Anlässlich der Veröffentlichung seines dreizehnten Studioalbums und des einzigen zugehörigen Deutschland-Konzerts im Palladium drischt die Musikpresse aktuell auf den sechzigjährigen Briten ein. Wir finden das befremdlich und haben einen Freund, der Fan ist, gebeten, ein paar Gedanken dazu aufzuschreiben. Hier nun das Ergebnis. Von unserem Gastautor Michael Schreiner.
Im Mai 2019 wurde Steven Patrick Morrissey 60 Jahre alt – von Bestrebungen, den Ruhestand vorzubereiten, ist allerdings nichts zu vernehmen. Pünktlich zu seinem sechzigsten Geburtstag veröffentlichte er mit „California Son“ ein Coveralbum der besonderen Art: 12 Tracks, die in der Jugend und jungen Erwachsenenzeit des Sängers zu seinen Lieblingsstücken gehörten, interpretiert in seiner einzigartigen Weise – so dass man glatt vermuten könnte, es handle sich um Songs des Meisters selbst. Gut ein Jahr vor „California Son“ erst war der bis dahin letzte eigene Longplayer („Low in high school“) erschienen, und nun, ein knappes Jahr nach dem Coveralbum, kam bereits das nächste Album mit eigenen Songs auf den Markt: „I am not a dog on a chain“. Und darum soll es hier gehen. Auch.
Ein Abend im März. Man steht im Innenraum des Kölner Palladium und wartet darauf, dass das einzige Deutschland-Konzert im Rahmen der Tournee beginnt. Erleichterung darüber, dass es stattfinden kann. Dass also weder der exzentrische Brite selbst abgesagt hat (kam ja in der Vergangenheit durchaus vor), noch die Behörden einen Riegel vorgeschoben haben. Wegen Covid-19. Aber nein, erfährt man von Seiten des Palladium: das Konzert wird stattfinden. Einen Tag später übrigens werden wegen der Corona-Pandemie in ganz Nordrhein-Westfalen sämtliche Konzerte auf unbestimmte Zeit abgesagt. Kurz vor dem „Weltuntergang“ also noch ein letztes Konzert geschafft. Und dann passenderweise auch noch Morrissey – mehr Drama, Melancholie und Verzweiflung findet man in der zeitgenössischen Popmusik wohl kaum. „Come, armageddon, come“.
Aber zurück ins Palladium. Ausverkauft ist es nicht, aber gut besucht. Man steht zwischen etwa 2000 anderen Wartenden. Genug Menschen, um das Gefühl eines doch schon etwas größeren Ereignisses zu bekommen, aber nicht so viele, dass es eng würde. Man kann also auch recht weit vorn stehen, ohne sich „quetschen“ lassen zu müssen. Angenehm.
Vor der Bühne ist eine große Leinwand gespannt, die Elvis Presley zeigt. Eines der Idole des heute auftretenden Sängers. Es läuft leise Musik. So leise, dass die Stimmen der Wartenden sie übertönen. Gleich neben uns bezieht eine große junge Blondine Stellung, gekleidet in ein Top mit aufgedrucktem PETA-Logo, bewaffnet mit Gladiolen. Die will sie später auf die Bühne werfen, sagt sie im Gespräch. Man merkt ohnehin: da kennt sich jemand aus, trotz offensichtlicher Jugend: die Frau ist maximal Mitte zwanzig, und die Zeiten, in denen Morrissey noch auf der Bühne mit Gladiolen um sich warf, waren die Zeiten seiner ehemaligen Band „The Smiths“. Die musikalisch großartigen Eighties. Aber so ist das in der Fangemeinde des Mozzer: wer es qua Jahrgang nicht selbst erlebt hat, sozusagen später dazu stößt, eignet sich das komplette Wissen über die Karriere seines musikalischen Helden nachträglich an. Das hat etwas Obsessives. Aber ich will das gar nicht werten. Selbst entdeckte ich Morrissey anfang der 2000er für mich, da wusste ich noch nichts von den Smiths und seiner Ende der 80er gestarteten Solokarriere. Das Versäumte wurde binnen eines Jahres nachgeholt. Heißt: alle Alben gekauft. Eine große Leidenschaft nahm ihren Anfang. Deshalb wird dieser Text auch nicht objektiv ausfallen. Das sollte spätestens hier erwähnt werden, damit jene aufhören können, zu lesen, die sich eine Bestätigung dafür erhoffen, dass Morrissey inzwischen selbst die ehemals größten Fans vergrault. Das ist dem Autor nicht passiert, und es wird auch nicht passieren. „In my own sick way I’ll always stay true to you“. Trotz aller Kontroversen. Aber dazu später mehr.
