Nehmt uns bitte Tramadol und Tilidin nicht weg

Schmerzmittel Tilidin Foto: Ralf Roletschek Lizenz: CC BY-SA 3.0

Der Spiegel hat in einem Artikel den Behörden ein Versagen bei der Opioid-Kontrolle vorgeworfen. Dabei können die für Patienten sehr hilfreich sein.

Das Schmerzmittel Tramadol (Tramal®) befindet sich seit 1977 auf dem Markt. Es gehört zu den Opioiden. Das sind Wirkstoffe, die über ein körpereigenes System das Schmerzempfinden ausschalten können. Dazu gehören bekannte starke Schmerzmittel wie Morphin oder Fentanyl, aber auch Rauchgifte wie Heroin. Prinzipiell wirken alle Opioide gleich, in der Stärke unterscheiden sie sich jedoch. Tramadol ist wie Tilidin (in Kombination mit Naloxon) mit einer Wirkstärke von 0,05-0,07 (im Vergleich zu Morphin 1) ein sehr schwaches Mittel aus dieser Gruppe. Laut Spiegel-Recherche entwickelt es sich zunehmend zum Problem. Weil das Opioid kein Betäubungsmittel (BTM) ist, erhebt das Magazin schwere Vorwürfe gegen das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und den Original-Hersteller Grünenthal.

Mit drei persönlichen Patientenschicksalen schildert der Spiegel die Gefährlichkeit des vermeintlichen Suchtmittels Tramadol. Ja, es gibt ein Abhängigkeitspotential bei Tramadol. So wie bei allen Opioiden kann es durch die euphorisierende Nebenwirkung zu einer psychischen Abhängigkeit kommen. Eine körperliche Abhängigkeit mit Entzugserscheinung ist aber selten. Das ist auch logisch, bei einer geringen erwünschten Wirkung sind erwartungsgemäß auch die Nebenwirkungen geringer. Die 2,5 Mill. Verordnungen von Tramadol aus dem Jahr 2023 sollen den Leser sicherlich erschüttern oder zumindest wachrütteln. Aber diese Zahl erklärt sich nicht durch das hohe Suchtpotenzial, sondern durch die völlig legitime und notwendige Anwendung als Schmerzmittel. Jeden Tag kommen Patienten mit Verordnungen über Tramadol zu mir in die Apotheke, weil sie Schmerzen haben und nicht, weil sie süchtig sind.

Was der Spiegel nämlich nicht erwähnt, ist der Nutzen den dieses Arzneimittel hat eben gerade, weil es kein Betäubungsmittel ist. Ein niedrigschwelliger Zugang auch zu opioiden Schmerzmitteln ist in der Arzneimitteltherapie äußerst wichtig. Bei Tramadol sind es z.B. kurzeitige Anwendungen bei akuten Verletzungen, Operationen oder starke Zahnschmerzen, wo Ärzte, Zahnärzte und auch wir Apotheker dankbar dafür sind, eben nicht jedes Mal die Formalien des BTM-Verkehrs erfüllen zu müssen.

Aber auch chronische Schmerzen, die ursächlich nicht oder nur unzureichend geheilt werden können, müssen adäquat mit Schmerzmitteln behandelt werden. Das ist auch wichtig um das sogenannte Schmerzgedächtnis zu umgehen. Als Schmerzgedächtnis bezeichnet man die Veränderungen im Gehirn, die durch wiederholte Schmerzerfahrungen entstehen. Interessanter Weise liefert der Spiegel-Artikel mit den beiden ersten Beispielen gleich zwei solche Fälle. Es wird bei beiden Fällen von Sucht gesprochen, obwohl die geschilderten chronischen Schmerzen eine langfristige Behandlung mit Schmerzmitteln, auch Opioiden schlichtweg erfordern. Da die Ursachen der Schmerzen nicht behandelt werden können, kann man wohl kaum von Entzugserscheinungen sprechen, wenn nach Absetzen der Medikamente die Schmerzen wieder da sind.

Durch eine adäquate Schmerztherapie kann die Lebens- und Arbeitsfähigkeit der Betroffenen bewahrt werden. Durch die bessere Möglichkeit sich zu bewegen, wenn der Schmerz unterdrückt wird, bleibt die Beweglichkeit als solche erhalten, was auch die Erkrankung insgesamt positiv beeinflussen kann. Besonders wenn es sich um junge Menschen handelt wie im ersten Fall, ist dies sehr wichtig. Die Schmerzen aushalten zu wollen, ist hier einfach der völlig falsche Weg. Im Zweifel geht man zu einem Facharzt, der erfahren in der Schmerztherapie ist.

