Neustart für den Libertarismus

Eugène Delacroix – Die Freiheit führt das Volk
Eugène Delacroix – Die Freiheit führt das Volk

Wer sich neue humanistische Politikansätze wünscht, muss damit anfangen, die Freiheit ernst zu nehmen. Von unserem Gastautor Frank Furedi.

Der Begriff „Libertarismus“ hat über die Jahrhunderte hinweg eine Vielzahl von Interpretationen erfahren. An einem Ende des politischen Spektrums wurde er mit rechtsgerichteten Anhängern des freien Marktes in Verbindung gebracht, am anderen Ende mit radikalen Anarchisten. Ende des 19. Jahrhunderts bezeichneten sich manche als libertäre Sozialisten oder sogar libertäre Kommunisten. Heute assoziiert man mit dem Begriff Libertarismus eine Ablehnende Haltung gegenüber dem Anwachsen staatlicher Interventionen ins soziale und ökonomische Leben.

 

Das Wort „Libertarismus“ wird aktuell oft als Schimpfwort gebraucht. Es gilt vielen als Synonym für Kaltherzigkeit und einer Politik im Dienste individueller Gier. Die Geschichte zeigt uns jedoch, dass libertäre Ideale der Kulminationspunkt einer langandauernden humanistischen Revolution von der Renaissance bis zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts sind.

Die Revolte gegen den Determinismus

Wer entscheidet die Geschicke des Einzelnen? Wie sehr wird unsere Zukunft durch den Gebrauch des freien Willens bestimmt? Das Schicksal der Menschheit war seit Anbeginn der Geschichte ein kontroverser Gegenstand. In der Antike waren verschiedene Gottheiten mit der Macht ausgestattet, die menschlichen Ambitionen zu durchkreuzen oder den Menschen ihre Gunst zu gewähren. So verehrten die Römer die Göttin Fortuna für ihre Gewalt über menschliche Angelegenheiten. Sie glaubten aber auch, wahrhaft tugendhafte Männer könnten sich ihrem Einfluss mehr oder weniger entziehen. Diese Ansicht spiegelt sich im lateinischen Sprichwort „das Glück ist mit den Mutigen“ wieder. Der Glaube, der Macht Fortunas könne durch menschliches Bestreben und den Gebrauch des freien Willens Einhalt geboten werden, ist eines der wichtigsten Vermächtnisse des Humanismus. Es ist dieser Glaube an das Vermögen der Menschen, Schmiede ihres eigenen Glücks zu sein, der in der Renaissance aufblühte und Menschen eine Welt erträumen ließ, in der sie sich Fortunas Gezeiten widersetzten.

Es dauerte noch etwas, bis sich der Gedanke verbreitete, dass das Schicksal des Einzelnen überhaupt nicht vorherbestimmt ist. Machiavelli versuchte die Verflechtungen zwischen Vorherbestimmtheit und freiem Willen zu entwirren. Er vertrat die Ansicht, dass vieles im Leben weder vorhergesehen noch unter Kontrolle des menschlichen Willens gebracht werden könne. Nichtsdestotrotz zog er den Schluss, dass die Hoffnungen der Menschen sich erübrigten. Und zwar nicht durch die Hand Fortunas, sondern durch das Versagen des Menschen, Risiken einzugehen und sich verändernden Umständen anzupassen. So stark Fortunas Kräfte auch seien, der freie Wille könne sie beschränken, manchmal sogar unterwerfen. Während der Renaissance weckte ein neuer Optimismus hinsichtlich der Fähigkeiten der Menschen, ihre Zukunft zu beeinflussen, die europäische Gesellschaft aus ihrem langen Winterschlaf. Der Historiker Quentin Skinner bemerkte, dass eine wichtige Form dieses Optimismus die humanistische Betonung des Konzepts des freien Willens war.1