Wir kehren erneut zurück ins Palladium. Die leise Musik stoppt, Elvis verblasst auf der Leinwand. Plötzlich bewegte Bilder. Musikvideos erscheinen, es wird lauter. Keine Videos von Morrissey selbst, sondern eine Auswahl von Sachen, die ihm wohl gefallen. Siouxsie ist dabei, Lou Reed, Eddie Cochran, Nico and the Velvet Underground, The Who. Dazwischen immer wieder einige Szenen aus Filmklassikern. Psychedelischen Szenen mitunter. Vermittelt wird, in der Summe, ein Lebensgefühl aus Melancholie, Hedonismus, Trotz und Protest. Und eine gute Portion Irrsinn ist auch dabei. Passend zu dem, was Morrissey seit annähernd vierzig Jahren auf die Musikwelt loslässt. Der Zusammenschnitt ist kurzweilig, macht Lust aufs Konzert, stimmt mental ein auf etwas, das Fans seit Jahrzehnten als nahezu spirituelles Erlebnis beschreiben. Aber irgendwann kommt doch zunehmend Unruhe im Publikum auf. Die „pre-Show“auf der Leinwand dauert lange. Zu lange, finden viele. Mehr als eine Stunde.
Dann aber: Lypsinka erscheint auf der Leinwand. Eine Dragqueen, verkörpert vom britischen Schauspieler John Epperson. Wie passend. Morrissey steht seit Beginn seiner Karriere für kryptische, mehrdeutige Sexualität, androgynes Wesen statt klischeehafter Männlichkeit. Noch 2014 erschien auf dem Album „World peace is none of your business“einer seiner besten und vielsagendsten Songs: „I’m not a man“. Beschrieben werden allerlei Ideale von Männlichkeit, auch negative mitunter, mackerhafte Monstrositäten. Morrissey besingt sie hörbar verächtlich, um dann zu konkludieren: „if this is what it takes to describe – I’m not a man“.
Nun, zurück ins Palladium. Wieder einmal. Lypsinka schaut von der Leinwand, schreit. Offenbar zutiefst entsetzt. Es wirkt, als mustere sie das Publikum. Oder doch „nur“ allgemein gehalten diese Welt, an der Morrissey so tief wie künstlerisch großartig in so vielen seiner Songs verzweifelt? Wie auch immer. Sie schaut noch einmal herab von der Leinwand, schreit erneut, dann fällt die Leinwand herab. Gibt den Blick auf die Bühne frei. Dröhnende Synthies ersetzen die Musik vom Band, die Bühnenbeleuchtung wird eingeschaltet, das Publikum jubelt. Endlich hat das Warten ein Ende. Morrissey betritt, gefolgt von seiner Band, die Bühne.
Mit einer kurzen a-capella-Einlage beginnt das Konzert. Zeilen aus „Wooden heart“ von Elvis Presley. „Treat me nice, treat me good, treat me like you really should. Cause I’m not made of wood, and I don’t have a wooden… head“. Das letzte Wort ersetzt durch ein anderes. Spielerei mit Songtexten, wie man es von Morrissey kennt. Die Message: ich bin kein Holzkopf. Okay. Erste Botschaft an die Kritiker? Maybe. Zunächst aber folgt ein alter Klassiker der „Smiths“zur Eröffnung. „How soon is now?“, deutlich rockiger gespielt als in der Indiepop-Version aus den 80ern. Die Fans sind begeistert, das Palladium ist in der Hand des Mozfathers. Der legt im Anschluss gleich nach, mit seinem Comeback-Song von 2003, „Irish blood, english heart“. Es wird also schon politisch, denn in dem Song, der eine Absage an die Royals und die beiden großen britischen Parteien ist, singt Morrissey von seinem Traum einer Zeit, in der man ohne Scham zur Fahne stehen kann, ohne als Rassist oder „partial“ betrachtet zu werden. Im Licht der Gegenwart und der Kontroversen um Morrisseys öffentliche Aussagen aus den letzten Jahren bekommt der Song eine neue Aura. Zu Anne Marie Waters, der veganen Tierrechtlerin, die in einer lesbischen Beziehung lebt und der islamfeindlichen UKIP-Abspaltung „For Britain“ vorsitzt, wird Morrissey sich heute im Palladium aber nicht äußern. Ein wenig hat man ja darauf gewartet, nachdem er kürzlich in einer TV-Show den „For Britain“ Button trug und Waters sich später öffentlich bei Morrissey „for your great support“ bedankte. Bei einem Konzert in Portland, USA, gab es deshalb kleine, aber unübersehbare Proteste gegen Morrissey.