Natürlich ist eine Ursachenbehandlung wünschenswert. Sie ist aber, wie man sehr deutlich an dem zweiten Fall erkennt, leider nicht immer möglich. Wie kann Michael U. von Sucht sprechen? Nach dieser Odyssee mit acht OPs und 30 Ärzten ist es vermutlich aussichtslos die Schäden an seiner Wirbelsäule zu reparieren und die dadurch entstehenden Schmerzen ursächlich zu bekämpfen. Das hat nichts mit Sucht zu tun. Das sind chronische Schmerzen. Und für die Behandlung solcher gibt es die Stufentherapie der WHO. Sie beginnt mit Schmerzmitteln, die keine Opioide sind z.B. Ibuprofen, Diclofenac, Paracetamol oder Metamizol (Novaminsulfon). Reicht dies nicht aus, um die Schmerzen zu beseitigen, werden sie mit schwachen Opioiden wie Tramadol oder Tilidin kombiniert. Das meint die Frau im ersten Fallbeispiel mit “härteres Zeug“. Erst wenn, in der zweiten Stufe keine ausreichende Schmerzreduktion zu erreichen ist, tauscht man das schwache Opioid gegen ein starkes aus. Diese Wirkstoffe aus der Gruppe der starken Opioide unterliegen dann der bürokratisch sehr aufwendigen BTM-Regulierung.

Es betrifft eben nicht nur Krebspatienten, die unter chronischen Schmerzen leiden. Auch Patienten mit Nervenkomprimierungen z.B. durch Wirbelsäulenerkrankungen sind häufig von chronischen Schmerzen betroffen. Deshalb ist die Argumentation des BfArM richtig und nicht “suggeriert“: „Die Versorgung von Schmerzpatienten würde sich dramatisch verschlechtern, sollte der Wirkstoff Tramadol als Betäubungsmittel eingestuft werden.“ Die Argumentation ist nicht absurd, wie die vom Spiegel zitierten Experten behaupten. Und der Satz “Wo Opioide wirklich notwendig sind, etwa auf Palliativ- und Krebsstationen, sind auch Medikamente mit Betäubungsmittel-Rezeptpflicht immer verfügbar.“ bezieht sich auf die dritte Stufe der Schmerztherapie, wo Tramadol und Tilidin gar nicht mehr ausreichend wirksam wären. Was ist mit den Patienten der zweiten Stufe der Schmerztherapie, die vielleicht arbeiten und ihren Alltag bewältigen müssen?

Der dritte Fall, bei dem ein Junge nach massivem Medikamentenmissbrauch ums Leben kam, ist zwar tragisch, aber offensichtlich konstruiert. Mit der Aussage „In seinem rechtsmedizinischen Gutachten heißt es, die »im Herzblut gemessene Konzentration an Tramadol liegt bereits im potenziell komatös-letalen Bereich«.“ suggeriert man hier dem Leser, dass Tramadol die Todesursache war. Todesursache war allerdings wohl eher ein Mischkonsum, bei dem der Hauptübeltäter ein Benzodiazepin war. Tramadol war dabei, aber sicher nicht todesursächlich. Deshalb berichtet die Presse auch über einen Tod durch Benzos.  Ich möchte dazu anmerken, dass Benzodiazepine, die zu den Beruhigungsmitteln gehören, bis auf wenige Ausnahmen auch auf normalen Rezept verordnet werden dürfen.

Zu den “Verstrickungen“ der Firma Grünenthal, die ja wegen ihres Contergan-Skandals für immer und ewig das schwarze Schaf der Pharmabranche sein wird, ist vorwegzunehmen, dass sie überhaupt nicht in besonderem Maße von Tramadol-Verordnungen profitiert, da es zu diesem Wirkstoff schon seit vielen Jahren preisgünstige Generika gibt.

Die Spiegel-Recherche beim Bundesinstitut für Arzneimittel für Medizinprodukte (BfArM) und der dort angesiedelten Bundesopiumstelle sowie dem Sachverständigenausschuss für Betäubungsmittel ergab, dass es dort 2010 (!) mal einen Tagesordnungspunkt gab, wo über eine stärkere Regulierung von Tramadol diskutiert wurde. Dazu, dass man dann einstimmig (!) beschlossen hat, dass Tramadol kein Betäubungsmittel (BTM) werden soll, schreibt der Spiegel Folgendes: „Es wäre eine Entscheidung gewesen, die wohl der Gesundheit Tausender Patientinnen und Patienten gedient hätte.“ Nein, diese Entscheidung wurde deshalb so getroffen, weil die Fachleute der Bundesopiumstelle, wissen, dass es Millionen von Schmerzpatienten geschadet hätte, wäre Tramadol ein BTM geworden. Auch wurde der Leiter der Bundesopiumstelle Cremer-Schaefer nicht von Grünenthal bestochen damit Tramadol weiter auf normalem Rezept verordnet werden darf, wie uns der Artikel unterschwellig weismachen möchte. Es war einfach nur eine richtige und ausgesprochen vernünftige Entscheidung aufgrund der vorliegenden Datenlage.

