Haben Sie einen Mikropenis? Oder eine herkömmliche Vulva? Und können Sie Kinder kriegen? Was denn, stören diese Fragen Sie? Dann können Sie ja froh sein, dass Sie nicht boxen. Wenn Sie boxen würden, müssten Sie das alles nämlich über sich ergehen lassen. Und ja, es lässt sich sicherlich nicht völlig vermeiden, dass man, wenn man sich entscheidet, im Spitzensport mitzumischen, einerseits medizinisch unter die Lupe genommen wird (auch wenn das in den meisten Fällen erfolgt, um Doping auszuschließen) und andererseits im Lichte der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Diese Öffentlichkeit darf man dann aber im Gegenzug auch mal bespiegeln.
Wahrscheinlich war die rechte Meute regelrecht ausgehungert nach einer Transfrau bei Olympia, schließlich hat man die ganze Zeit die Bedrohung im Sport durch Männer in Frauengestalt beschworen und jetzt müsste sich das dräuende Problem doch langsam auch mal auf der großen Bühne zeigen. Beim ESC hat man schließlich gesehen, wie weit es schon ist. Sie sind überall! Bloß nicht bei Olympia, bis jetzt, irgendwie. Aber die feinen Antennen erkennen eine falsche Frau auch ohne „trans“-Siegel und stürzen sich dann eben auf eine (mutmaßlich) intersexuelle Person. Wie wenig Fakten überhaupt noch interessieren, ließ sich bei etlichen Diskussionen beobachten. Darauf hingewiesen, dass es gar keine Transfrau ist, warf manch tapferer Diskutant stattdessen andere halbgare Fakten in den Raum, die größtenteils genauso falsch waren oder wenigstens nicht offiziell bestätigt. Aber die waren letztlich auch egal, weitere Gegenargumente ließen sich nämlich immer noch mit einem „Ich sehe, dass das nicht der Körperbau einer Frau ist!“ abbügeln. Und damit haben sich die ganzen medizinischen Tests dann ja erübrigt.
Dass mutmaßlich intersexuelle Personen im Sport auffallen, ist kein neues Phänomen und dass sie abwertend behandelt werden ebensowenig. Die völlige Enthemmung, mit der auch in seriösen Medien – und erst recht in den Kommentarspalten – über die Geschlechtsmerkmale und denkbaren genetischen Defekte gesprochen wird, die dürfte aber neu sein. Auch wenn wir nicht hinter die sexuelle Revolution zurückwollen und uns keine Prüderie wie vor 68 wünschen, könnten wir dennoch mal innehalten und uns daran erinnern, dass es eine Zeit gab, in der man es schlicht „unanständig“, aber vielleicht ja auch respektlos oder indiskret gefunden hätte, so enthemmt über sexuelle und intime Fragen zu sprechen.
Der rechte Mob ist diesmal besonders unangenehm aufgefallen, aber das Phänomen findet man auf beiden Seiten des woke/antiwoken Grabens. Denn auch die vermeintlichen Verteidiger von Imane Khelif ließen es sich nicht nehmen, aller Welt zu erläutern, welche Gene und welche Geschlechtsmerkmale sie angeblich hat oder nicht hat. Absurd ist dabei, wie beide Seiten Intersexuelle zu vereinnahmen versuchen. Denn eigentlich zieht die „woke“ Seite ja permanent Intersexuelle heran, um ihre These zu untermauern, dass es gar keine Geschlechter gäbe, dass das ja alles nur ein „Spektrum“ wäre (siehe dazu auch hier). Aber jetzt springen sie Khelif bei und bürgen dafür, dass sie ganz sicher eine „Cis-Frau“ sei. Konsequenterweise müssten sie sagen, es gäbe so etwas wie Cis-Frauen gar nicht und Khelif sei der Beweis, dass die Kategorien abgeschafft gehören. Passt aber gerade nicht. Die „transkritische“ Seite hingegen, die immer schnell dabei war, Trans- und Intergeschlechtlichkeit streng zu trennen, solange es opportun war, haut auf einmal auf alles im Sack drauf, was starke Arme hat.