Heute Abend im Palladium gibt es nichts dergleichen. Und Morrissey bleibt betont wortkarg, jedenfalls, was politische Fragen betrifft. Wenn er spricht, geht es zum Beispiel darum, dass derzeit in Europa viele Konzerte abgesagt werden. „Because of Miley Cyrus“, sagt er. Ein Wortwitz. Cyrus reimt sich auf Virus. Naja. Der Mozzer hat schon lustigere Wortwitze gemacht. Dass sein eigenes Konzert in Paris nicht stattfinden kann, schreibt er dem französischen Präsidenten zu: „I blame Macron.“, sagt er, und fügt nach kurzem Abwarten hinzu: „for everything“. Passend erscheint es da, dass die Leinwand hinter der Bühne eine Gilet Jaune vor den Riots am Arc de triomphe zeigt, während Morrissey „I’m throwing my arms around paris“ singt, seine Liebeserklärung an die französische Hauptstadt und seinerzeitige Wahlheimat vom 2009er Album „Years of refusal“.
Ansonsten bleibt es unpolitisch, heute Abend im Palladium. Nur hier und da schnappt man eine möglicherweise Anspielung auf die Kontroversen der letzten Jahre auf. Etwa, als ein Fan eine Frage Morrisseys mit laut gerufenem „me!“ beantwortet. Morrissey sagt: „Me, too!“ – Betonung und Gestik wirken nachäffend. Möglicherweise ein kleiner nachträglicher Seitenhieb auf die #metoo-Bewegung, die Morrissey als „Theaterstück“ bezeichnet und in einem Interview [1] so kommentiert hatte: „Natürlich gibt es extreme Fälle, Vergewaltigung ist ekelhaft, jeder physische Angriff ist abstoßend. Aber wir müssen es im Verhältnis sehen. Sonst ist jeder Mensch auf diesem Planeten schuldig. Wir können nicht permanent von oben herab entscheiden, was man tun darf und was nicht.“
Auch ansonsten belässt es der Mozzer heute Abend bei Andeutungen, wie etwa der Tatsache, dass er bei „Jacky’s only happy when she’s up on the stage“ (vom Album „Low in high school“, 2017) zum Schluß singt: „Exit, exit, everybody’s heading for the Brexit“. Auf dem Album heißt es nur: exit. Dennoch hatte die Presse spekuliert, dass es sich hier um einen Pro-Brexit-Song handeln müsse. „Jacky“ als Synonym für den Union Jack, der Exit – na klar. Morrissey dementierte. Es ginge um seine Schwester Jacky, um Selbstdarstellung („only happy when she’s up on the stage“), und darum, dass jeder zum Ausgang renne, wenn der Selbstdarstellende „on stage“ ist. Dennoch kam es live zu entsprechenden Anspielungen, wie oben genannt. Und: die Zeile „since she lost you“ wurde, zumindest in den Ohren des Autors, nuschelnd in „since she lost the EU“ verwandelt. Outet sich Morrissey also jetzt tatsächlich als Brexiteer? Oder geht’s hier, wie so oft, in erster Linie um Provokation, deren tatsächlicher Hintergrund nicht erklärt wird? Letztlich bleibt diese Frage unbeantwortet.
