Naher Osten: Kriege und Zahlen

Israelische Truppen 1967 auf den Golan-Höhen Foto: Government Press Office (Israel) Lizenz: CC BY-SA 4.0

Seit Jahrzehnten wird Israel als große Gefahr für den Frieden im Nahen Osten und in der Welt dargestellt. Doch meistens verteidigte sich Israel nur vor Angriffen von Nachbarstaaten und Terroristen, und die militärischen Konflikte, an denen das Land beteiligt war, waren, im Vergleich zu anderen militärischen Ereignissen eher klein.  

Für den in Südafrika lehrenden Philosophen und Historiker Achille Mbembe ist die „Besetzung Palästinas (…) der größte moralische Skandal unserer Zeit, eine der entmenschlichendsten Torturen des Jahrhunderts, in das wir gerade eingetreten sind, und der größte Akt der Feigheit des letzten halben Jahrhunderts.“ Mit dieser Haltung ist Mbembe nicht alleine. Den arabischen Staaten gelang es in den vergangenen Jahrzehnten, den Konflikt mit Israel deutlich größer darzustellen als er ist. Israel wird unterstellt, an der Vernichtung der Palästinenser zu arbeiten, ja, einen zweiten Holocaust durchzuführen. Doch der Versuch, den Konflikt in die Nähe der Shoa zu rücken, ist nicht nur antisemitisch, er ist auch plumpe Public Relations, die diesem Konflikt eine Größe verleiht, die er nie hatte.  Und natürlich ist es ein historischer Vergleich, der falsch ist. Die Shoa war keines der, grausamen  Kriegsereignisse, von denen es in der Geschichte zahllose gab. „Der Nationalsozialismus“, schreibt Steffen Klävers treffend in  „Decolonizing Auschwitz?“ „unterscheidet sich daher fundamental von allen anderen bisherigen Ereignissen von staatlich oder durch staatliche VertreterInnen verübtem Massenmord und Massengewalt – allerdings nicht hinsichtlich der Anzahl der Opfer oder in der Technik des Tötens, sondern vor allem dadurch, dass er keinen konkreten Feind kannte.“ Der Feind im Nationalsozialismus sei primär das jüdische Leben, alles jüdische Leben, die Idee des Jüdischen selbst gewesen. Es sollte ohne Ausnahme vernichtet werden. „Doch es gab keine konkrete Bedrohung, die vom Judentum ausging: Keinen territorialen Konflikt, keine Aufstände, keine jüdische Gewalt irgendeiner Art. Und mit keiner anderen Gruppe wurde eine spirituelle Erlösung des eigenen ‚Volkes‘ assoziiert.“

Israel gilt vielen Europäern in Umfragen seit Jahrzehnten als eine der größten Bedrohungen des Friedens. Selten wurde ein Konflikt propagandistisch so aufgebauscht wie der Nahost-Konflikt. Selbst wenn man neben den israelisch-palästinensischen Auseinandersetzungen sämtliche Kriege Israels mit den arabischen Staaten mit einbezieht, bleibt nicht viel mehr als ein Kette vergleichsweiser kleiner militärischer Auseinandersetzungen, die sich von allen anderen Kriegen nur dadurch unterscheiden, dass an ihnen ein jüdischer Staat beteiligt war.

Dieser Konflikt ist auch nicht, wie häufig zu lesen ist, der zentrale Konflikt im Nahen-Osten, denn das ist der Kampf zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen dem Iran und seinen Vasallen und den arabischen Staaten. Und er ist auch ein vergleichsweiser kleiner Konflikt, der sich in die Kriege und Auseinandersetzungen einreiht, die in ganz Europa und der arabischen Welt nach dem Ende der Reiche ausbrechen. Das Habsburger Reich und das Osmanische Reich zerbrachen mit dem Ende des ersten Weltkriegs, das russische Reich überstand den Untergang der Monarchie, indem es in der Sowjetunion aufging und erst mit deren Auflösung 1991 sein Ende fand. Die relativ kurze Phase des Kolonialismus im westasiatischen Teil der arabischen Welt ändert daran grundsätzlich nichts.

Fast überall, wo sich die Reiche auflösten und Nationalstaaten an ihre Stelle traten, kam es zu bewaffneten Konflikten und Auseinandersetzungen um die Nutzung von Land. Im Gegensatz zur Nation, die von einem Staatsvolk ausgeht, waren die Reiche, wie der Historiker Dan Diner schrieb, „multiethnisch komponierte Gemeinwesen“. Zwar gab es in ihnen keine Gleichberechtigung, aber im osmanischen Reich konnten Griechen, Kurden, Juden und Armenier durchaus Karriere machen. So hatte die osmanische Flotte mehr als einen griechischen Admiral, arbeiteten Juden in seinem auswärtigen Dienst und Armenier anführender Stelle in der Finanzverwaltung.

Mit dem Verfall der Reiche war es mit dieser durchaus erzwungenen Harmonie vorbei, und oft beanspruchten verschiedene Gruppen dasselbe Territorium. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kämpften in Jugoslawien verschiedene Völker bewaffnet um kleinste Landflecken, kam es zu ethnischen Säuberungen und gut 100.000 Toten. Neu waren ethnische Säuberungen nicht, sie haben auch auf dem Balkan in der Folge der Auflösungen des Osmanischen Reiches eine lange Geschichte. Griechen und Türken tauschten 1923 fast 1,6 Millionen Menschen aus. Griechen gaben Städte an der türkischen Ägäisküste auf, die schon vor 3000 Jahren von Griechen bewohnt wurden. Türken verließen griechische Städte und Dörfer, in denen ihre Vorfahren jahrhundertelang lebten.