Der graduelle Rückgang einer fatalistischen religiösen Doktrin, beispielsweise durch die protestantische Reformation, hatte nicht zur Folge, dass deterministische Philosophien ihren Einfluss verloren. Im 17. und 18. Jahrhundert waren säkulare Lehren über eine mechanische Kausalität und Naturdeterminismen auf dem Vormarsch. Auch als Reaktion auf solche Tendenzen bildete sich der Libertarismus als distinktive politische Orientierung heraus. Als Antwort auf die religiösen, intellektuellen, ökonomischen und politischen Beschränkungen der alten Ordnung traten radikale Ideen der Freiheit in den Vordergrund. Gestützt wurde dieser Ruf nach Freiheit durch die Überzeugung, der Einzelne sei in der Lage, sich seines freien Willens zu bedienen. Die Idee der Freiheit war untrennbar mit der Vorstellung verbunden, jeder könne selbst über seine Zukunft bestimmen.

In seinen frühen Tagen zelebrierte der Libertarismus das Prinzip des freien Willens. Denn im Gegensatz zu den religiösen Prädestinationsdoktrinen und fatalistischen Philosophien mechanischer Kausalität liegt die Betonung des Libertarismus auf Selbstbestimmung. Der philosophische Gegenpol dieser Position nannte sich Nezessitarismus. Das Wesen dieser Doktrin lag in der Überzeugung, jede menschliche Handlung sei notwendigerweise durch die Gesetze der Kausalität determiniert. So beruhte der Konflikt zwischen Libertarismus und Nezessitarismus auf den grundlegend verschiedenen Positionen bezüglich Determination und Selbstbestimmung. Das besondere Prinzip, auf dem der Libertarismus beruht, ist das der Autonomie: ein Ideal, welches sich grundlegend antithetisch zu den unterschiedlichen Determinismen der Moderne verhält.

Autonomie bedeutet, dass Personen als aktive, vernünftige und bewusste Individuen mit der Welt interagieren. Die Etymologie dieses Wortes verrät uns so einiges: autos, das Selbst, und nomos, die Regel – selbst-reguliert. Der Begriff findet sich das erste Mal in den griechischen Stadtstaaten. Einer Darstellung zufolge erlangte eine Stadt Autonomie, wenn ihre Bürger ihre eigenen Gesetze machten und nicht einer Eroberungsmacht unterlagen. 2Einer autonomen Person wird eine moralische Unabhängigkeit und Verantwortung unterstellt. 3 Durch den Gebrauch der Autonomie entwickeln Individuen Persönlichkeit und übernehmen Verantwortung für sich selbst. Die Kultivierung moralischer Unabhängigkeit verlangt vom Menschen, dass er seine eigenen Schlüsse zieht und sich seine eigene Meinung bildet.

Das Ancien Régime, welches durch seine Institutionen Sitten und Traditionen verteidigte, betrachtete Liberalismus und seine Ideale des freien Willens, der Autonomie und der Selbstbestimmung als Pervertierung der natürlichen Ordnung. Aber nicht nur Traditionalisten diskreditierten die Prinzipien des freien Willens und der individuellen Rechte. Eine wahrhaftige Armee von Philosophen und Ideologen begehrte im 19. Jahrhundert gegen die Idee des freien Willens auf und ersetzte diese durch eine ganze Reihe neuer Doktrinen des Determinismus. Konservative wie Edmund Burke argumentierten, die Handlungen des Einzelnen seien durch das Vermächtnis der Vergangenheit eingeschränkt. Mit diesem Geschichtsdeterminismus sollte explizit die „Arroganz“ der Individualisten untergraben werden.

Andere argumentierten für andere Formen des Determinismus. Großer Beliebtheit erfreute sich im 19. Jahrhundert der Determinismus der natürlichen Selektion. Ihm zufolge war der freie Wille Unfug, da Menschen Gefangene ihrer eigenen Biologie seien. Andere sprachen vom kulturellen Determinismus, also der Idee, dass der menschliche Wille durch seinen kulturellen Hintergrund geprägt sei. Und schließlich vom ökonomischen und sozialen Determinismus: demnach haben soziale Normen und ökonomische Realitäten einen derartig starken Einfluss auf das menschliche Leben, dass Selbstbestimmung zur Illusion verkomme.