Morrissey spielt knapp zwei Stunden ein gelungenes Programm aus alten Klassikern der Smiths, ein paar Coversongs vom eingangs genannten Album, viel Solomaterial und drei Songs aus dem neuen Album, das zum Zeitpunkt des Konzerts noch nicht erschienen war. Für jeden Geschmack etwas dabei. Nur sein bislang größter Hit, „Everyday is like sunday“, fehlt. Und das obligatorische „Meat is murder“ aus Smiths-Zeiten, das bei Konzerten stets in Verbindung mit Sequenzen aus dem PETA-Film „Meet your meat“ gespielt wird. Dennoch haben auch ein- (oder besser: aus?) gefleischte Fans nicht den Eindruck, als erlebten sie hier etwas Unvollständiges. Im Gegenteil. Die Show ist energiegeladen, die Stimmung im Palladium euphorisch. Man feiert seinen Helden.
Vor der letzten Zugabe richtet Morrissey noch einmal das Wort an seine Fans: „Thank you for coming, thank you for staying. Free speech, free speech, free speech! I love you.“ Er belässt es also dabei: keine deutlichen Statements, keine Erklärungen, nur Andeutungen. Das klarste Statement kam zum Schluss: für die freie Rede. Kann man so stehen lassen. Es folgt eine kraftvolle Version des 90er-Klassikers „Jack the ripper“, die Nebelmaschinen werden angeworfen, man sieht kaum noch etwas. Wie an der Themse in London, früh morgens. Aber man hört, und das ist so gut, dass es für den Moment reicht. Schließlich verschwindet der Mozzer im Nebel, es verklingt der letzte Ton. Ein eindrucksvoller Konzertabend ist zu Ende.
Knapp zwei Wochen später erschien dann „I am not a dog on a chain“. Ein überraschendes Album. Mit „Bobby, don’t you think they know?“ zum Beispiel beinhaltet es einen ziemlich souligen, opulenten Song, der zudem ein Duett mit der Mowtown-Legende Thelma Houston ist. Ungewohnt, aber verdammt eingängig und gut. Elektronisch, ein wenig an Depeche Mode und andere Bands aus dem Bereich des Synthiepop erinnernd, wird es mit „Once I saw the river clean“. Hier besingt Morrissey vergangene Zeiten mit seiner irischen Großmutter, die nicht mehr wiederkehren werden. Verklärt, melancholisch kommt dieser Ohrwurm daher. Böse Zungen, für die Morrissey inzwischen ein Rechter ist (oder es schon immer war), werden hier reaktionäres Denken vermuten. Aber wer so verstockt-ideologisch über einen Song (dem übrigens besten des Albums) urteilt, Kunst also nicht vom Künstler zu trennen bereit ist, disqualifiziert sich ohnehin für ein ernsthaftes Gespräch über dieses Album. Und, ja, man könnte doch auch einfach nachvollziehen, dass die Zeiten der einstigen „dublin dancer, free and young“ tatsächlich in Teilen bessere waren als die heutigen – ohne das politisch aufladen zu müssen.
Reden wir wieder über Musik.
Schon beim ersten Song wird deutlich, dass Morrissey sich musikalisch verändert hat. „Jim Jim falls“ kommt beschwingt daher, auch hier schon deutlich stärker hörbare elektronische Elemente als gewohnt. Morrissey gibt sich ein wenig genervt von Menschen, die alles zerreden, jede Entscheidung öffentlich artikulieren müssen: „if you’re gonna live, then live. Just don’t talk about it“. Und: „if you’re gonna kill yourself, then for gods sake, just kill yourself“ – meine Güte, dann bring dich halt um. Das kommt erstaunlich empathielos rüber, zunächst einmal. Man ist vom Mozzer doch eigentlich gewohnt, mitunter den verständnisvollen Soundtrack für die Krisengeschüttelten unter uns zu singen. Aber vielleicht, so könnte man mutmaßen angesichts mancher seiner Äußerungen der letzten Jahre, ist er nun der „Snowflakes“ und Hippies überdrüssig. Wer weiß das schon so genau? Das Stück ist jedenfalls musikalisch eines der besten auf dem Album, und mitsingen kann man auch, denn: wer ist nicht schon einmal genervt von Zeitgenossen, die ihr Leben und Leiden übergriffig vor einem ausbreiten, ob man es nun hören mag oder nicht? Musikalisch recht ähnlich geht es weiter mit „Love is on it’s way out“. Interessanterweise wird hier dann der Verlust an Liebe und Menschlichkeit beklagt, vor allem aber gegenüber den Tieren. Morrisseys größte Kontinuität. Er schimpft auf die „sad rich, hunting down, shooting down elephants and lions“.
