Im Juli 2018 einigten sich die EU und Japan auf den Abschluss eines umfassenden Freihandelsabkommens, kurz Jefta. Das EU-Parlament wird das Abkommen im Dezember ratifizieren, bereits Anfang 2019 könnte es also in Kraft treten. Es gibt gute Gründe, dem Abkommen kritisch gegenüberzustehen. Wie bei den anderen großen Freihandelsabkommen der letzten Jahre ist zum Beispiel der intransparente Aushandlungsprozess problematisch. Das Online-Projekt „netzfrauen.org“ – eine selbsterklärte unabhängige Informationsplattform mit immerhin mehr als 240.000 Followern auf Facebook – entschied sich dieser Tage statt sachlicher Kritik für wahnhafte Desinformation über die Folgen des Abkommens. Die EU, so eine Meldung auf der Seite, würde ihren Bürgern wissentlich verstrahlte Lebensmittel aus Fukushima vorsetzen. Das ist aus vielerlei Gründen Unsinn. Die Meldung und die Reaktionen darauf zeigen aber exemplarisch, dass der politische Diskurs in Deutschland nicht nur in neu-rechten Echokammern zunehmend von haltloser Angstmacherei und Misstrauen gegen politische Eliten bestimmt ist. Unser Gastautor Hanno Jentzsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Japanstudien in Tokyo und beschäftigt sich unter anderem mit dem Wandel des japanischen Agrarsektors.
Der entsprechende Artikel – zweifach verbreitet über die Facebook-Seite der „Netzfrauen“ und mehr als tausendfach geteilt – ist eine ärgerliche Mischung aus falsch konstruierten Zusammenhängen und vollkommener Unkenntnis. Mit der Ratifizierung des Abkommens, so der Tenor, seien Verbraucherinnen und Verbraucher in Europa bald schutzlos der Einfuhr von verstrahlten Lebensmitteln ausgesetzt. Der einfache Grund: Japan ist das Land der Atomkatastrophe in Fukushima. In der Tat spielte die Liberalisierung des Handels mit Agrarprodukten eine Rolle in den Verhandlungen zu Jefta. Profitieren werden davon allerdings vor allem europäische Produzenten, und hier ganz besonders die Fleischindustrie. Der japanische Agrarsektor dagegen befindet sich seit Jahrzehnten im wirtschaftlichen Abstieg. Das Land hat die geringste Selbstversorgungsrate aller Industrienationen, auch schon vor der dreifachen Katastrophe im März 2011. Das Exportvolumen ist dementsprechend gering und erreicht vor allem den asiatischen Raum. Japans Agrarexporte in die EU machen aktuell 0,5% des Gesamtexportvolumens aus. Der überwiegende Anteil entfällt zudem auf Sojasoße und alkoholische Getränke – also verarbeitete Güter, für die die Rohmaterialien nicht unbedingt in Japan angebaut wurden. Japan bezieht Sojabohnen vor allem aus den USA. Japanisches Bier wird hauptsächlich aus importiertem Getreide aus Nordamerika und Hopfen aus Deutschland gebraut, und auch der beliebte japanische Whisky kann nur mit importierten Rohmaterialien hergestellt werden. Umgekehrt machen Agrarprodukte 10,6% der Importe aus der EU nach Japan aus. Das Exportvolumen übersteigt den japanischen Wert um das 20-fache.