Wie der Verfall der Großreiche sorgte auch das Ende des Kolonialismus für ethnische Konflikte in den neu entstandenen Staaten. Eine Phase der oft kriegerischen Auseinandersetzungen begann, die in Zentraleuropa erst nach Ende des zweiten Weltkriegs beendet wurde. Der von 1967 bis 1970 dauernde Biafra-Krieg, bei dem es Nigeria gelang, die Sezession der Provinz Biafra zu verhindern, forderte 1,2 Millionen Todesopfer.

Alleine nach Ende des zweiten Weltkriegs gab es über hundert Kriege mit Millionen Opfern, davon viele im arabischen Raum: Der Algerienkrieg Frankreichs kostete fast eine halbe Million Menschen, zu über 90 Prozent Araber, das Leben. Bei dem Hauptkonflikt des Nahen Ostens, dem Kampf zwischen Sunniten und Schiiten, starben alleine im ersten Golfkrieg zwischen dem Iran und Irak je nach Schätzung 350.000 bis 850.000 Menschen. Die Zahl der Toten des „syrischen Bürgerkrieges“ liegt mittlerweile weit über 500.000.

Im Bewusstsein breiter Teile der Öffentlichkeit besteht der Nahost-Konflikt allerdings aus der Auseinandersetzung zwischen Israel, den Palästinensern und Israels arabischen Nachbarn. Der Kern dieses Konflikts ist bei nüchterner Betrachtung derselbe wie bei fast allen Konflikten nach dem Ende der Großreiche oder dem Rückzug von Kolonialstaaten: Zwei Bevölkerungsgruppen streiten sich um eine Region und versuchen ihre eigenen Vorstellungen von Staatlichkeit durchzusetzen. Auf die Teile des ehemaligen britischen Mandatsgebietes „Palästina“, das bis zum Ende des ersten Weltkriegs ein Teil des osmanischen Reiches war, erhoben Juden und Araber Ansprüche. Der Versuch, das Land zu teilen, wurde 1948 von der arabischen Seite abgelehnt und führte zu einem ersten Krieg zwischen Israel und seinen militärisch überlegenen Nachbarn, den Israel entgegen aller Erwartungen gewann. Infolge dieses Krieges und der Gründung des Staates Israel flohen Araber aus dem neu gegründeten Staat, und Juden wurden aus den arabischen Staaten vertrieben und siedelten sich zu einem großen Teil in Israel an. Nichts unterschied diesen Konflikt auf den ersten Blick von hunderten anderen weltweit, die sich nach dem Ende der Großreiche und dem Rückzug der Kolonialmächte zutrugen. Es gab nur zwei Unterschiede: Israel war und ist ein jüdischer Staat, und die arabischen Staaten haben die geflohenen Araber, mit Ausnahme Jordaniens, nicht in ihre Staaten integriert, sondern in Lager gesteckt, in denen viele bis heute leben. Weltweit ist dies ein  wohl einzigartiges Vorgehen bei einer Gruppe, die jenseits des von ihr beanspruchten israelischen Territoriums über  zahlreiche staatliche Strukturen verfügt: die Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga.

Der arabischen Seite, auf der im Laufe der 60er Jahre im Rahmen einer politisch gesteuerten Ethnogenese, auch das kein außergewöhnlicher Vorgang, eine Volksgruppe entstand, die sich selbst als Palästinenser sah und auch so wahrgenommen wurde, verfolgte damit das Ziel, Israel auszulöschen. Nur zwei arabische Staaten haben seit 1948 Friedensverträge mit Israel abgeschlossen und seine Existenz somit anerkannt: Jordanien und Ägypten. Nach über 70 Jahren staatlicher Existenz Israels ist auch das ein Zeichen dafür, dass Israel „der Jude unter den Staaten“ ist, wie es Stephan Grigat einmal formulierte. Nun ist das Land tatsächlich immer wieder in Konflikte verwickelt, die allerdings meistens von seinen Nachbarstaaten ausgehen: In den acht Kriegen, die Israel seit seiner Gründung führte, wurde es, abgesehen von der Sues- Krise 1956/57, angegriffen oder kam unmittelbar geplanten Angriffen durch einen Präventivschlag zuvor.

Was allen militärischen Auseinandersetzungen mit Israels Beteiligung in der Region gemein ist, sind vergleichsweise niedrige Opferzahlen: Im Kampf mit den Palästinensern kam es auf beiden Seiten seit den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu 14.000 Toten. Zum Vergleich: Als Jordanien zwischen 1970 und 1971 einen Putschversuch der PLO niederschlug, starben dabei 40.000 Palästinenser innerhalb weniger Monate.  In den Kriegen zwischen den arabischen Staaten und Israel verloren gut 70.000 Menschen ihr Leben.

So tragisch und bedauernswert der Tod jedes einzelnen Menschen auch ist: Die internationale Aufmerksamkeit, die hunderten Resolutionen der Vereinten Nationen gegen Israel, die andauernde Skandalisierung seiner Existenz und die Denunziation des jüdischen Staates als brutaler Kriegstreiber und Schlächter der Palästinenser stehen in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit. Der zu dem zentralen Nahost-Konflikt hochstilisierte Konflikt Israels mit Teilen seiner Nachbarstaaten und den Palästinensern gehört zu den kleineren militärischen Konflikten. Die Opferzahlen sind vergleichsweise gering und Israels Militär bemüht sich mit Erfolg, die zivilen Verluste der Gegenseite gering zu halten. Wäre Israel kein jüdischer Staat, die militärischen Auseinandersetzungen, an denen es unfreiwillig beteiligt ist, würden es kaum in die internationalen Nachrichten schaffen. Es ist der Antisemitismus, der dafür sorgt, dass dem nicht so ist.

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