Auch die restlichen Songs des Albums sind gelungen, präsentieren sich aber anders als die schon genannten: „What kind of people live in these houses?“ könnte so auch auf „My early burglary years“ (1998) enthalten sein. Ein Ausflug in frühere Zeiten, musikalisch. Und thematisch dem ähnlich, was zum Beispiel „The ordinary boys“ (1988) behandelte: ein Abgesang auf die Oberfläche, die Ignoranz, die Spießbürgerlichkeit. In Anklängen hier aber politisch („They vote the way they vote, they don’t know how to change because their parents did the same“), anknüpfend auch an den Anti-Nachrichten-Song „Spent the day in bed“ (2017): „They look at television, thinking it’s their window to the World – that’s got to hurt“. Textlich der vielsagendste Song des Albums, was Morrisseys gerüchteumwobene und nicht selten vorverurteilte und missverstandene Gedankenwelt angeht. Abgesehen vielleicht vom Titelsong des Albums, dem anfangs beschwingt-leichten, später pompös-laut daherkommenden „I am not a dog on a chain“. Aber hier präsentiert der Mozzer sich lediglich in schon bekannter Weise als Dissident, Selbstdenker, ein wenig als Opfer von… – ja, von wem eigentlich? Jedenfalls meint er: „maybe I’ll be skinned alive by Canada Goose because of my views, because of the truth“. Was die Wahrheit ist und was seine Sicht auf die Dinge, bleibt hier im Nebel [2].
Einige Songs enthält das Album, die nicht sofort zugänglich sind. „The secret of music“ zum Beispiel, das schleppend und scheinbar strukturarm daher kommt. Es will oft gehört werden, erst dann entfaltet es seine Wirkung. Ähnlich erging es mir mit „My hurling days are done“, das ich tatsächlich für einen schönen, aber den zweitschwächsten Song des Albums halte. Den letzten Platz belegt das bei Fans merkwürdigerweise oft gefeierte „Darling, I hug a pillow“. Thematisch ausgelutscht, es gibt zum Thema unerfüllte Liebe einfach schon genug Songs der Smiths und von Morrissey. Und auch musikalisch allenfalls nett. Okay, die Bridge in der Mitte des Songs und der Teil zum Ende, mit schönen Trompeten, Synthies und Morrisseys seufzender Stimme im Hintergrund, retten das Stück.
„I am not a dog on a chain“ beinhaltet also tatsächlich keinen einzigen schlechten Song und ist insgesamt ein gutes bis sehr gutes Album. Vor allem das unerwartete Experimentieren mit elektronischen Elementen ist sehr gelungen ausgefallen. Chapeau, Sir.
Bemerkenswert ist übrigens noch die vom Klavier dominierte Ballade „The truth about Ruth“. Es geht um Identitätskrisen, Gender, darum, dass letztendlich wir alle doch nur tun, was wir können, um zurecht zu kommen. Einfühlsam, nachdenklich. Spöttisch? Nein, definitiv nicht. Dennoch finden sich bei Youtube etwa Kommentare, die dem Song „Transphobie“ vorwerfen. Die postmoderne Linke hat sich auf Morrissey eingeschossen. Das heißt: alles, was er sagt, wird gegen ihn verwendet. Für diese Leute fallen einem eigentlich nur noch folgende Worte ein: The world is full of crashing bores („You are the quarry“, 2004).