Ungeachtet dieser Zahlen konstruiert der Artikel mit dem Hinweis auf das Gesamtvolumen der Handelsbeziehung eine fasche Drohkulisse: Japan sei immerhin der drittgrößte Handelspartner der EU! Das stimmt, aber es betrifft eben nicht die Lebensmittelbranche – obwohl die japanische Regierung seit einigen Jahren versucht, Agrarexporte zu fördern, ist es in der Realität nach wie vor schwer bis unmöglich, japanische Agrarprodukte in deutschen Supermärkten zu kaufen – Reis, Gemüse, Obst oder Fleisch aus Japan (geschweige denn aus der Gegend um das havarierte Kernkraftwerk in Fukushima) bekommt man in Deutschland nicht einmal, wenn man sich beim Einkauf sehr viel Mühe gibt. Der Hokkaido-Kürbis bei Rewe ist aus Argentinien, Spanien oder Deutschland – käme er aus Japan, wäre er wohl mindestens fünfmal so teuer. Daran wird sich auch in naher Zukunft nicht viel ändern, da die japanische Landwirtschaft generell hoffnungslos überaltert ist und zu kleinteilig und zu teuer für den deutschen Markt produziert. Weit mehr als die Hälfte der Bauern ist über 65 Jahre alt, und die wenigsten haben einen Nachfolger für ihre winzigen Parzellen. Grüner Tee aus Japan kommt zwar in geringen Mengen in Deutschland an, wird aber größtenteils im westlichen und südlichen Japan hergestellt, also hunderte von Kilometern vom havarierten Kernkraftwerk in Fukushima entfernt. Wer sich dennoch um Strahlungsbelastung sorgt, kann auch weiterhin auf den grünen Tee zurückgreifen, der in Indien, Sri Lanka oder Afrika produziert wird. Ob das allerdings ethisch und gesundheitlich besser ist, ist fraglich. Mehr Sorgen um Verseuchung sollte Fisch bereiten – aber auch hier ist das Importvolumen aus Japan sehr gering (nur 0,1% der Gesamtexporte in die EU). Die japanische Küstenfischerei kämpft zudem mit ähnlichen Problemen wie die Landwirtschaft und spielt im Welthandel nur eine sehr kleine Rolle. Verseuchten Fisch aus der industriellen Hochseefischerei dagegen bringen deutsche, norwegische oder chinesische Fangflotten auch ohne das Abkommen mit Japan auf den Markt.
Für europäische Produzenten dagegen verspricht das Jefta-Abkommen besseren Zugang zum großen japanischen Markt. Nicht umsonst hat der parlamentarische Staatssekretär Fuchtel vom Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf seiner derzeitigen Reise nach Japan seine Delegation zur Hälfte mit Schlachtbetrieben und einem Winzer besetzt. Kurz – wenn im Bereich Landwirtschaft überhaupt ein Schaden durch Jefta entsteht, dann für japanische Bauern, die international nicht konkurrenzfähig produzieren. Dass deutsche und europäische Märkte mit verstrahlter Ware überschwemmt werden, ist dagegen eine grob irreführende Behauptung. Es ist allerdings eine Behauptung, die beim Publikum der „Netzfrauen“ auf große Resonanz trifft. In den Kommentaren zeigen sich viele Menschen ernsthaft besorgt über die Gefahren bei zukünftigen Einkäufen. Eine Frau kündigt den Kauf eines Geigerzählers an. Viele Kommentare wittern eine Art Volksverrat durch das „Verbrecherpack in Brüssel“, das selber reich genug sei um dem Kauf der verstrahlten Ware aus dem Weg gehen zu können. Andere beschwören angesichts des Abkommens den Umschwung hin zu regionaler Ware von kleinen Produzenten – sicher kein falscher Ansatz, aber schon etwas ironisch angesichts der Tatsache, dass deutsche Betriebe um ein vielfaches großflächiger und industrieller produzieren als die allermeisten japanischen Bauern.
Es sind jedoch genau diese emotionalen und empörten Reaktionen, die von der Facebook-Seite der „Netzfrauen“ durch das bewusste oder zumindest fahrlässige Verbreiten von Falschinformationen geschürt werden. Ein Kommentar von mir (eine Kurzfassung der Argumentation oben) wurde dagegen innerhalb von Minuten gelöscht. Ich wurde zudem gänzlich blockiert. Der Frau mit dem Wunsch nach dem Geigerzähler hingegen antwortet ein Admin der „Netzfrauen“ mit einem düsteren „Na, dann nimm schon mal Geld in die Hand“. Man habe seitens der Netzfrauen unermüdlich auf die Gefahren durch die verstrahlte Ware aus Japan hingewiesen, so ein weiterer Post. Nun sei das Abkommen jedoch beschlossene Sache – wer das Geld für den Geigerzähler grad nicht parat hat, ist also dazu verurteilt, Opfer der Menschenfeinde in Brüssel zu werden.