In gleichem Maße vermittelten diese Determinismen den Gedanken, der Mensch könne seine Interessen nicht selbst realisieren. Durch sie wurden die Expansion des Staates und die Verabschiedung paternalistischer Gesetze gerechtfertigt. Der Staat wurde als Institution dargestellt, mit deren Hilfe die „Exzesse“ und „Grenzen“ individuellen menschlichen Handelns korrigiert werden könnten.

Spannungen im Libertarismus

In der Geschichte beanspruchte eine ganze Reihe von Bewegungen den Libertarismus für sich. Im 19. Jahrhundert wurden klassische Liberale als „Libertäre“ bezeichnet. Das gleiche galt oft für Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten am anderen Ende des ideologischen Spektrums. Gegnern der Sklaverei und später den Suffragetten haftete ein ähnliches Etikett an. Wenn uns heute der Libertarismus als gängiges rechtes Dogma präsentiert wird, lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, welche Rolle er in den politischen Diskursen der 1960er spielte.

Die Frage nach der richtigen Haltung gegenüber Markt und Privatbesitz spaltete linke und rechte Libertäre. Liberal-Libertäre sahen im Privateigentum stets den Schlüssel zur Realisierung individueller Freiheiten. Im Gegensatz dazu stellten libertäre Anarchisten und Sozialisten Privateigentum in Frage, da es dem Arbeiter die Freiheit nehme, unabhängig zu arbeiten.

Linke wie rechte Libertäre einte eine gemeinsame Skepsis gegenüber staatlichen Aktivitäten; Fragen nach privatem Besitz und freiem Markt entzweiten sie. Tatsächlich existieren noch weitere Spannungen innerhalb des Libertarismus, welche kaum oder wenig Beachtung finden: Betroffen sind Streitfragen rund um Demokratie und Souveränität. Einige liberale Vordenker, wie beispielsweise der britische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill, hatten eine zumindest ambivalente Haltung gegenüber dem Thema Massendemokratie. So wurde befürchtet, diese könnte zu Konformismus anregen und den Einzelnen daran hindern, seine Autonomie inmitten der Masse zu entfalten. Andere, wie Thomas Paine, erkannten jedoch, dass individuelle Freiheit und die Souveränität der Bürger untrennbar miteinander verbunden sind.

Die Streitfragen hinsichtlich Demokratie und Souveränität des Einzelnen sind weitaus grundlegender als es die Differenzen über die Rolle des Marktes sind, da sie die Autonomie ansprechen. Denn nur Autonomie kann die einzig wahre Grundlage sein, auf der ein Libertarismus im 21. Jahrhundert erblühen und gedeihen kann. Indem er sich auf sein humanistisches Vermächtnis rückbesinnt und die deterministischen Doktrinen der Gegenwart in Frage stellt, kann der Libertarismus sich heute selbst neues Leben einhauchen.

Libertarismus muss konsistent sein

Vom 19. Jahrhundert ausgehend konnten wir in vergangenen Jahrzehnten den Aufstieg antihumanistischer Denktraditionen beobachten, die menschlicher Selbstbestimmung feindlich gegenüber stehen. Zeitgleich haben staatliche Einflussnahmen auf das wirtschaftliche Leben versucht, die Freiheit des Marktes zu untergraben. Seit dem letzten Jahrhundert bis zum heutigen Tage hat der Staat seine Einmischung in das Leben des Einzelnen bis in dessen Privatsphäre ausgeweitet.

Die stetige Expansion staatlicher Interventionen in alle erdenklichen Bereiche menschlichen Lebens bestärkte die Opposition Liberaler und Libertärer. Diese Reaktion zeigte sich jedoch oft als inkonsistent und beschränkte sich auf die Kritik an staatlicher Bevormundung. So reagierten linke Libertäre in den 1960ern auf die zahlreichen legalen wie informellen Einschränkungen persönlicher Freiheiten. Hinsichtlich anderer staatlicher Eingriffe in das soziale und wirtschaftliche Leben schwiegen sie jedoch. Seit den 1970ern wird das Anliegen, den Markt vom Staat zu lösen, mit einer eher rechten Variante wirtschaftlichen Libertarismus assoziiert. Wenn es um die Kritik an staatlicher Einmischung in die Privatsphäre geht, haben sich Vertreter einer solchen Spielart als überaus zurückhaltend präsentiert.