Und auch die Musikpresse findet, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht viel gute Worte über das neue Album. Viele Autoren verbreiten sich mehr über Morrisseys angeblichen „Rechtsruck“, geben sich empört oder wahlweise scheinheilig mitleidig über den „zynischen alten Mann“, dem nicht mehr zu helfen sei. Behaupten gar, Morrissey habe, jetzt ja wohl eindeutig „Rechtspopulist“, einen großen Teil seiner Fangemeinde vergrault. Tatsächlich? Schaut man in diverse Fangruppen bei Facebook etwa, erinnert sich an das gut besuchte Konzert im Palladium, bei dem viele verschiedene Generationen von Fans ausgelassen feierten (also, „ausgelassen“ in den Kriterien einer eher introvertierten, zum Teil der Darkwave-Szene verwandten oder gar angehörigen Fangemeinde), schaut sich die Likezahlen auf Morrisseys Facebook-Seite an, kann man nur zu dem Schluß kommen: diese Behauptung scheitert an der Realität. Warum ist das so? Und warum bewerten so viele der Autoren in der Folge das neue Album, das eines der stärksten aus Morrisseys Solokarriere ist, derart schlecht? Hat das mit Ideologie zu tun? Wohl ja. Nicht, wohlgemerkt, mit Morrisseys Ideologie. Denn er ist kein Ideologe, sondern Querkopf ohne gezielte politische Agenda. Okay, mal abgesehen von seinem Faible für Tiere, Tierschutz, Tierrechte. „The most vocal vegetarian in popmusic“, wie es in der Dokumentation „The importance of being Morrissey“ von Anfang der 2000er heißt. Nein, ansonsten ist Morrissey wohl das, was am Abend im Palladium auf seinem Shirt stand: „I am not far-right, not far-left. I am far forward“. Wo auch immer „vorwärts“ in der Interpretation von Morrissey sich befinden mag: rechtsaussen ist es nicht. Allenfalls vorwerfen ließe sich ihm eine gewisse Naivität, geboren aus nicht zu Ende gedachten Schlussfolgerungen: Morrissey mag den Islamismus nicht (aber welcher einigermaßen vernünftige Mensch tut das schon?). Er ist Veganer. Er befürwortet ein freies Leben jenseits von Konventionen und Zwängen. Das ist in der Summe sympathisch. Ob man deshalb eine Partei wie „For Britain“ unterstützen muss, nur weil sie das Problem islamischer Gegengesellschaften radikal thematisiert, ihre Vorsitzende Tierrechtlerin ist und ansonsten ziemlich liberal lebt und denkt – diese Entscheidung mag man anzweifeln wollen. Aber man kann nicht hingehen und kurzschlüssig folgern, Morrissey sei jetzt ein Rassist, dessen Alben man, so sehr man sie mal mochte, jetzt verbrennen oder sonstwie entsorgen müsse – und gar abfeiern, dass diverse Plattenläden in den UK inzwischen entschieden haben, seine Alben nicht mehr zu verkaufen. Das ist totalitär, kunstfeindlich – und, ja, dumm. Wer so denkt und handelt, zumal als ehemaliger Fan, hat das Konzept Morrissey nie verstanden. Polemik und Provokation gehörte stets dazu, und da muss man nicht immer zustimmen, um den Künstler zu mögen. Und was das Plädoyer für Freiheit, Unkonventionalität und ein Leben jenseits von den ideologischen Vorgaben „der Gesellschaft“ betrifft, hat Morrissey sich kein Stück verändert. Er bleibt der Wilde’eske Dandy, der poetisch den Finger in Wunden legt. Manchmal ätzend. Manchmal, ja, daneben. Aber, hey: „Whatever happens, I love you“. That’s the concept.
[1]https://www.spiegel.de/spiegel/morrissey-ueber-brexit-kevin-spacey-und-merkels-fluechtlingspolitik-a-1178545.html
[2] Wer sich wirklich dafür interessiert, was Morrissey denkt und wie er zu manchen Ansichten kam, muss mehr tun, als Musik hören. Nämlich lesen. Empfehlenswert ist seine Autobiographie (bislang nur im englischen Original verfügbar). Oder, allerdings schon älter, die Zusammenstellung „Im Gespräch mit Morrissey“ von Len Brown (Hannibal Verlag, 2009).