Nicht nur die EU ist ein geeignetes Feindbild für derartige Angstmacherei. Auch Japan ist eine ideale Projektionsfläche – das Land ist weit weg (sowohl geographisch als auch in der alltäglichen Wahrnehmung), Behauptungen sind schwer zu überprüfen, viele Menschen sind sicher gern bereit, dem Inselstaat die absurdesten Machenschaften zuzutrauen, und sowieso: Fukushima! Generell kommen die alltäglichen Horrormeldungen über den verkommenen Zustand der Menschheit, die bei den „Netzfrauen“ verbreitet werden, gerne aus eher abgelegenen Gegenden der Welt. Dabei besetzt die Seite meist Themen, die bei weiten Teilen der gesellschaftlichen Linken in Deutschland als auch international anschlussfähig sind – Konsumkritik, die Blockade von Standing Rock, Lobbyismus, Rüstungsexporte, Glyphosat oder Tierschutz, allesamt aufbereitet mit schockierenden Bildern und (das legt nicht nur der Jefta-Artikel nahe) Fehlinformationen und verzerrtem Kontext.
Muss man sich mit diesem Unsinn überhaupt beschäftigen? Leider ja. Emotionsgetriebene Reaktionen auf mehr oder weniger haltlose Behauptungen und wahnhaftes Misstrauen gegenüber „Mainstream-Medien“ und politischen Eliten wird immer noch gern der neuen Rechten oder den USA in der Ära Trump zugeschrieben. Das Abdriften des politischen Diskurses in die reflexhafte Äußerung von Fundamentalkritik („die EU ist ein totaler Drecksverein und gehört sofort aufgelöst!“, Kommentar zur Meldung über Jefta) ist aber genauso auch jenseits der rechten Echokammern zu verorten. Unter dem Deckmantel der angeblichen Aufklärung verzerrt und erschwert die irrationale Angstmacherei von „progressiven“ Seiten wie Netzfrauen und die damit einhergehende Emotionalisierung täglich die politische Debatte um wichtige politische Themen. Dagegen hilft nur sachliche Gegenrede, auch wenn es anstrengend ist.
Ehrlicherweise sollte nicht unerwähnt bleiben, dass ich in einem zweiten Kommentar auf der „Netzfrauen“-Seite behauptet habe, Japan würde den Reis, der bei der Atomkatastrophe in Fukushima explodiert ist, als Puffreis nach Europa exportieren. Die Trollerei hat natürlich mehr Spaß gemacht als die „sachliche Gegenrede“. Aber was soll‘s – beide Kommentare wurden gleichermaßen gelöscht.
Ein schöner Artikel, der aber die Perfidität der Netzfrauen nur ankratzt.
Ich beschäftige mich im Rahmen der Gruppe "Gesperrt bei den Netzfrauen" seit ein Paar Jahren mit dem Projekt. Es scheint, als wären die Motive nicht in irgendeine politischen Narrative verankert, sondern ganz banal darin, Kohle zu machen. Das belegen zahlreiche mehr oder weniger subtile Spendenaufrufe, die Tatsache, dass auf der Homepage der Netzfrauen Werbung geschaltet ist und bereits mindestens 2 Weltreisen bezahlbar wurden. Angeblich zu Recherchezwecken…
Nebenher gibt's auch noch eine große Portion Egoboosting.
Guter Artikel!
Kritische, sachliche, hinterfragende, aufklärende Kommentare, selbst einfache höfliche Fragen werden von der lügenden Netzhetzfrau Schreier (die Netzfrauen bestehen ja zu gefühlt 99% nur aus dieser Person) abgebügelt, mit Beleidigungen bedacht oder umgehend gelöscht. So schafft sie sich eine monetär nützliche Filterblase von Empörungsfanatikern, die jeden noch so dämlichen Erguss aufsaugen, bejubeln und wiederkäuen. Die verblendeten Lemminge erkennen nicht mal die wiedersprüchliche Verlogenheit, wenn diese ihnen von der weltreisenden Pseudoaktivisten selbst mit entlarvenden Urlaubsfotos vor die Füße fällt.
LG, Claudia
Lebensmittel aus Japan?
Wie weltfremd muss man sein, um hier eine Gefahr für D zu sehen.
Aber beim Theman Strahlen, Atom etc. brechen wohl Urängste aus, die jedes Nachdenken und selbst einfachste Plausi-Checks blockieren.
Das gilt bspw. auch bei den Diskussionen zum Thema Kernfusion. Da bricht auch zu oft direkt Panik wg. des Atoms aus.