Dass der Libertarismus sich nicht den Einfluss erkämpfen konnte, den er verdient, liegt auch daran, dass er den Zugang zu einigen seiner Schlüsseleigenschaften verloren hat – wie etwa den Topos des freien Willens und der Persönlichkeitsrechte. Zu oft haben sich Libertäre unbeabsichtigt auf den Feldern bewegt, die längst von ihren deterministischen Kontrahenten besetzt waren. Beispielsweise haben Advokaten des freien Marktes das thatcheristische Diktum der Alternativlosigkeit befürwortet („There is no alternative“). Ohne Alternative wird die Idee des freien Willens und der Selbstbestimmung zur leeren Phrase. Diese Alternativlosigkeit, die selbst eine Form des Determinismus verkörpert, verhält sich antithetisch zu den Prinzipien individueller Autonomie. Die libertären Pioniere selbst erklärten kühn, dass es in jedem Fall eine Alternative zur alten Ordnung gebe. Libertäre Vordenker wie Paine priesen ein Konzept der Freiheit an, das die Gedanken der individuellen Rechte und der Souveränität bekräftigte. So basiert der liberale Widerspruch gegen den paternalistischen Staat auf dem Bekenntnis zu Demokratie und Selbstbestimmung.Das Prinzip der Selbstbestimmung bleibt für den libertären Humanismus fundamental. Das Vermögen der Autonomie ist eines der wichtigsten Eigenschaften des Menschen. Aus diesem Grund ist der Libertarismus humanistisch und der Humanismus libertär. Denn Libertarismus vertraut auf den Menschen und sein Potential und bekräftigt die, die glauben, ihr Handeln könne wirklich etwas verändern. Aber um dieses Potential wahrlich auszuschöpfen, müssen Libertäre Argumente entwickeln, die ihren Idealen von Freiheit und Autonomie gerecht werden.

Menschliches Handeln hat oft unerwartete Folgen. Auch solche, mit denen man nur schwer leben kann. Nichtsdestotrotz bietet das Ideal der Autonomie dem Menschen die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, und es resultiert nicht selten in Fortschritt. In der Geschichte waren es diejenigen, die Autonome ernst genommen haben, die repressive Institutionen und Willkürherrschaft erfolgreich herausgefordert haben. Um die bestmöglichen Bedingungen für die menschliche Entwicklung zu garantieren, sollte sich eine aufgeklärte Gesellschaft dem Ideal individueller Autonomie verschreiben. Gesellschaften, denen das nicht gelingt, werden letztlich von einer fatalistischen Kultur bestimmt und riskieren, in Stillstand zu verfallen.

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Reinhard Matern
8 Jahre zuvor

Eine vermeintliche Renaissance der "Idee des freien Willens" hilft nicht darüber hinweg, dass diese Idee aus neurowissenschaftlicher Sicht nicht haltbar ist. Und 'Autonomie' auf dieser Illusion zu gründen, führt lediglich zu bekannten Parolen und Schlagworten, die heute nichts mehr sagen. Vielleicht ist dies die größte Schwäche des 'Libertarismus'. Es gibt keine Antworten auf die Gründe seines Untergangs. In diesem Artikel stehen lediglich hohle Phrasen. Dabei wäre es relativ einfach, eine Lösung zu erarbeiten, wenn man bereit wäre, auf die alte bewusstseinphilosophische Grundlage zu verzichten, die lediglich auf einem psychischen 'Erleben' aufbaut. In der dargebrachten Weise gehört der 'Libertarismus' einfache nur zum Müll der Ideengeschichte.

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

Reinhart, selbst die wissenschaftlichen Vertreter des nicht vorhandenen freien Willens bestreiten nicht, dass der Mensch nachwievor Entscheidungen fällen muss und kann und diese auf Alternativen und nicht auf Alternativlosigkeit beruhen. Überhaupt solltest du dich erstmal mit dem Unterschied von Willen und Entscheidung befassen, eh du hier auf angebliche Schlagwörter mit ebensolchen antwortest.

