Schon einmal inszenierte Intendant Peter Carp einen waschechten Thriller in Oberhausen: „Waisen“ von Dennis Kelly war eine seiner besten Arbeiten. Bereits am 4.11. hatte „GB84“ Premiere. Ein Politthriller nach dem monumentalen Roman von David Peace über den Bergarbeiterkampf, der 1984 Großbritannien erschütterte. Rund drei Stunden Zeit nimmt sich Carp, um das Geschehen in mehreren miteinander verzahnten Handlungssträngen auf die Bühne zu bringen. Die Textfassung dazu erarbeitete Stefanie Carp – Schwester des Intendanten und designierte Triennale-Intendantin – aus dem 500-Seiten-Roman. Und erneut gelang Carp hier eine hochspannende Inszenierung. Das mag auch an den historischen Ereignissen liegen, am Roman und an der Textfassung und gewiss auch an den Darstellern, aber nicht zuletzt an Carps Gespür für Timing, das in den gesamten drei Stunden niemals Langeweile aufkommen lässt. Zudem gelingt es der Inszenierung bei aller Vertracktheit der Handlungsstränge und trotz Doppelrollen der Darsteller, die Erzählung immer durchsichtig und nachvollziehbar zu halten. Das klug gebaute Einheitsbühnenbild von Manuela Freigang und Natasha Nouak liefert für die beinahe filmisch zusammengeschnittenen Szenen den perfekten Rahmen.
Das interessanteste an diesem Abend ist aber vielleicht, dass Carp nicht der naheliegenden Versuchung erliegt, das Zechensterben – oder besser: den geplanten Zechenmord – in Großbritannien in platter Weise mit dem Ruhrgebiet zu verschalten. Im Gegenteil verorten die Kostüme von Gabriele Rupprecht und die immer wieder eingespielten Songs und dokumentarischen Videosequenzen (Jan-Peter E.R. Sonntag) höchst sachkundig das Geschehen immer wieder ganz klar im Königreich. Die dadurch gewahrte fast brecht’sche Distanz des Zuschauers, lenkt den Blick darauf, was diese Geschichte tatsächlich mit unserer eigenen Lebensrealität heute zu tun hat. Das Sterben einer Industrie, die auch im Ruhrgebiet irgendwann einmal gestorben ist, wäre da der uninteressante Punkt. Tatsächlich ereignete sich das Ende des Bergbaus in Großbritannien auf ganz andere Art als hierzulande: Als von langer Hand – schon vor Beginn des eigentlichen Streiks – geplante Abschlachtung. Der Abend erzählt davon, wie Thatcher – sie selbst erscheint nur kurz vor dem Ende einmal als Videoeinspielung – das Ende des Bergbaus nutzt, um die gesamte Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Die Regierung hat schon früh Gewerkschaftsrechte ausgehebelt, nutzt gezielt ihre Medienmacht und die Geheimdienste, um den Arbeitskampf zu diskreditieren und zu unterwandern. Deutlich geht es eben nicht darum, nur ein paar Zechen zu schließen, sondern die Arbeiterbewegung in Gänze zu vernichten. Und hier liegt der Grund, warum diese Geschichte aus den 1980er Jahren heute unbedingte Brisanz besitzt, denn sie ist der Beginn und die Grundlage für den Thatcherismus und damit alle europäischen neoliberalen Bewegungen. Die Vernichtung von Arbeiterrechten, die (Selbst)-Zerstörung der Gewerkschaften – 1984 nahm sie in Großbritannien ihren Anfang und die Folgen sind bis heute in der Politik und im Denken vieler virulent.
Und wenn ganz zuletzt der Bergarbeiter auf leerer Bühne steht, in einem anrührenden Bild die Haken und Körbe mit der Arbeitskleidung herabfahren und den Raum in eine neblige Schwarzkaue verwandeln, er sich seiner Nostalgie hingibt und einfach zurück in die Zeit vor dem Arbeitskampf, der ihm alles genommen hat, wünscht, dann spricht Peter Carp bitter ironisch doch wieder zu den Menschen im Ruhrgebiet, die eben in dieser lähmenden Melancholie gefangen sind, ohne jemals zu sehen, welcher Verlust eigentlich wirklich zu beklagen wäre.
Termine und Tickets: www.theater-oberhausen.de