Man musste in Deutschland lange dafür kämpfen, damit Patienten mit sehr starken und/oder chronischen Schmerzen ausreichend mit Schmerzmitteln versorgt werden. Als Grund für die mangelhafte Versorgung der Schmerzpatienten wurden oft die umständliche BTM-Verschreibung und Dokumentation sowie die Vorbehalte der Ärzte wegen des Suchtpotenzial der Wirkstoffe angegeben. Vor allem durch konkrete Leitlinien zur Schmerztherapie und die WHO-Stufentherapie ist die Versorgung der Schmerzpatienten mittlerweile besser geworden. Die offensichtlichen Nachteile der BTM-Verschreibung wie bürokratischer Mehraufwand, lückenlose Dokumentation, keine Möglichkeit für E-Rezepte und Gültigkeit von maximal 7 Tagen, würden zwangsläufig zu einer Unterversorgung führen, wenn auch für die Wirkstoffe der Stufe 2 der WHO-Stufentherapie BTM-Rezepte erforderlich wären.

Und der Missbrauch ist doch trotzdem da. Ob nun Betäubungsmittel oder nicht, es gibt in Deutschland Missbrauch von ganz unterschiedliche Stoffen, dem durch eine stärkere BTM-Regulierung nicht Einhalt geboten werden kann. Der Spiegel will uns mit Sätzen wie diesen: „Die Konsummuster begännen häufig mit Tilidin oder Tramadol und verlegten sich schrittweise auf stärkere Substanzen wie Oxycodon. Jenes Schmerzmittel, das für die sogenannte Opioidkrise in den USA verantwortlich gemacht wird.“ ein Problem einreden, dass wir hier nicht haben. Wir haben in Deutschland keine Opioidkrise. Wir haben aber Millionen von Schmerzpatienten, die gut versorgt werden müssen. Sollen jetzt die Schmerzpatienten leiden, weil die Wirkstoffe in der Partyszene gerade “in“ sind? Gibt es dann auch bald keine Ketamin-Narkosen mehr? Nach dem bereits das Schmerzmittel Flupirtin (Katadolon®) und das Muskelrelaxans Tetrazepam, das häufig bei bestimmten Schmerzen mit verordnet wurde, aus dem Arzneimittelbestand für Schmerzpatienten verschwanden, da die Zulassung von der Europäischen Arzneimittelagentur wegen potentieller Risiken (Leberschäden/Hautausschläge) entzogen wurde, sollen jetzt auch noch die Wirkstoffe der Tramadol und Tilidin stärker reglementiert werden? Was kommt als nächstes? Gibt es dann bald auch kein Codein mehr bei Reizhusten? Weil es ja abhängig macht?

Dass Tramadol und Tilidin (in Kombination mit Naloxon) nicht auf BTM-Rezept verschrieben werden müssen, ist eben kein “fataler Fehler“. Fatal wäre es, den Patienten, Ärzten und Zahnärzten diese einfache Möglichkeit der Verordnung wegzunehmen. Schließlich sichert diese die unkomplizierte Versorgung und in vielen Fällen dadurch auch die Arbeitsfähigkeit und von Schmerzpatienten, die glücklicherweise noch keine starken Opioide benötigen.

Witzig ist auch die Grafik, die suggerieren soll, wie stark der Umsatz bei Grünenthal nach der “Entscheidung“ im BfArm anstieg. Der entsprechende Peak kam nur dadurch zustande, weil die Firma in diesem Zeitraum zufällig Rabattverträge mit der AOK hatte. Die Anzahl der Patienten, die den Wirkstoff Tramadol insgesamt erhalten haben, blieb jedoch unverändert.

Die Behörden haben nicht versagt, sondern vernünftig und im Sinne der Ärzte, Zahnärzte und Patienten entschieden. Wir brauchen keinen “durchsetzungsstarken Staat“, sondern Regulierungen im Sinne der Patienten. Und die haben wir bei Tramadol. Eine Warnung in Beipackzettel und Fachinformation reichen aus, um auf das Suchpotenzial hinzuweisen. Jeder gute Arzt oder Zahnarzt wird dies bei seiner Verordnung berücksichtigen.

Dieser konstruierte Möchtegern-Skandal zum Pharmakonzern Grünenthal mit einer ollen Kamelle aus dem Jahre 2010 wird von uns Apothekern wohl eher belächelt, denn wir wissen es besser. Die Pharmazeutische Zeitung resümiert hier richtig: „Was das Apothekenpersonal aus dieser Recherche unabhängig vom rechtlichen Status der Substanzen ziehen kann: Tramadol und Tilidin werden offenbar zunehmend in der Drogen- und Partyszene missbraucht. Entsprechende Verordnungen sollten sorgfältig auf Fälschungen und Missbrauch geprüft werden.“

 

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
1 Kommentar
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
vormals SvG
vormals SvG
13 Stunden zuvor

Der Spiegel halt. Relotius lebt; für immer.

Werbung