Die Denktradition der Selbsbestimmung durch eine freien menschlichen Willen ist nicht dadurch obsolet, dass die neuronale Wissenschaft, ja die Wissenschart überhaupt immer wieder zu Erkenntisfortschritten gelangt, denn diese selbst setzen schone einen entscheidungsfähigen Wissenschaftler voraus, der permanent zwischen begründeten Alternativen wählt und wählen muss.

Hinzu kommt das wissenschaftliche Prinzip des systematischen Zweifelns an den Ergebnissen von Wissenschaft, deren Erkenntnisse immer zu vorläufigen macht, was natürlich auch für die neueren neuronalen Forschung gilt. Insofern basiert auch die Entwicklungs, ja die Existenz einer neuronalen Forschung selbst, auf der Denktradition des freien Willens und der damit verbundenen Idee unabhängiger Wissenschaft.

Reinhard Matern
8 Jahre zuvor

@ #2 Philosophisch ist die von dir, Arnold, so genannte 'Denktradition' nicht einmal mehr diskussionswürdig, sieht man von einigen Hinterwäldlern ab, die in vergangenen Jahrhunderten stecken geblieben sind. Ein Denken als psychisches Ereignis mag für manche immer noch ein herausragendes Ereignis sein, besonders wenn es 'erlebt' wird, ich sehe jedoch keine Möglichkeit, mich auf derartiges zu beziehen, das versteckt im Innern von Menschen vor sich geht, von außen wie Zahnschmerzen wirken kann, also kaum zu unterscheiden wäre. Nicht ein Denken, äußerbare und geäußerte Sprache würde mich interessieren, auch im Hinblick auf Zweifel.

Um es besonders krass zu formulieren: Denken ist redundant, relevant hingegen, was sprachlich herauskommt. Dies ist eine methodische Frage! Denkerlebnisse sind privatim, was für den Hausgebrauch, oder vor der Auslage eines Metzgers. Philosophische oder wissenschaftlich wäre möglicherweise relevant, was in einem Artikel veröffentlicht wurde.

Selbstverständlich sind Entscheidungen zu fällen, z.B. beim Metzger. Doch wenn Routinen dazu führen, dass Entscheidungen hirnphysiologisch schon getroffen sind, noch bevor dies ein Proband bemerkt, ist die Willensfreiheit dahin. So wie man sich auf geäußerte Sprache ohne grundsätzlich spekulieren zu müssen, beziehen kann, ließe sich Freiheit sogar in Graden, anhand von konkreten Entscheidungsmöglichkeiten angeben. Erinnern möchte an: "Was ist Freiheit?" (http://www.ruhrbarone.de/was-ist-freiheit/83666), ein Artikel, der vor einiger Zeit hier erschienen ist. Grundsätzlich hatte ich auf Sartres Freiheitstheorie in 'Das Sein und das Nichts' verwiesen.

Du führst in nicht wenige Fällen sogenannte Voraussetzungen an. Ich gebe Dir weitere, um eine Differenzierung zu ermöglichen: auch ein Philosoph oder Wissenschaftler muss essen, trinken, scheißen, um überleben zu können. Philosophisch als auch wissenschaftlich relevant sind diese Betätigungen jedoch nicht.

Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
8 Jahre zuvor

Das nenne ich doch mal eine selektive Geschichtschreibung zu einer Idee.
Wer sich fragt, warum der Libertarismus diskreditiert ist, sollte sich mal ein wenig mit Wirtschafts- und Kolonialgeschichte des 19.Jh. beschäftigen und würde die Leichen im Keller dieser Ideologie finden.
Auch die libertäre Finanzmarktordnung, die mühsam seit den 80'ern Zug um Zug eingeführt worden ist, läßt den Libertarismus alt aus sehen.
Durch diese Brille betrachtet ist Libertarismus nur ein Synonym für Oligarchie. Noch nie waren Vertreter des Libertarismus bereit für die Konsequenzen ihres Handelns substantiell mit eigenem Kapital zu haften. Bisher wurde, wenn letzteres drohte, mit großer Selbstverständlichkeit staatliche Unterstützung gefordert und in Anspruch genommen.
Wer beim Libertarismus allein an individuelle Freiheit denkt, die andere glauben im Drogenkonsum finden zu können, unterschlägt wissentlich wesentliche, praktische und politische Konsequenzen.

