel – wunderschön! Der sympathische Typ hat eine schöne Stimme und kann auch was auf seiner Gitarre. Das kann nicht jeder, aber eben doch ziemlich viele. Deshalb ist seine Arbeit – genau wie die der beiden Bands, die den Nightclub rocken – nicht besonders viel wert.
Auch die Arbeit dieser jungen Medienprofis, mit denen ich vor dem Hotel in Newcastle zu rauchen pflegte, ist – obgleich bitter nötig, so doch – ziemlich billig. Sie arbeiten für Sky TV, das ist die Sendergruppe, für die sich Murdoch so brennend interessierte. Aber die Produktions- und Marketingfirma, bei der die jungen Berufseinsteiger einen Arbeitsvertrag haben – nicht Hunderte, sondern Tausende – ist eine Outsourcing Gesellschaft. Zeitverträge, miese Löhne, extreme Arbeitszeiten. Es sei schon vorgekommen, erzählte einer, dass beginnend morgens um neun die ganze folgende Nacht durchgearbeitet worden sei. Job around the clock. Immerhin, man hat einen Job. Aller Anfang ist schwer.
„So how can you tell me, you’re lonely. And say for you that sun don’t shine? Let me take you by the hand and lead you through the streets of London. Show you something to make you change your mind.” Was für ein wunderschöner Song, Streets of London! Ich nippe an meinem Chivas Regal und spüre, wie ich entspanne. „In our winter city the rain cries a little pity – for one more forgotten hero and a world that doesn’t care.” Wie traurig, wie schön! Der Sänger freut sich über den von Herzen kommenden Applaus, gespendet von Leuten meiner Sorte, die sich genauso freuen wie ich. Weiter geht es mit „Blackberry Way“, damals 1968, von „The Move“. Der Brombeerweg ist vermutlich nur noch den Älteren bekannt. Der echte Blackberry Way liegt im Hyde Park, London. Auch eine ziemlich traurige Sache.
Die zunächst in London und später in den anderen großen englischen Städten vandalierenden Jugendlichen hatten ihre Aktionen über den Blackberry Service organisiert. Das Blackberry, ein ziemlich teures Smartphone, das hierzulande überwiegend von Managern und anderen wichtigen Leuten benutzt wird. Es ist in der Anschaffung etwas teurer, bietet aber den englischen Habenichtsen den Vorteil, dass der Messenger Service kostenlos ist. Und den Plünderern jetzt den unschätzbaren Vorteil, dass die Polizei nicht an die Inhalte der Kurzmitteilungen herankommen kann. Das Blackberry wird hergestellt von der Firma RIM, Research in Motion, zu Deutsch: Forschung in Bewegung. Verrückte Welt.
„Im Schutze der metropolitanen Anonymität entstehen Schattenzonen“, schreibt Uwe Knüpfer, ehemals Chefredakteur der WAZ, jetzt des Vorwärts, „in denen Menschen leben, die von der Gesellschaft nichts, vom Staat allenfalls Hartz IV erwarten.“ In England wären sie über Hartz IV froh. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt dort irgendwo zwischen zwanzig und dreißig Prozent, eine Perspektive gibt es bei realistischer Betrachtung für die Kids nicht. Viel gelernt hatten sie bis jetzt nicht, außer dass es auf den Besitz moderner Konsumgüter und angesagter Fashion und Bodyprodukte ankommt. Und wie man mit einem Blackberry umgeht. Deswegen besitzen einige von ihnen jetzt endlich auch ein Flatscreen-TV. Andere hatten bei den Plünderungen Toilettenpapier mitgehen lassen. Auch mal wichtig.
„Eine demokratische Gesellschaft“, so Uwe Knüpfer im zitierten Artikel „Risse im Tuch“, „gleicht einem dichten Gewebe. In ihrem Mittelpunkt steht der Staatsbürger; jeder einzelne, ohne Ansehen von Herkunft, Einkommen, Geschlecht etc. Jeder einzelne muss eine Chance haben sich zu entfalten, muss sich ernst- und angenommen und – ja – auch geliebt fühlen können. Eine demokratische Gesellschaft lebt von funktionierenden Institutionen auf jeder Ebene.“ Von der Demokratie haben sie nichts, finden die ausgegrenzten Teenager und jungen Erwachsenen in den Gettos der großen englischen Städte. Auf den Fernsehbildern sieht es so aus, als stünde nicht nur die Demokratie, sondern die Zivilisation auf dem Spiel.