Der Autor:
Michael Schreiner ist 38 Jahre alt, lebt im Corona-Epidemiezentrum Heinsberg und arbeitet dort beruflich mit behinderten Menschen. Er lebt zusammen mit einem Schäferhund-Rottweiler-Mix namens Hugsi, ist Gewerkschaftsmitglied, tierschutzbewegt und seit sechs Jahren aktiv im Betriebsrat seiner Arbeitsstelle sowie Mitglied der SPD. Privat trinkt er gern französischen und israelischen Rotwein, pflegt seine CD-Sammlung und ist am liebsten mit seinem Hund im stillen Wald. Parties kann er nicht leiden, sondern bevorzugt Konzerte mit Schwerpunkt auf melancholischen Klängen. Seit annähernd zwanzig Jahren ist er leidenschaftlicher Morrissey-Fan.
Der Text erschien bereits auf dem Blog Taube und Falke
Kompliment, ein wirklich gelungener Artikel, der viele Aspekte aufgreift und korrekt darstellt!
Ich hatte ebenfalls das Vergnügen die Show im Palladium zu sehen, erste Reihe (rechts). Tolles Konzert, ein gut aufgelegter Morrissey, eine unvergleichliche Stimme, ein gelungenes Album.
Viva Morrissey!
Nach all den Verrissen die einem durch den Google-Alarm so reingeschneit sind hatte ich nicht mal mehr Bock, in das Album reinzuhören.
Wäre ein böser Fehler gewesen, das neue Album ist grandios.
Dabei hätte ich es wissen müssen, schon bei "Low in High School" wurde von Seiten der Kritiker nur gehört, was man hören wollte.
Vielen Dank Autor!
Danke für die Schilderung des Konzertes – ich wäre gerne selbst dabei gewesen und bin froh, dass es gut besucht war. Sein neues Album finde ich, wie auch das davor, großartig und höre es seit der Veröffentlichung fast täglich!
Ein sehr gelungener Artikel! Menschlich und fein beobachtet und unaufgeregt auf den Punkt gebracht. Danke! Als Teeny der 80er Jahre und bis heute treuer The Smith Fan, bin ich doch beruhigt, dass es noch andere mit meiner Meinung zu Morrissey gibt.
Vielen Dank für diesen Artikel. Ich komme auch aus der Heinsberger "Todeszone"-vielleicht finde ich die geschriebenen Worte deshalb wohltuend und durchaus abgewogen.
Auch wenn ich mehr als 20 Jahre älter als der Autor bin: Ohne die Smiths und Morrissey hätten viele englische Bands niemals das Licht der Welt erblickt.
Ich fand den Abend im Palladium wunderbar perfekt <3 Bin glücklich dort gewesen zu sein!
Es ist tut gut zu lesen, dass auch andere Fans Morrissey treu bleiben. Ich (53) bin Fan seit 1986 und werde es bis zu meinem Lebensende bleiben. „Just blindly loved“? Ja, und?!
wunderbarer Artikel, ich kenne Mossissey's Werk nicht gut genug, bin aber viel in UK zu Konzerten von local bands gewesen und habe mich stets gewundert, wie diese absolute Manchester Ikone von vielen so zeriissen wird , obwohl man seine Smiths Songs nach wie vor inbrünstig mitsingt vor Konzerten in kleinen Venues oder auch in Stadien . Würde mich freuen, wenn man mehr den Künstler und seine überragende Kunst als seine menschlichen Schwächen sehen würde
Vielen Dank für den lesenswerten Artikel. Ich bin 53 und ein Smith's und Morrissey Fan seit ewigen Zeiten und werde es immer bleiben. Die neue CD ist richtig gut geworden und ich höre die CD täglich. Die Kritiker, die die aktuelle CD zerreißen sind einfach nur langweilig und kritisieren Morrissey weil es wohl einfach in Kritikerkreisen oppurtun ist. Keiner von denen hat Eier in der Hose und ist einfach mal objektiv in punkto Musik…. Mozzer is the greatest
Ich kann die Lobeshymnen in den Kommentaren in der Eindeutigkeit ebensowenig nachvollziehen wie den Grundtenor des Beitrags. Eines Vorweg: Ich habe Morrissey 2016 noch live gesehen, in Manchester. Ein „Heimspiel„ sozusagen. Dass es beim Konzerte nur Vegi-Fraß gab, wusste ich, war schließlich nicht mein erstes Mal. Dass während der Performance Videos gezeigt wurden, auf denen Tiere massenhaft geschlachtet wurden – geschenkt. Morrissey zieht halt sein „Meat is Murder“-Ding durch, seit Jahrzehnten. Außerdem: „National Front Disco“ war ebensowenig ein rechtes Statement wie der „Mussolini“ von DAF. Wobei letzteres tatsächlich provokant gemeint war:„bewegt eure Hüften“. So weit, so ok.