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

@ Reinhard Matern # 3
Gehts noch platter, Reinhard? Es geht beim freien Willen eben nicht um Entscheidungen beim Metzger? Wie erklärst du Kreativität und gesellschaftliche/technische/soziale Veränderung/Innovationen, wenn alles determiniert ist? Wie war die Entdeckung der Hirnströme möglich, wenn die Hirnströme letztlich darüber entscheiden ob sie erforscht werden?

Das du und andere nicht wissen was im "Inneren" des Menschen vor sich geht, zeigt erst mal nur, dass du und andere keine Ahnung davon hast, nicht aber dass dort nicht etwas stattfindet, was man mit Denken bezeichen könnte. Denken wird nämlich offensichtlch nicht nur erlebt, sondern es hinterlässt ja eben die neuronale Spuren, auf deren Erforschung du dich hier beziehst.

Ich kenne keinen der in diesem Bereich tätigen Forscher der den Begriff des Denkens nicht mehr verwendet, nur weil er nicht genau weiß, was das ist. Ich kenne auch keinen Physiker der behauptet, dass er nicht denkt, sondern vorgefertigten Entscheidungsmustern folgt. Nicht einmal in der Physik selbst gibt es völlig determinierte Gesetzmäßigkeiten sondern Spielräume, die im Kern nichts anderes als physikaische Autonomien aufzeigen.

Dass das Gehirn schon Zeichen von Entscheidungen anzeigt, bevor diese uns bewusst sind, heisst auch nicht, das wir deswegen jeglichen eigenen Willen verlieren, denn die Wünsche und Vorstellungen von Zukunft sind, wie unserer Erinnerungen, eben auch Teil unseres Gehirns, also Teil des internen Entscheidungsprozesses der uns nur durch die Beobachtung von Gehirnströme zugänglich ist. Diese reicht aber in der bislang möglichen Fassung nicht im Ansatz aus, auch nur irgendeine philosophische Denk-Tradition über den Haufen zu werfen.

Die Vermessenheit solcher Denktraditionen durch eine neue Vermessenheit der neuronalen Forschung, oder besser ihrer laienhaften Intepretation, zu ersetzen, ist für mich der falsche Weg. Ich denke, dass wir noch einige Jahrzehnte der Parallelität von Philosophie und Gehirnforschung ertragen müssen, anstatt wieder einmal, in welche Richtung auch immer, das Kind mit dem Bade auszuschütten.Unsere Sprache setzt nämlich so etwas wie Denken, wie es auch immer im Gehirn vor sich geht, voraus.

Reinhard Matern
8 Jahre zuvor

@ # 8 Es gibt viele alte Bilder über das Denken, aber keine empirisch relevanten: Helgel hatte z.B. hübsch gemalt, aber auch viele andere. Diese Bilderwelten wurden sogar als Normen eines sogennanntes richtigen (bzw. falschen) Denkens ausgewiesen. Ich schätze, unwissenschaftlich, umgangssprachlich formuliert, dass man mit Pippi Langstrumpf mehr über das Denken erfährt, als bei irgendeinem der alten Philosophen.

Es geht um eine methodische Entscheidung, ich betone es noch einmal!

"Wie erklärst du Kreativität und gesellschaftliche/technische/soziale Veränderung/Innovationen, wenn alles determiniert ist?" Diese Frage stellt sich mir gar nicht. Die Frage nach innerer Freiheit und Determination ist für gar nicht interessant, weil ich sie in Bezug auf die jeweiligen Personen nicht beantworten könnte. Und ich habe in diesem Kontext keine Lust, blind zu fantasieren. Kreativität und Innovation lässt sich für mich nur an den Ergebnissen erkennen, die historisch tatsächlich neu zu sein hätten. Und die Freiheit ist an den Entscheidungsmöglichkeiten erkennbar, die persönlich als auch gesellschaftlich jeweils vorlagen, ob beim Metzger oder im Hinblick auf ein Verfahren.