Und eine Grenze war längst überschritten, als Transpersonen gefordert haben, man habe gefälligst eine Frau mit Penis attraktiv zu finden, alles andere sei Diskrimierung. Das sind Übergriffe in die Privatsphäre (mal ehrlich: was könnte intimer sein als die Frage, was jemand attraktiv findet?), die bei einer überall online zur Schau gestellten Innenwelt vielleicht immer normaler werden, denen man aber ruhig mal altmodische Worte wie „Anstand“ oder „Diskretion“ entgegen stellen kann. Das sind konservative Begriffe, auch wenn die Konservativen sie selbst genüsslich vergessen haben.
Frau Khelif lebt damit, nicht den gängigen Schönheitsidealen zu entsprechen. Und Berichten zufolge sollte sie, wenn es nach ihrem Vater ging, als Mädchen eigentlich gar keinen Männersport machen. Sie hat eine Nische gefunden, in der ihre Erscheinung kein Nachteil ist. So wie ein kleingewachsener Mann vielleicht als Jockey brillieren kann. Es kann sein, dass sie medizinische Voraussetzungen hat, die gegen die Regeln verstoßen. Dass müssen die Veranstalter klären. Mit Hilfe von Ärzten. Die unterliegen aus gutem Grund der Schweigepflicht. Wenn sie ihr Okay geben, ist es okay. Wenn nicht, geht der Grund uns nichts an.
(edit 5.8.2024, 12:55: Eine verwendete Formulierung wurde geändert, weil sie unabsichtlich despektierlich klang)
Ja, die Diskussion ist nicht anständig. Aber welche ist das zu Zeit schon bei symbolisch aufgeladenen Themen. Was Fairniss im Sport betrifft, ist es jedoch egal ob jemand durch Intersexualität oder durch Transsexualität strukturell körperlich überlegen ist. Für den dadurch Unterlegenen kommt es auf das gleiche raus. Khelif hat sich nämlich hier eben nicht nur eine Nische gesucht, in der ihre Erscheinung kein Nachteil ist, sondern auch eine in der ihre besondere biologisch-körperliche Verfassung für sie von erheblichem Vorteil ist.
Wenn es die Kategorien Männer/Frauensport gibt (und natürlich ist das sinnvoll, weil Männer und Frauen sich unterscheiden), muss es Kriterien geben, festzulegen, wer eine Frau und wer ein Mann ist. Selbstdefinition kann nicht ausreichen.Frauen haben sich die olympische Teilnahme im Boxsport erst 2012 erkämpft, jetzt ist dies gefährdet, wenn am Ende zwei Personen im Finale stehen, bei denen völlig unklar ist, inwiefern sie Frauen sind und ob hier faire Wettbewerbsbedingungen vorliegen.
Mag sein, dass die Debatte nicht „anständig“ geführt wird, das hätte man ein ganzes Stück durch Transparenz verhindern können. Zu dieser Transparenz ist der IOC nicht bereit. Warum nicht?
Lustig ist, anderen „Unanständigkeit“ vorwerfen und dann den Satz raushauen „Frau Khelif gewinnt keinen Schönheitspreis“.
Was an diesem Urteil nun „anständig“ sein soll und was es zu einer sachlichen Debatte beiträgt, bleibt das Geheimnis des Autors.
Danke!
Ich finde es wirklich unterirdisch, wie in manchen Beiträgen (auch bei den Ruhrbaronen) mit Unterstellungen gearbeitet und geurteilt wird. Ja, es muss Regeln geben und ja, deren Einhaltung muss überprüft werden. Aber es gibt kein Recht der Öffentlichkeit auf das Wissen um intime Details.
Die Formulierung haben viele Leser als despektierlicher empfunden als sie gemeint war, habe sie daher geändert. Danke für den Input.
@Robert von Cube
Ok, Danke!
Ich finde die neue Formulierung allerdings immer noch wenig zielführend für eine sachliche Debatte, denn auf gar keinen Fall kann die Beurteilung der „Schönheit“ von Frauen oder die Frage, wie sehr eine Person den gängigen Geschlechter-Stereotypen entspricht, ein Kriterium sein, zu bestimmen, ob sie im Männer- oder im Frauensport teilnehmen kann.
Das ist ja nicht das Problem, da allein unter dem Gesichtspunkt „Abweichung von Stereotypen“ kein Wettbewerbsvorteil (oder eine Gefahr für Frauen) entstünde. Es ist irrelevant.
Und nach meiner Wahrnehmung wird die Debatte so nicht geführt und sollte es auch nicht.
Ein solch unaufgeregten und sachlichen Beitrag zu diesem thema, hatte ich bei den Rb schon gar nicht mehr erwartet. Danke dafür, Robert.