Was Morrissey aber seit gut drei Jahren von sich gibt, hat weder Netz noch doppelten Boden: es ist völkisch, national, rechtsradikal. Belege findet man zigfach im Netz. Vielleicht hätte man schon 2003 bei „Irish Blood“ hellhörig werden müssen. Das war 1:1 so gemeint. Jedem deutschen Musiker hätte (nicht nur) ich vergleichbares um die Ohren gehauen. Und das völlig zu Recht. Das hat mit Provokation genauso wenig zu tun wie Phil Collins mit guter Musik. Anyway.
Ich kann und will mir Morrissey nicht mehr anhören. Vielleicht ist sein aktuelles Album musikalisch großartig, sind seine Konzerte immer noch ein Ereignis, aber: Es gibt so viel gute Musik, die mich überzeugt, dass ich nicht auch noch einen Typen unterstützen muss, der mehrfach bewiesen hat, dass er irgendwann falsch abgebogen ist und anscheinend nicht in der Lage ist, einen Ausweg zu finden. Schließlich habe ich auch kein Verständnis für tatsächlich oder vermeintlich Abgehängte, die darauf hoffen, in Volk und Vaterland ihre Erlösung zu finden.
Zur These des Beitrags: Ist Morrissey tatsächlich ein Nonkonformist oder nicht doch eher ein Typ, der das vertritt, was man konformistische Rebellion nennt? Wer mittlerweile regelmäßig mit den Rechten ins Bett geht, muss sich die Frage mindestens gefallen lassen. Und wenn man glaubt, dass sei nur „Provokation“, dann kann man auch Leuten wie Matthias Matussek die Absolution erteilen, die vorgeben, sie wollten nur spielen, während sie sich mit Martin Sellner zum Kaffeeklatsch verabreden. Your Arsenal? Your Arsehole!
Toller Artikel, der meine 100 %ige Zustimmung findet. Alle, die ihn mit Dreck bewerfen, alle die ihn als Fascho und Rassisten bezeichnen und vor allem, die die ihn früher möchten, aber jetzt nicht mehr hören können, leckt mich am Arsch. Ihr versteht ihn nicht und habt ihn nie verstanden.
MOZ4LIFE!!!
“Everyone ultimately prefers their own race – does this make everyone racist?” Nur eine Aussage von vielen, die Morrissey in den vergangenen Monaten und Jahren öffentlich getätigt hat. Damit wollte er seine Sympathie und Unterstützung für „For Britain“, eine eindeutig rechtsradikale Partei, erklären. Wer das noch damit abtut, Morrissey sei immer schon unabhängig gewesen, habe sein Ding durchgezogen und wolle lediglich provozieren, sollte zumindest mal seinen eigenen Kompass hinterfragen. Ich kann jedenfalls, auch nach langem Überlegen, keinen Ansatz finden, das zu rechtfertigen. Selbst dann nicht, wenn er im nächsten Satz die antisemitischen BDS-Kampagnen kritisiert und den Islamismus als große Bedrohung ansieht. Das machen Teile von AfD, FPÖ und Co auch.
Ich werde Seine Platten mit Sicherheit nicht „verbrennen“, aber ich habe tatsächlich keine Lust mehr, mir diese anzuhören. Sehr „interessante“ Assoziation übrigens das mit dem „Verbrennen“ von Platten. Wie kommt man eigentlich darauf? Leute, die Morrissey jetzt kritisieren sind ebensolche Vollpfosten wie die religiösen Fanatiker, die nach John Lennons Jesus-Zitat Beatles-Platten verbrannt haben?
Für mich klingen die Beiträge eher nach dem verzweifelten Versuch, zu ignorieren, dass Morrissey aktuell eine eindeutig völkisch-nationalistische und rassistische Agenda verfolgt – unreflektiertes „Mainstream“-Bashing inklusive. Aber ok, ist euer Ding, damit klar zu kommen. Ich kann’s jedenfalls nicht mehr rechtfertigen, sorry!