Kein Neurologe könnte sich über ein Denken äußern. Dies liegt außerhalb der messbaren Bereiche. Er hätte umgangssprachlich auf ein Denken 'zu schließen', etwas, das gar nicht logisch möglich wäre, es bliebe ihm nur ein fantasieren.
Auch ein Psychologe kann gar nichts über ein Denken wissen, lediglich etwas über Äußerungen und das Verhalten einer Person.
Denken ist nichts als ein Bild, das vermutlich aus dem privatimen Erleben psychischer Vorgänge entstand. Nichts Relevantes. Ich würde Denken sogar mit innerem Erleben identifzieren. Das wars schon.

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

Reinhard, wie kannst du von etwas, von dem du nichts zu wissen vorgibst, weil du es nicht präzise messen kannst, feststellen, ob es relevant ist oder nicht? Wie kommst du darauf, dass etwas logisch unmöglich ist, weil du es nur durch indirekte Messung (Gehirnströme) messen kannst? Wie ist – unabhängig davon ob du es tun willst – Fantasieren möglich, wenn du denken nicht für möglich hälst? Wie kann man reale Entscheidungsmöglichkeiten feststellen, ohne einen Begriff von Freiheit zu haben?

Wenn sich dir Fragen nicht stellen, bzw. du nicht über die dazugehörge Kreativität verfügst, dann ist das für die Fragen absolut irrelevant, so lange sie sich andere stellen. 🙂

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

@ Wolfram Obermanns # 4

Was Libertäre bei dem von ihnen viel gepriesenen Wettbewerb unter Marktregeln gerne vergessen: Wettbewerb heißt siegen wollen und siegen wollen heißt im Ernstfall, d.h. wenn man die Marktmacht dazu hat, die Wettbewerbsregeln so zu verändern, dass man auf jeden Fall siegt. Märkte drängen deswegen in der längefristigen Tendenz strukturell zu Angebotsoligopolen und personell zum Oligarchtentum. Es sei denn, es gibt statt der unsichtbaren Hand des Marktes ein sichtbare, marktneutrale und genügend starke Hand, die die Markt-Regeln (immer) wieder in Kraft zu setzen in der Lage ist.

Helmut Junge
Helmut Junge
8 Jahre zuvor

"Es sei denn, es gibt statt der unsichtbaren Hand des Marktes ein sichtbare, marktneutrale und genügend starke Hand, die die Markt-Regeln (immer) wieder in Kraft zu setzen in der Lage ist."
Genau die aber paßt ja nicht in die Theorie, bzw. zum Konzept der Idee des reinen Marktes.
Mich wundert, daß Libertäre da nicht von allein drauf kommen.

Reinhard Matern
8 Jahre zuvor

@ # 7 Deine Fragen, Arnold, überraschen mich 😉 Auch ob etwas relevant oder nicht relevant ist, wäre in diesem Kontext eine methodische Frage.
Ein logischer Schluss geht übrigens vom Allgemeinen zum Konkreten. Im Fall von Hirnströmen und einem inneren menschlichen Erleben handelt es sich aber um verschiedene Sachen.
Es wäre philosophisch ein großer Fortschritt, wenn 'Denken' auch in Deutschland endlich eingemottet würde, ebenso 'Geist' und 'Bewusstsein', wenn Schluss wäre mit dem 'altphilosophischen Malen', das mich bereits früh steinzeitliche Höhlenmalereien assoziieren ließ.
Über ein Erleben könnte durchaus gearbeitet werden, konkret in sprachlicher Hinsicht, bildlicher, musischer. Dies hätte allerdings mit großem Aufwand statistisch zu erfolgen, wäre auch kein genuin philosophisches Thema mehr, eher eines der neueren Kognitionswissenschaften. Dieser Fortschritt, der gesellschaftlich kaum beachtet wird, ist u.a. ein Resultat der analytischen Philosophie, die derzeit leider zu einer methodischen Scholastik verkümmert ist, auch um mögliche Innovationen abzuwehren.
In meinem forschenden Umfeld steht übrigens Sprach- und Sozialphilosophie im Zentrum, beides aus analytisch differentieller Sicht. Es handelt sich um eine Grundlagenforschung, die tatsächlich noch neue Wege eröffnet …