Es ist Donnerstagmorgen. Wie lange ich schon wieder zuhause bin! Es kommt mir gar nicht so vor. Letzte Nacht ist es in England ruhig geblieben. Die Schnellverfahren gegen die Plünderer und Brandschatzer haben begonnen. Unter den Angeklagten befinden sich viele Teenager, aber auch ein Gabelstaplerfahrer – nun gut, aber auch: ein Grafikdesigner und eine Lehrerin. Vielleicht hatte der Grafikdesigner ähnlich beschissene Arbeitsbedingungen wie die Sky-TV-Knirpse in Newcastle. Wer weiß? Aber warum war die Lehrerin so unglaublich sauer? Wie auch immer: mit sozialen Aspekten allein kann dieser kollektive „Wutausbruch“, wie zu lesen war, nicht erklärt werden, diese hassgetriebene Orgie der Zerstörung und der Selbstzerstörung.
Lieber Werner,
ich glaube, Du idealisierst diese Jugendlichen. In meinen Augen sind es einfach Kriminelle. Wer von jung an keine Leistung bringen will, muss später auch nicht neidisch sein auf anderer Leute Hab- und Gut. In diesem Punkt haben wir ja grundsätzlich andere Ansichten.
Eins muss ich aber sagen: Du bist wirklich sehr leidensfähig. Freiwillig sich englisches Essen antun, das ist Hardcore!
Die Musikbranche weint um die CDs; die Photoshopper werden kreativ und machen sich lustig, der kritische journalisten (taz-Komm: d.johnson)nennen es „kein Sozialprotest, da kein polit. Statment“ dahinter steht, sondern soziale Spannung; die Briten wollen Tee-Trinken-Solidarität und Mit-Besen-Schaufel-Wieder-Ordnung-Schaffen; der Reg.chef will alle Kriminelle schnell verurteilt wissen. Der Rest behauptet, das ist Milieugeschädigtes unsoziales Verhalten…usw.
Ab nächste Woche sehen wir den schönen Prinzen wieder auf der Mattscheibe lächeln und alles ist wieder gut. Und der ganze Werbemist geht weiter.
Wenn in Europas interessantesten Stadt junge Leute elektr. Geräte klauen und um sich wüten, ist es beängstigend wie verkommen ihre Seelen durch diese kapit. zivile Gesellschaft geworden ist.
Kleiner Aufruf „Hey Leute, ihr braucht kein Flachbildschirm fürs Leben!“
Ich habe damals Henry David Thoreau in dem Film Der Club der toten Dichter kennengelernt.
Viel vernünftiger wäre vielleicht diesen Film auf allen Kanälen in endlosschleife zu zeigen und Thoreaus „Walden“ Buch kostenlos in ganz London vorzulesen.
Ich bin heute noch von der grünen Minze begeistert.
Da muß man erst mal drauf kommen. Klar, französische Küche verwöhnt.
Am Geschmack des englischen Essens jedenfalls wird die Wut der Jugendlichen sich bestimmt nicht entzündet haben.
Hab leider keine Zeit inhaltlich zu diskutieren, aber englisches Essen ist besser als sein Ruf.
Wie ich britisches Lebensmittel liebe, Pommes mit Malt-Vinegar und Käse, Worcestersauce, Marmite, Haggis, PG Tips, Chicken Tikka (das beste außerhalb Indiens) – ich muss unbedingt wieder auf die Insel. Danke fürs Fernweh..
Auf der erste Seite der aktuellen Zeit im Feuilleton nimmt ein berühmter Deutscher STellung zu den Krawallen in London, entgegen des Mainstreams der Politiker und Journalisten international. Er zeigt Mitleid, spricht von einem Weckruf, Konsumkultur, Verdummungsmedien und Chancenlosigkeit der unteren Schicht. Sehr interessant seine Aussage, dass Deutschland solche Krawalle bevorsteht und zwar nicht nur von muslimische Jugendlichen sondern auch von Neonazis. Im letzten Satz erinnert er an Hoyerswerda!
Es lebe London!