Walter Stach
Walter Stach
8 Jahre zuvor

Nur ein "Einwurf":

Könnte es "dem (Nach-?) Denken" dienlich sein, wenn man versuchen würde, sich in die Person eines Intellektuellen in China, in Indien, in Afrika, im Iran zu versetzen , um so dann und um dann so darüber nachzudenken, ob der sich "Dasselbe" fragt was hier "hinterfragt wird" und ob er ggfls. mit anderen Intellektuellen in einem ähnlichen "Rahmen" diskutieren würde, der offenkundig die hier laufende Diskussion umfaßt und ihr folglich auch Grenzen setzt?

Nachsätze:
Im übrigen, Reinhard Matern, schließe (!!) ich aus den vorangegangen Beiträgen, nicht zuletzt aus Deinen, daß sie Produkte des Denkens sind, auch wenn das Denken selbst nur als ein Produkt der
Phantasie zu gelten hätte.
Reinhard,
speziell Deine Beiträge -danke dafür- haben bei mir hier einschlägiges "Denken" befördert, vor allem selbstkritisches. Und was dieses Denken jetzt, morgen und übermorgen produzieren wird, weiß ich nicht. Jedenfalls lebe ich noch (!) mit und in diesem Denken und genieße es.

Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
8 Jahre zuvor

#9 Helmut Junge
Würde diese Erkenntnis über ungeregelte Märkte, die zu Kartellen und Monopolen über unbestimmte Zeiten hinweg führen, die Theorie stützen? Auch libertäre Menschen sind Opportunisten und sind den Regeln der Verhaltensökonomie unterworfen, also nur sehr bedingt individuelle Denker/Subjekte.

Märkte sind Politik, libertäre Märkte sind Klientelpolitik.

Helmut Junge
Helmut Junge
8 Jahre zuvor

@Wolfram, wir liegen eigentlich nicht auseinander. (Erstmalig?) Menschen biegen sich ihre Wirklichkeiten allzugern so zurecht, wie sie es brauchen.

abraxasrgb
abraxasrgb
8 Jahre zuvor

@ Rainhard Matern … Solch ein netter Sprachpositivismus, der sich im "Rechnen mit Wörtern" erschöpft, mag sich zwar wissenschaftlich dünken, ist mithin doch selbst redundant. (Nur) Sprache, die sich (nur) auf Sprache bezieht.
Es ist ein Solipsismus "inside out", sprich es wird nur darüber befunden, was sich sagen lässt. Da halte ich es doch mit dem Großvater der analytischen Philosophie, Wittgenstein, und schweige lieber konsequent über den Rest, als mich zu vorschnellen Aussagen über die Obsolenz von anderen philosophischen Konzepten verleiten zu lassen. Andere Axiome, andere Philosophien. So bleibt es eine einseitige Argumentendiät. Si tacuisses philosophus manisses.
Aber da wir gerade so schön von "philosophischen Bildern" reden: Die Schatten an der Wand der eigenen Stirnhöhle sind selten mehr als die eigene Realität. (Platon vulgär verkürzt).

@ all
Man muss den Libertarismus nicht mögen, aber er ermöglicht auch seinen Gegnern die Freiheit, albern dagegen zu sein 😉

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

Es gibt keinen Libertarismus ohne Libertaristen. Da es aber sehr schwer ist, einer zu werden und noch mehr, unter den gegeben Bedingungen einer zu bleiben, bleibt er eine Herausforderung, die immer nur partiell zu bewältigen ist. Deswegen sollte man allerdings die Idee dahinter nicht aufgeben. Darauf warten einfach zu viele Autoritaristen verschiedenster Coleur, unter deren Hegemonie ich auf keinen Fall leben möchte.

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